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News: Keine Tabula rasa

Angeboren oder erlernt? Eine Frage, über die sich Biologen trefflich streiten können. Unter Hirnforschern galt bisher als gesichert, dass die wichtigsten Verschaltungen für die visuelle Wahrnehmung erst nach der Geburt stattfinden: Das Gehirn eines Neugeborenen wird quasi als 'tabula rasa' erst durch Erfahrung voll funktionsfähig. Neueste Forschungen wecken Zweifel an diesem Prinzip.
Unser wichtigstes Sinnesorgan ist das Auge. Die Netzhaut verschlüsselt das empfangene Bild in Signale und leitet diese über den Sehnerv zum Gehirn weiter. Über einen Zwischenstopp beim Corpus geniculatum laterale (seitlicher Kniehöcker) des Thalamus gelangen die Signale schließlich zur primären Sehrinde des Großhirns, dem primären visuellen Cortex. Hier erfolgt die Verarbeitung der visuellen Reize. Dabei reagieren die Nervenzellen spezifisch auf bestimmte Reizmerkmale, wie beispielsweise die Bewegungsrichtung eines wahrgenommenen Objektes. Zellen mit ähnlichen Eigenschaften liegen im visuellen Cortex in säulennartigen Gruppen zusammen. Für das binokulare Sehen sind die so genannten Augendominanzsäulen verantwortlich, die Eingangssignale von jeweils einem Auge erhalten und damit die Tiefenwahrnehmung ermöglichen.

Durch frühere Experimente, insbesondere an Katzen, gingen die Wissenschaftler davon aus, dass die richtige Verschaltung der Augendominanzsäulen durch die Signale vom Corpus geniculatum laterale, also erst durch das Sehen, ausgelöst wird. Erfahrung formt demnach das Gehirn erst nach der Geburt während einer "kritischen Periode".

Justin Crowley und Lawrence Katz vom Medical Center der Duke University in Durham haben diese These bei jungen Frettchen überprüft. Wie Katzen, zeigen diese Kleinräuber eine deutliche "kritische Periode" – wichtige Verschaltungen des Gehirns bilden sich erst nach der Geburt aus. Mit Hilfe radioaktiver Markierung konnten die beiden Wissenschaftler die Entstehung der Verschaltungen vom Corpus geniculatum laterale zu den Augendominanzsäulen des visuellen Cortex verfolgen. Dadurch konnten sie beobachten, was passiert, wenn neugeborene Frettchen nur die Signale von einem Auge erhalten, sie also auf einem Auge blind sind. Zur Überraschung der Forscher entwickleten sich die Augendominanzsäulen dieser Tiere dennoch normal (Science vom 17. November 2000).

"Bis jetzt galt das Konzept, dass die neuralen Verschaltungen in Jungtieren nicht sehr spezifisch sind, und dass Erfahrung und Umwelt nötig sind, um die anfangs groben Verschaltungen zum adulten Muster zu verfeinern", erklärt Katz. "Das ist nicht der Fall. Die Augendominanzsäulen waren in den frühesten von uns untersuchten Stadien bereits vorhanden und genauso ausgebildet wie die Strukturen der ausgewachsenen Tiere." Während der "kritischen Periode" können die Verschaltungen des visuellen Cortex durch äußere Einflüsse noch umgestaltet werden. Daher ging die Wissenschaft bisher davon aus, diese Verschaltungen werden erst während dieser Periode etabliert. "Das war ein guter Ansatz", meint Crowley, "aber nicht notwendigerweise ein richtiger." Vielmehr scheint das Gehirn bereits von Anfang an zu "ahnen", was auf ihm zukommt. Wie dies geschieht, bleibt rätselhaft. Die beiden Wissenschaftler glauben, dass bestimmte Moleküle die richtigen Verschaltungen von Anfang an festlegen: "Die Suche nach diesen Leitmolekülen ist entscheidend für das Verständnis der ersten Phasen der Hirnverschaltungen."

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