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News: Kein Gefühl mehr für Moral

Eine Schädigung der Stirnlappen kann dazu führen, daß Menschen, die vorher ein normales Sozialverhalten zeigten, plötzlich Außenseiter werden. Obwohl verschiedene Studien besagen, daß sie durchaus wissen, wie moralisches Verhalten aussehen müßte, können sie sich manchmal nicht mehr danach richten. Noch verhängnisvoller ist eine derartige Verletzung anscheinend in jungen Jahren: Eine Untersuchung zeigt, daß solche Kinder womöglich nie in der Lage sind, die gesellschaftlichen Regeln überhaupt zu lernen.
Die Gehirne von Kindern sind normalerweise wesentlich flexibler als die von Erwachsenen. Wird bei ihnen zum Beispiel durch einen Unfall das Sprachzentrum geschädigt, so kann eine andere Region im Hirn diese Funktion übernehmen. Auch zwei Patienten, die in früher Kindheit ein Hirntrauma erlitten, schienen sich vollständig erholt zu haben. Das Mädchen war im Alter von 15 Monaten von einem Auto angefahren worden, und dem Jungen mußte mit drei Monaten ein Gehirntumor entfernt werden. Beide wiesen normale IQ-Werte auf und stammten aus sogenannten geordneten Familienverhältnissen.

Das Leben der beiden Unfallopfer, die heute etwa zwanzig Jahre alt sind, zeichnet sich jedoch durch störerisches Verhalten, Stehlen, riskante Sexualkontakte, Wutausbrüche, schlechte Finanzplanung und einen Mangel an Schuldbewußtsein oder Mitgefühl aus – Verhaltensweisen, wie man sie von Menschen kennt, die als Erwachsene zum Beispiel nach einem Schlaganfall Schädigungen der orbito-frontalen Lappen aufweisen.

Mit Hilfe der Magnetresonanztomographie wiesen Antonio Damaso und seine Mitarbeiter von der University of Iowa nach, daß die beiden Patienten durch den Unfall beziehungsweise die Operation Schäden am präfrontalen Cortex erlitten hatten. Die Forscher ließen die beiden zahlreiche Tests zu Wortschatz, Rechnen und räumlichem Vorstellungsvermögen machen, die sie auch alle gut meisterten. Dagegen versagten sie völlig, wenn es um moralische Entscheidungen oder soziales Denken ging (Nature Neuroscience vom November 1999).

Einer der Tests, der sogenannte "Moralisches-Urteil-Test" nach Kohlberg, befaßt sich mit verschiedenen moralischen Fragestellungen. Zum Beispiel müssen die Versuchspersonen entscheiden, ob es legitim ist, für einen im Sterben liegenden Lebenspartner Medikamente zu stehlen. Die Antwort, ob ja oder nein, ist dabei egal, entscheidend ist, womit die Entscheidung begründet wird. Die meisten Menschen – auch diejenigen mit einer Schädigung der Stirnlappen – richten sich in ihrer Entscheidung danach, was andere Menschen oder die Gesellschaft für richtig befinden würde. Aber die Patienten mit den Kindheitsverletzungen verhielten sich eher wie neunjährige Kinder: Ihnen ging es vor allem darum, eine Bestrafung zu vermeiden.

Damasio erklärt dieses Ergebnis damit, daß der präfrontale Cortex eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung des ethischen Verhaltens spielt. Die Studie zeige, daß diese Aufgabe offensichtlich von keiner anderen Gehirnregion übernommen werden kann.

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