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Kinder kranker Eltern: Kannst du daran sterben, Mama?

Wenn Eltern schwer erkranken, sind Kinder gefordert. Manchmal mehr, als sie ertragen können. Doch mit frühzeitiger Unterstützung können sie an der Belastung reifen.
Kind mit kranker Mutter

An einem Schulmorgen erfuhr Ronja*, dass ihre Mutter Gebärmutterhalskrebs hat. Die Oma, bei der sie zu der Zeit lebte, erzählte es der damals Neunjährigen. »Erst mal wollte ich das nicht glauben. Ich dachte, das wäre ein zu spät gekommener Aprilscherz«, erinnert sich Ronja. Die Nachricht war zu schrecklich, um sie wahrhaben zu wollen. Wochenlang.

»In der Anfangszeit habe ich sehr viel geweint in der Schule«, erzählt Ronja drei Jahre später. Während der Behandlung in der Klinik besuchte sie ihre Mutter mindestens einmal pro Woche. »Sie war im Sommer im Krankenhaus, da sind wir immer im Park spazieren und Eis essen gewesen«, erinnert sich das Mädchen. In der Zeit wohnten Ronja und ihr Bruder die meiste Zeit bei der Großmutter, denn der Vater war unter der Woche als Lkw-Fahrer unterwegs.

Wenn Eltern an körperlichen Erkrankungen wie Krebs leiden, betrifft das auch das Leben ihrer Kinder. Der gewohnte Alltag existiert nicht mehr. Die Situation ist Besorgnis erregend, ihre Vertrauenspersonen aber haben oft mit eigenen Ängsten zu kämpfen. Auf einmal sind Töchter und Söhne mehr gefordert, übernehmen mitunter mehr Aufgaben als andere Heranwachsende. Waschen, kochen, organisieren.

Ronja räumt beispielsweise ihr Zimmer allein auf oder deckt den Tisch. Manchmal hilft sie auch in der Küche mit, am liebsten beim Panieren der Schnitzel. Außerdem unterstützt sie ihren Bruder bei den Hausaufgaben oder macht ihm morgens ein Brot – obwohl er nur ein Jahr jünger ist als sie selbst. »Ich glaube, er will sich sein Frühstück nicht selber machen, weil er hofft, dass die Mama immer morgens da ist.«

Die Mehrbelastung kann sich auf das Verhalten und die psychische Gesundheit der Minderjährigen auswirken. Wie viele Kinder und Jugendliche genau betroffen sind, ist unklar. Schätzungen zufolge pflegen etwa fünf bis sechs Prozent aller 10- bis 19-Jährigen Angehörige zu Hause. Das entspricht rund 480 000 Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Das Robert Koch-Institut rechnet mit rund 50 000 Kindern und Jugendlichen, deren Eltern pro Jahr neu an Krebs erkranken.

Aktiv mitzuhelfen, kann Ohnmachtsgefühle bezwingen

Das Urvertrauen von Kindern in die Welt baue wesentlich auf einem bestimmten Bild auf: »Eltern sind unverwüstlich«, erklärt Georg Romer, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universitätsklinik Münster. Eine Krankheit zerstöre dieses Bild.

Um sich dennoch in der Welt zurechtzufinden, müssen Töchter und Söhne sich anpassen: Sie werden früher selbstständig und übernehmen mehr Verantwortung innerhalb der Familie. »Dann merken die Kinder: ›Ich kann selbst aktiv etwas tun, das Mama hilft‹«, erzählt Romer. »Das kann sehr hilfreich sein gegen Ohnmachtsgefühle.« Dies spiegelt sich auch in den Berufswünschen der Heranwachsenden wider: Betroffene Jugendliche wählen später häufig einen Beruf im medizinischen oder therapeutischen Bereich.

»Viele dieser Kinder sind in der akuten Belastung supertapfer«, berichtet Romer. Sie reißen sich zusammen, tun, was sie können, funktionieren. Der Psychiater betont: »Ein Großteil der Kinder reift an dieser Belastung und entwickelt keine psychischen Probleme.« Immer wieder habe er aber beobachtet, wie die Kinder mit einer Verzögerung von ein bis zwei Jahren.

Vereine und Beratungsstellen bieten dringend notwendige Unterstützung

Ronja hat es geholfen, dass die Behandlung ihrer Mutter schnell erfolgreich war. Geblieben sind Wassereinlagerungen in den Waden, die sich mit speziell angepassten Kompressionsstrümpfen behandeln lassen. Doch ein Jahr später, im Frühjahr 2018, hieß es: Auch Ronjas Vater ist krank, er hat Darmkrebs.

