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Künstliche Intelligenz: Ein ungelöstes Mathe-Problem verhilft zu langfristigen KI-Vorhersagen

Aktienmärkte, Klimawandel oder Medizin: Ein abstraktes offenes Problem der Mathematik hat zu einem neuen KI-Modell geführt, das Vorhersagen für lange Zeiträume treffen kann.
Viele Gleichungen und Formeln, die unlesbar sind
Ein neues KI-Modell kann sehr viele Schritte vorausdenken.

Stellen Sie sich vor, Sie wüssten, dass der Aktienmarkt wahrscheinlich in drei Jahren zusammenbricht, dass extreme Wetterbedingungen in acht Jahren Ihr Haus zerstören oder dass Sie in 15 Jahren eine schwere Krankheit haben werden – und dass Sie jetzt Maßnahmen ergreifen können, um sich vor diesen Krisen zu schützen. Obwohl es unmöglich ist, die Zukunft mit Gewissheit vorherzusagen, könnte uns künstliche Intelligenz einigen Experten zufolge diesem Ziel näherbringen. Für Vorhersagen dieser Größenordnung müssten Milliarden von Verbindungen in riesigen Datensätzen über enorme Zeiträume hergestellt werden. Obwohl solche Anforderungen die Fähigkeiten der derzeitigen KI-Systeme übersteigen, könnte ein noch nicht begutachteter mathematischer Durchbruch Anhaltspunkte dafür liefern, wie man sich in riesigen Datenbeständen zurechtfindet und Muster darin aufdeckt. So ließen sich Vorhersagen treffen, die bislang außer Reichweite lagen.

Um ein KI-System zu entwickeln, das eine so schwierige Aufgabe bewältigen kann, nutzte ein Team des California Institute of Technology (Caltech) die Andrews-Curtis-Vermutung: ein mathematisches Problem aus der Gruppentheorie. In diesem Fachgebiet untersuchen Forschende Symmetrien, Strukturen und Operationen in mathematischen Objekten. Die 1965 von James Andrews und Morton Curtis aufgestellte Vermutung besagt, dass sich jede komplizierte mathematische Konfiguration durch eine endliche Abfolge von Operationen auf ihre einfachste Form reduzieren lässt. Um das zu veranschaulichen, kann man sich ein riesiges Schachbrett vorstellen, bei dem ein Spieler versucht, eine Figur zu einem bestimmten »Heimatpunkt« zu führen. Der dafür nötige Weg kann unvorstellbar lang sein und Millionen oder gar Milliarden von Zügen erfordern, sagt Sergei Gukov vom Caltech, Hauptautor der aktuellen Studie. »Das ist ein mathematisches Problem, bei dem wir im Grunde gezwungen sind, neue KI-Systeme zu entwickeln, die sich an diese Komplexität anpassen müssen, um Fortschritte zu erzielen.«

In den 60 Jahren, die seit der Formulierung der Andrews-Curtis-Vermutung vergangen sind, konnte sie weder bewiesen noch widerlegt werden. Sie zu beweisen würde bedeuten, dass eine Figur stets mit dem Heimatpunkt verbunden werden kann. Um die Vermutung zu widerlegen, müsste man ein Gegenbeispiel finden, bei dem es keinen Pfad gibt, der die Figur zu diesem Punkt führt. Jahrzehntelang haben Forschende versucht, die Vermutung zu widerlegen, indem sie mögliche Gegenbeispiele vorschlugen. Bis jetzt. Denn das Team um Gukov hat nun Pfade für eine Reihe solcher potenziellen Gegenbeispiele gefunden und damit gezeigt, dass keiner der Vorschläge die Vermutung widerlegt.

Das unendliche Schachspiel

Das Forschungsteam interpretierte die Andrews-Curtis-Vermutung als Spiel mit einem schachähnlichen Brett, das Millionen oder gar Milliarden von Feldern umfasst. Als Spieler muss man ein bestimmtes Heimatfeld erreichen – wobei man nur bestimmte Züge machen kann, ähnlich wie eine Schachfigur. Ziel ist es, eine beliebige Koordinate auf dem Schachbrett auszuwählen und herauszufinden, ob man mit einer Kombination der erlaubten Züge auf dieses Feld kommen kann. Für Koordinaten nahe dem Heimatpunkt lässt sich das schnell herausfinden. Aber wenn die Koordinaten weit vom Ziel entfernt sind, kann es ewig dauern, die Lösung durch Trial and Error zu finden. Vor allem, weil man nicht immer sofort beurteilen kann, ob ein bestimmter Zug geeignet ist, um an das Ziel zu gelangen. Zudem fällt der Pfad meist viel länger aus als die tatsächliche Entfernung zwischen den beiden Punkten. »Um von A nach B zu kommen, muss man Tausende von Kilometern in diesem komplizierten Labyrinth zurücklegen, obwohl die tatsächliche Entfernung sehr gering sein kann«, sagt Gukov. »Es ist so, als hätte der Teufel das Spiel entworfen.«

