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Fit dank künstlicher Intelligenz: »Zu viel trainieren ist schlimmer, als gar nichts zu tun«

Wer im Sport erfolgreich sein will, sollte sich nicht verletzen. Wie er mit Hilfe von künstlicher Intelligenz unter anderem Fußballer vor Muskelfaserrissen, Verstauchungen und Zerrungen bewahren will, erklärt Datenwissenschaftler Alessio Rossi im Interview.
Die Spieler, mit denen Forscherteams arbeiten, tragen eine Art Gurt mit einem GPS-Gerät am Rücken und weiteren Sensoren. Auf diese Weise verfolgen die Forscher zum Beispiel Herzfrequenz, Geschwindigkeit und zurückgelegte Distanz.

Intensives Training kann den Weg zu Meisterschaften ebnen, doch zu hohe Belastungen begünstigen Verletzungen. Wann also alles geben, und wann besser aufhören? Künstliche Intelligenz kann dem Trainerstab und den Sportlern helfen, die Antwort zu finden. Denn GPS, Beschleunigungsmesser, Geräte zur genauen Lagebestimmung – Gyroskope genannt – und ähnliche Gadgets verraten viel über die Belastung. Wie Algorithmen aus den Daten Trainingspläne für Profis erstellen und worauf Hobbysportler achten sollten, erklärt Datenwissenschaftler Alessio Rossi von der Università di Pisa im Interview.

»Spektrum.de«: Sie wollen vorhersagen, ob sich ein Sportler in den nächsten Tagen oder Wochen verletzen wird – wie das?

Alessio Rossi: Wir haben ein italienisches Team eine Saison lang überwacht und die Trainingsbelastung jedes Spielers gemessen. Die Trainingsbelastung eines Sportlers lässt sich durch externe Parameter bestimmen, zum Beispiel GPS oder Videoanalyse. Außerdem gibt es interne Parameter wie die wahrgenommene Anstrengung, die Herzfrequenz und den Laktatwert, die gemessen werden können. Wir füttern eine KI mit diesen Informationen und versuchen, Muster in den Belastungsdaten zu erkennen, die es uns ermöglichen, Verletzungen vorherzusagen. Dadurch erhalten wir nicht nur die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Spieler in den nächsten Tagen oder Wochen verletzt, sondern auch Hinweise, warum sich ein Sportler verletzen könnte.

Alessio Rossi | Maschinelles Lernen kann Sportlern empfehlen, wann sie trainieren und wann sie aufhören sollten, wie die Forschung von Alessio Rossi zeigt. Seine Arbeiten an der Università di Pisa werden vom EU-Programm »Horizont 2020« als Teil der European Research Infrastructure for Big Data and Social Mining gefördert.

Wie oft hatten Sie Recht?

Unsere Ergebnisse zeigen, dass das Training der Vorwoche einen starken Einfluss auf die wahrgenommene Anstrengung und die Trainingsbelastung hat. Rückblickend waren unsere Berechnungen zu 60 Prozent korrekt. Es gibt dabei zwei wichtige Faktoren für das maschinelle Lernen, die wir berücksichtigen müssen: erstens die Zahl der Muskelverletzungen, die wir vorab richtig erkannt haben, und zweitens, wie oft wir vorhersagen, dass sich die Spieler verletzen würden, was dann aber nicht geschah. Wir haben 80 Prozent der Verletzungen mit einer Genauigkeit von etwa 50 Prozent erkannt.

»Maschinelles Lernen ist nur ein Werkzeug. Die Interpretation der Ergebnisse und die Anpassung des Trainings obliegen letztlich den Trainern«

Das ist besser, als eine Münze zu werfen, weil …?

Das Modell ist besser als ein Münzwurf, weil der Algorithmus nur selten sagt, dass ein Spieler ein hohes Verletzungsrisiko hat. Wenn doch, sagt das Modell in 50 Prozent der Fälle die Verletzungen richtig voraus. Im Fall der Münze gäbe es an jedem Trainingstag dieselbe Wahrscheinlichkeit, sich zu verletzen. Bei einigen wiederkehrenden Gesundheitsproblemen wie bestimmten Verstauchungen und Zerrungen kann das System die Warnzeichen jedoch fast jedes Mal erkennen. Maschinelles Lernen ist nur ein Werkzeug. Die Interpretation der Ergebnisse und die Anpassung des Trainings obliegen letztlich den Trainern.