Mehrfach musste der Vater für längere Zeit in eine Klinik. Wenn er im Krankenbett liegt, leiten die Ärzte seinen Stuhl über einen künstlichen Darmausgang in einen Beutel, der am Bauch festgeklebt ist. »Das war erst mal ein bisschen komisch für mich. Dann hat Papa mir alles ganz genau erklärt«, erzählt Ronja. Er mache oft Witze über den Beutel. Irgendwann begann das Mädchen ihrem Vater zu helfen, den Beutel zu wechseln, wenn sie gemeinsam unterwegs sind.

Während Ronja von ihren Eltern spricht, wirkt sie gefasst. Auch weil sie psychologische Hilfe bekommt. In Deutschland gibt es zwar nicht viele, aber doch einige Anlaufstellen für Kinder kranker Eltern (siehe Infobox »Hilfe für Betroffene«). Wird Mama sterben? Was passiert mit Papas Körper? Ist das ansteckend? All das trauen Kinder sich oft nicht zu fragen, oder ihnen ist unklar, an wen sie sich damit wenden können.

Hilfe für Betroffene

Auf folgenden Seiten finden Kinder und Jugendliche mit einem erkrankten Elternteil Unterstützung:

Ronja und ihr Bruder besuchen seit der Diagnose des Vaters regelmäßig die gemeinnützige Krebsberatungsstelle Flüsterpost e. V. – Unterstützung für Kinder krebskranker Eltern in Mainz. Die Sozialpädagogin Anita Zimmermann und die Gestalttherapeutin Karin Burchardt bieten psychosoziale Beratung für erkrankte Eltern und Begleitung der Kinder sowie Gruppenangebote für betroffene Familien an. »Die haben eine Musikecke, wo mein Bruder und ich zusammen Musik machen«, erzählt Ronja. Außerdem rede sie gerne mit den Menschen im Verein. »Früher habe ich dort auch gerne Bilder gemalt. Ich habe versucht, unsere Familie zu malen. Die Bilder haben wir noch.«

Ein Drittel der befragten Kinder ist psychisch auffällig

Andere Heranwachsende können die Erkrankung der Eltern deutlich schlechter verarbeiten, einige werden selbst psychisch krank. Wie hoch das Risiko betroffener Kinder ist, eine psychische Erkrankung zu entwickeln, haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler drei Jahre lang im europaweiten Projekt COSIP untersucht. Dabei zeigte sich, dass rund ein Drittel der befragten Kinder psychisch auffällig wurden: Die Minderjährigen litten häufiger an ängstlich-depressiven Symptomen, psychosomatischen Beschwerden und hatten vermehrt Schwierigkeiten beim Lernen. Im Vergleich zu nicht betroffenen Kindern und Jugendlichen war diese Rate um das Dreifache erhöht.

Für Kinder, deren Eltern nicht Krebs, sondern andere Krankheiten haben, gibt es deutlich weniger Anlaufstellen. Als sich die Medizin in den vergangenen 15 Jahren zunehmend dafür sensibilisiert habe, dass Kinder als Angehörige begleitet und unterstützt werden müssten, hätten bereits funktionierende psychologische Beratungsstellen für Patienten und Angehörige von Krebserkrankten bestanden, sagt Romer. Außerdem sei die Zahl der Kinder mit einem krebskranken Elternteil höher als bei anderen Erkrankungen und die Lobby der Patientinnen und Patienten sehr aktiv. Dadurch flossen mehr Spendengelder in den Bereich, und entsprechende Hilfsangebote für Kinder von Krebserkrankten konnten sich früher etablieren.

Die Beratungsstelle »Kinder körperlich kranker Eltern« im Nordosten Brandenburgs steht auch Kindern und Jugendlichen offen, deren Eltern nicht an Krebs erkrankt sind. Hubertus Adam, Kathrin Dreves-Kaup und Uta Kranz führen die seit acht Jahren bestehende Beratungsstelle, die zur Kinder- und Jugendpsychiatrie in Eberswalde gehört. Adam ist Chefarzt der Klinik, Dreves-Kaup Oberärztin und Kranz als Psychologin sowohl in der Klinik als auch in der Beratungsstelle tätig. Sie arbeiten präventiv, wollen durch rechtzeitiges Erkennen der Probleme vermeiden, dass die betroffenen Kinder später selbst psychisch erkranken.