Um die KI für das Spiel zu trainieren, nutzte Gukovs Team Reinforcement Learning, eine Technik des maschinellen Lernens, bei der ein KI-Agent durch Belohnung oder Bestrafung lernt, welche Maßnahmen am ehesten zum Ziel führen. Die Forschenden haben dabei zwei KI-Agenten mit unterschiedlichen Rollen eingesetzt: einen Spieler und einen Beobachter. Indem er den Spieler beobachtet und seine Erfolge auswertet, fügt der Beobachter verschiedene Züge zu vielversprechenden Kombinationen zusammen, die der Spieler für größere Sprünge nutzen kann. Während der Spieler sich über das Spielfeld bewegt, lernt der Beobachter zudem, die Schwierigkeit der Koordinaten einzuschätzen und die passendsten Kombinationen aus Zügen vorzuschlagen.

Während Heimatpunkte mit einfacheren Koordinaten in nur zehn Zügen erreichbar sind, wächst die Anzahl bei schwierigeren Koordinaten schnell an. »Es sind Fälle bekannt, die Milliarden von Zügen erfordern, aber so weit sind wir mit unserem KI-System noch nicht«, sagt Ali Shehper, Koautor der Studie vom Caltech. »Wir bewegen uns im Bereich von Tausenden von Zügen.« Diese haben jedoch ausgereicht, um mehrere jahrzehntealte Gegenbeispiele zur Andrews-Curtis-Vermutung zunichtezumachen. Eine Studie der University of Liverpool hat die Ergebnisse inzwischen unabhängig bestätigt.

»Man kann interessante Ergebnisse erhalten, die ohne Computer nicht möglich wären«Alexei Miasnikov, Mathematiker

»Das hat meine Erwartungen überstiegen«, sagt Alexei Miasnikov, ein Mathematiker am Stevens Institute of Technology, der ebenfalls zur Andrews-Curtis-Vermutung forscht. Mit dieser Arbeit haben Gukov und sein Team dargelegt, wie nützlich maschinelles Lernen für die Mathematik sein kann. »Es zeigt, dass man interessante Ergebnisse erhalten kann, die ohne Computer nicht möglich wären«, erklärt Miasnikov. »Ich denke, es werden bald noch viel interessantere Dinge entwickelt. Wir stehen erst am Anfang.«

Ali Shehper hofft, Werkzeuge für viele weitere Probleme in und außerhalb der Mathematik zu entwickeln. Dabei will die Gruppe über die bisherigen Einsatzgebiete von KI-Systemen wie AlphaGo (das Go spielt) oder AlphaStar (das das Videospiel Starcraft II meistert) und sogar großer Sprachmodelle wie GPT von OpenAI oder Grok von xAI hinausgehen. »Wir wissen, dass Schach und Go lösbare Probleme sind«, sagt Shehper. »Ein Spiel endet und man gewinnt oder verliert, und diese Systeme finden einfach einen besseren Weg, das zu tun.« Das Ziel des Teams ist es, Systeme für Probleme zu entwickeln, bei denen noch unklar ist, ob es überhaupt Lösungen gibt.

Im besten Fall könnten die neuen Werkzeuge auch für Vorhersagen in der realen Welt eingesetzt werden. Vielleicht sind künftige KI-Modelle in der Lage vorherzusehen, wie komplexe Maschinen nach jahrelangem Einsatz versagen oder wie sich bei einem Menschen über Jahrzehnte hinweg eine Krankheit entwickelt. Die Anwendungsbereiche sind vielfältig: Medizin, Kryptografie, Finanzwesen oder Klimamodellierung. »Man könnte sagen, dass wir KI-Systeme für solche Anwendungen entwickeln«, erläutert Gukov, »aber zunächst trainieren wir sie nur mit Mathematik. So verbrennen wir nicht das Geld von anderen Personen oder treffen falsche Vorhersagen über Wirbelstürme.«

Die KI von Gukovs Team ist allerdings noch weit davon entfernt, die Andrews-Curtis-Vermutung zu beweisen oder zu widerlegen. Das ist aber auch nicht das Ziel der Forscher. Trotzdem hat die KI einen neuen Blickwinkel auf die Vermutung eröffnet. »Als wir mit dieser Arbeit begannen, herrschte in der Mathematik-Community die Meinung vor, dass die Andrews-Curtis-Vermutung wahrscheinlich falsch ist und man daher versuchen sollte, sie zu widerlegen«, sagt Gukov. »Nachdem ich mich mehrere Jahre mit dieser Vermutung beschäftigt habe, glaube ich nun, dass sie vielleicht doch tatsächlich wahr sein könnte.«

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  • Quellen
Shehper, A. et al., Arxiv 10.48550/arXiv.2408.15332, 2025

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