Welche Faktoren berücksichtigen Sie bei der Berechnung?

Die Spieler, mit denen wir arbeiten, tragen eine Art Gurt mit einem GPS-Gerät am Rücken und weiteren Sensoren. Auf diese Weise verfolgen wir zum Beispiel ihre Herzfrequenz, Geschwindigkeit und zurückgelegte Distanz. Wir haben zwölf Variablen extrahiert, darunter die gesamte gelaufene Strecke, die Strecke, die schneller als 5,5 Meter pro Sekunde gelaufen wurde, und die Anzahl der hochintensiven Beschleunigungen und Bremsmanöver, die den Körper besonders belasten.

Techniken, mit denen Maschinen lernen

Künstliche Intelligenz (KI) verarbeitet Daten, um Entscheidungen und Prognosen zu treffen. Algorithmen für maschinelles Lernen ermöglichen es der KI, diese Informationen zu nutzen.

Maschinelles Lernen ist eine Untermenge von KI. Ziel ist es, Computer so zu trainieren, dass sie aus Daten und Erfahrungen lernen und sich auf diese Weise verbessern. Möglich machen dies wiederum verschiedene Techniken.

Das Team um den Datenwissenschaftler Alessio Rossi möchte mit Hilfe von künstlicher Intelligenz vorhersagen, wann Sportlerinnen und Sportlern Verletzungen drohen. Für ihre Berechnungen verwendeten sie Entscheidungsbaum-Klassifikatoren. Bei diesem überwachten Lernen wird eine Reihe von Fragen gestellt, die auf verschiedenen Variablen basieren, um zu einer Schlussfolgerung zu gelangen.

Andere Gruppen nutzen Variationen davon, wie »Random Forest«- oder »Gradient Boosting«-Techniken, die mehrere Entscheidungsbäume ein-setzen, um die Vorhersagen schrittweise zu verbessern.

Eine weitere Technologie des maschinellen Lernens, bekannt als »Deep Learning«, könnte eine noch höhere Genauigkeit als die anderen liefern. Rossi sagt jedoch, dass der Ansatz im Sport derzeit nicht praktikabel ist. Die Algorithmen seien eine Blackbox und die Argumentation hinter den Ergebnissen sei schwierig zu interpretieren.

Die Umstände sind aber doch nicht immer gleich: Die Fußballsaison in Italien beginnt oft im August. Es ist Sommer, Saisonanfang, vielleicht gibt es neue Spieler in der Mannschaft. Mit der Zeit können sich beispielsweise Wetter, Fitness und das Zusammenspiel im Team ändern. Wie gehen Sie damit um?

Stimmt, die Werte variieren. Wir versuchen, dies zu berücksichtigen. Deshalb ändern sich die Belastungsvariablen und die dazugehörigen Regeln im Lauf der Saison, je nach physiologischer und fußballerischer Anforderung. Einfach gesagt: Der Algorithmus lernt von der Mannschaft – wie man sich angepasst hat, ob Trainer gewechselt haben und so weiter –, und die Mannschaft lernt dann vom Algorithmus. Das geht hin und her.

Einige Sportwissenschaftler beziehen etwa die Stimmung eines Spielers, seinen Body-Mass-Index und frühere Verletzungen mit ein, aber auch, wie viel Wasser die Spieler in einem bestimmten Zeitraum getrunken haben und wie weit sie in letzter Zeit mit dem Bus oder dem Flugzeug gereist sind …

Ja, es gibt eine Menge Möglichkeiten. Je höher die Anzahl der Informationen ist, desto besser ist der Lernprozess des Modells. Allerdings haben wir solche Faktoren noch nicht mit einbezogen.

Haben Sie schon einmal daran gedacht, die Ernährung oder das Darmmikrobiom zu berücksichtigen? In letzter Zeit wurde verstärkt erforscht, wie Letzteres mit der körperlichen Fitness zusammenhängt.

Ich würde diese Informationen gerne irgendwann in der Zukunft hinzufügen. Momentan versuchen das Team, das uns die Daten zur Verfügung stellt, und ich, Informationen über das Wohlbefinden zu integrieren. Die Ergebnisse sollen noch im Jahr 2021 in einem neuen Paper veröffentlicht werden. Bisher scheint es so, als ob zum Beispiel Informationen über Müdigkeit oder Stress, von denen Spieler berichten, sehr nützlich sind, um genauere Ergebnisse zu erhalten.