Der Zeitaufwand ist enorm, die Kraft jedoch begrenzt: Kranz arbeitet allein in der Beratungsstelle, und das an nur zwei Tagen pro Woche. Auch weil es an geeigneten Therapeutinnen und Therapeuten mangelt. Jüngere Kolleginnen und Kollegen könne man nicht in so ein Projekt schicken, erzählt Adam. »Das muss man aushalten, da braucht man Erfahrung.«

»Was wir hier machen, ist eigentlich eine Antistigmatisierungskampagne«
Hubertus Adam, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Eberswalde

Finanziert wird die Beratungsstelle über Spenden und Stiftungen. Um von den Krankenkassen Gelder erhalten zu können, müssten Kranz und Adam den Kindern und Jugendlichen, die zu ihnen kommen, eine Diagnose geben. Das machen sie aber nicht. »Die Kinder kranker Eltern sind erst mal per definitionem gesund«, erläutert Adam, »die Eltern haben eine körperliche Erkrankung.« Eine Diagnose könne die Kinder stigmatisieren. »Was wir hier machen, ist eigentlich eine Antistigmatisierungskampagne«, erklärt Adam.

Seit sie das Projekt im Jahr 2020 übernommen hat, hat Uta Kranz 22 Kinder und Jugendliche betreut. Die Kinder kämen zu ihr, nachdem sie den Flyer der Beratungsstelle gesehen oder von ihren Kinderärztinnen und -ärzten von dem Projekt erfahren hätten. Derzeit ist Kranz in sieben Familien mit insgesamt neun Kindern tätig. Manche von ihnen sieht sie über Monate regelmäßig.

Lernen, mit den eigenen Gefühlen umzugehen

So auch die 13-jährige Charlotte*, die mit ihrer Mutter in Brandenburg lebt. Sie kam zur Beratungsstelle in Eberswalde, weil ihr Vater überraschend und schnell an den Folgen einer Krebserkrankung gestorben ist. Ihr Vater habe über Schmerzen im Brustbereich geklagt, erzählt Charlotte. »Da wussten wir noch nicht, dass es Krebs ist.« Nicht einmal ein halbes Jahr später war er tot.

Kinder und Jugendliche im Alter von 4 bis 18 Jahren sieht Kranz entweder allein, oder sie spricht mit Geschwisterpaaren. Bei passender Gelegenheit bietet sie Familiengespräche an. Mit jüngeren Kindern spielt Kranz mehr, Krankheit und Tod werden nicht ins Zentrum gerückt. Stattdessen können die Kinder auch mal loslassen und im freien Spiel ihren Gefühlen Ausdruck verleihen. Jugendliche dagegen berichten häufiger davon, ähnliche Symptome wie ihre Eltern zu entwickeln: Sie haben das Gefühl, nur noch schlecht atmen oder sich nicht mehr bewegen zu können. Die Psychologin spricht hierbei von Somatisierung.

Wenn das Vertrauen da ist, erarbeitet Kranz mit ihnen eigene Ziele. Sie klärt die Jugendlichen und ihre Familien über bestehende Problematiken auf und versucht, dadurch Änderungsprozesse innerhalb des Familiengefüges anzustoßen. Das ist für die Therapeutin ein Drahtseilakt: auf der einen Seite den Eltern nicht zu nahe zu treten und auf der anderen Seite die Kinder nicht zu verpetzen und die Geheimnisse nicht zu verraten, die sie Kranz in den Einzelgesprächen mitgeteilt haben.

Ein zentraler Aspekt in den Gesprächen mit den Betroffenen ist der Umgang mit den eigenen Gefühlen. Dabei geht es auch um Wut. »Die Mutter ist krank, darf ich eigentlich wütend sein?«, erläutert Adam. Kleine Kinder, die ihre Wut nicht in Worte fassen können, würden oft in der Schule auffällig. Diese »Zappelphilipp-Kinder«, so nennt Adam sie, würden auf diese Weise ihren Gefühlen ein Ventil geben: »Alle kümmern sich um Mama, und keiner kümmert sich um mich.« Sehr selten treten bei Jugendlichen in schwierigen Familienkonstellationen auch Gedanken auf wie »Hoffentlich stirbt sie bald, dann ist das Thema durch«.

Konfrontiert mit dem Tod

Am brennendsten interessiert viele Kinder, ob das Elternteil an seiner Erkrankung sterben kann. Den Eltern gegenüber trauten sie sich das oft nicht zu fragen, berichtet Adam. Auch die Erwachsenen beschäftigten sich mit dem Thema: »Vor dieser Frage haben die meisten Eltern Angst.« Für solche Themen gebe es die psychotherapeutischen Gespräche: »dass man das Unerlaubte mal sagen darf«.

Vor dem Krankenhaus habe Ronja keine Angst gehabt, wenn sie dort zu Besuch war, »aber vor den Schläuchen, die an meiner Mutter hingen, sie hatte sehr viele Schläuche«. Der Arzt hätte ihr jedoch erklärt, dass diese für Essen und Trinken da seien und ihrer Mutter gut tun würden. Das habe sie beruhigt.

Was ist harmlos und was gefährlich?

Ist das Elternteil an einer chronischen Erkrankung wie multipler Sklerose erkrankt, geht es erst mal nicht um Leben und Tod. Dann stellen sich andere Fragen: Was passiert, wenn Mama mehr Hilfe benötigt oder mal auf einen Rollstuhl angewiesen ist? Wenn diese Fragen nicht thematisiert werden, können die Kinder und Jugendlichen diffuse Zukunftsängste entwickeln.

Für die Kinder ist wichtig, ihre Beobachtung richtig einordnen zu können, unterscheiden zu können, was gefährlich ist und was nicht. Auch Erkrankungen wie ein Diabetes können Kinder ängstigen; selbst wenn die Erwachsenen wissen, dass sie – sofern die Patienten gut eingestellt sind – ohne große Beeinträchtigung durch den Alltag kommen können. Hilfreich ist daher, medizinisches Krankheitswissen kindgerecht zu erklären.

Beispiel: die nach einer Chemotherapie ausfallenden Haare. Dass die Nebenwirkung zwar unangenehm, aber nur vorübergehend ist, würde Romer den jüngeren Kindern so erklären: »Um gesund zu werden, bekommt die Mama eine Medizin, die auch Giftstoffe enthält, die die Krebszellen kaputt machen sollen. Aber dieses Gift schmeckt auch den Haarwurzeln nicht, und dann fallen die Haare aus. Das ist aber nur vorübergehend, denn wenn die Therapie vorbei ist, dann wachsen sie wieder nach.«

Neue Hobbys und Routinen geben Sicherheit

Auch zwei Jahre nach dem Tod von Charlottes Vater war sie manchmal noch sehr traurig. Dann ging sie nach draußen und versuchte, sich abzulenken, besonders gerne beim Reiten auf ihrem Lieblingspferd Johnny. Damit hat sie nach dem Tod ihres Vaters angefangen. Zu Hause warteten ihre Wellensittiche auf sie. Coco und Elli haben sie in der ersten Zeit nach dem Tod oft getröstet. Auch Ronja hat Halt in Hobbys gesucht: Sie hat angefangen, Gitarre zu spielen und Volleyball, zu reiten und ins Gardetraining zu gehen. »Das ist immer eine schöne Abwechslung«, erzählt sie.

»Auch wenn die Mama weg ist, jemand ist da, der sich kümmert«
Georg Romer, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Münster

Im Alltag benötigen Kinder geschützte Bereiche, in denen sie unbeeinträchtigt sind, erläutert Romer. Gleichzeitig helfe vielen Eltern der Gedanke: »Diese Krankheit ist nicht mächtig genug, um meinem Kind die Kindheit oder Jugend zu rauben.« Es sei lohnenswert, ihren Kindern dies zu vermitteln und sie zu ermutigen, weiterhin den eigenen Interessen nachzugehen, ohne deshalb Schuldgefühle zu entwickeln.

Das Familiengefüge ist wichtig, mag es noch so wackelig geworden sein. »Das Kind soll nie das Gefühl bekommen, es wäre allein verantwortlich«, erklärt Romer. Außenstehende können helfen, den Blick dafür nicht zu verlieren. Etwa indem man die Kinder fragt, wer ihnen morgens das Frühstück macht oder sie abends ins Bett bringt, wenn ein Elternteil für längere Zeit im Krankenhaus ist. Das rufe nämlich in Erinnerung, sagt Romer, dass »auch, wenn die Mama weg ist, jemand da ist, der sich kümmert«.

* Anm. d. Red.: Die Namen sind geändert, sie sind der Redaktion bekannt.

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