Ist es notwendig, den Algorithmus je nach Disziplin anzupassen?

Man kann den Algorithmus auf jede Sportart trainieren. Es ist ja nur ein Big-Data-Framework. Aber die Regeln und die wichtigsten Belastungsvariablen, die wir gefunden haben, gelten nur für das jeweilige Team. Sie würden sich von Team zu Team und damit von Disziplin zu Disziplin ändern. Auch die zu sammelnden Daten. Baseballspieler können beispielsweise Beschleunigungsmesser in ihren Ärmeln tragen, die Gelenkwinkel, Geschwindigkeit und Belastung messen, während Eiskunstläufer Beschleunigungsmesser und Gyroskope an ihren Hüften befestigen können, um Sprünge aufzuzeichnen.

Wie viele Verletzungen haben Profisportler im Vergleich zu Hobbysportlern?

Im Profifußball haben wir Daten von mehreren Mannschaften und Saisons ermittelt. Im Durchschnitt gibt es zwei Prozent muskuläre Verletzungen pro Saison, also etwa 20 bis 25 pro Jahr. Andere Teams haben errechnet, dass Profifußballer zwischen 2,5 und 9,4 Verletzungen pro 1000 Stunden Belastung haben, wovon etwa ein Drittel auf Überbeanspruchung zurückzuführen und damit potenziell vorhersehbar ist. In den unteren Ligen sind die Zahlen ähnlich, doch wie sie im Vergleich zu Nichtprofis sind, ist nicht bekannt.

Viele Leute verfolgen heutzutage ihre Übungen, zum Beispiel Geschwindigkeit, Distanz, Höhen, Runden, Zeiten. Können diese Informationen auch helfen, Verletzungen zu vermeiden?

Meine Forschergruppe kann nicht mit den Informationen aus Tracking-Apps arbeiten, weil die Datensätze keine Informationen über Verletzungen liefern. Das heißt jedoch keineswegs, dass Tracking nicht helfen könnte, Verletzungen bei Hobbysportlern zu verhindern. Je häufiger und intensiver man trainiert, desto höher ist das Verletzungsrisiko. Man kann 100 Kilometer pro Woche laufen, aber das Ergebnis wird ein ganz anderes sein, je nachdem ob man sechs oder vier Minuten pro Kilometer braucht.

»Wenn etwas weh tut, sollte man nicht tiefer in die Übung gehen«

Tracken Sie sich selbst?

Ja. Es ist sehr hilfreich, um sich zum Beispiel auf einen Triathlon vorzubereiten. Und es lässt mich meine Leistung einigermaßen einschätzen. Die meiste Zeit fahre ich Mountainbike oder gehe laufen. Es ist schön zu wissen, wie oft und wie lange ich das machen kann, ohne mich zu erschöpft zu fühlen.

Was sind Anzeichen dafür, dass man den Körper zu sehr belastet?

Kurz gesagt: Wenn etwas weh tut, sollte man nicht tiefer in die Übung gehen. Um Schmerzen zu vermeiden, hilft es, die Belastung für den Körper gering zu halten. Dazu kann man den Puls kontrollieren. Man sollte sich aber darüber im Klaren sein, dass sich der optimale Puls individuell nach Alter, Vorerkrankungen und Trainingszustand richtet. Der empfohlene Wert hängt stark vom Trainingsziel ab. Wenn Sie sich dafür interessieren und Ihr Training an Ihrem Puls orientieren möchten, sollten Sie das in einer Leistungsdiagnostik herausfinden lassen.

Was ist also Ihr Vorschlag, um am besten an der persönlichen Kraft und Kondition zu arbeiten?

Tun Sie nicht zu viel. Zu viel ist schlimmer, als gar nichts zu tun. Halten Sie 48 Stunden zwischen den Trainingseinheiten ein – die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt sogar 72 Stunden. Das gibt Ihrem Körper auf jeden Fall genug Ruhe, um sich zu erholen. Weiter gedacht bedeutet das, dass drei- bis viermal pro Woche zu trainieren ausreicht, um gesund zu bleiben.

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