Kinderlähmung: Was der Poliovirus-Fund im Hamburger Abwasser bedeutet

Am Morgen des 13. November landete eine dringende Nachricht in den Postfächern aller Hamburger Krankenhäuser, Betreff: »Nachweis von Wild-Polioviren Typ 1 in Hamburger Abwasser«. Das Referat G41 der Hamburger Sozialbehörde schickte seine Nachricht auch an alle Betriebsärzte, die Gesundheitsämter und das städtische Trink- und Abwasserunternehmen. Die Botschaft an die Experten der Stadt: Augen auf!
Zum ersten Mal seit mehr als 30 Jahren sind in Deutschland wieder Wild-Polioviren aufgetaucht; und zwar im Hamburger Abwasser. Die Erreger können die sogenannte Kinderlähmung auslösen, auch bekannt als Poliomyelitis. Das Robert Koch-Institut (RKI) meldete den Fund in seinem aktuellen Epidemiologischen Bulletin. Das Virus stamme aus einer Probe vom 6. Oktober – vermutlich von einer infizierten Person, die sich zu diesem Zeitpunkt in der Hansestadt oder in der Umgebung aufgehalten hat. In Europa gilt das Poliovirus eigentlich als ausgerottet. Vertreter der Behörden in Hamburg und mehrere Experten, die das deutsche Science Media Center zu dem aktuellen Fund befragt hat, sehen aktuell keinen Grund zur Panik.
Schon wieder Polio im Abwasser? Was neu am aktuellen Fall ist
Dass im Abwasser einer deutschen Stadt Polioviren gefunden werden, ist grundsätzlich nicht neu. Seit Mai 2021 gibt es in Deutschland ein Frühwarnsystem für Polioviren, das sogenannte Abwassermonitoring. Zehn Städte werden regelmäßig beprobt. Im November 2024 tauchte das Virus erstmals im Abwasser von neun Städten plötzlich auf. Zwischen April und Juni dieses Jahres dann erneut in vier der untersuchten Städte.
Bei den bisherigen Funden handelte es sich allerdings um sogenannte Impfstoff-abgeleitete Viren. In Deutschland und im Rest der Europäischen Union wird standardmäßig mit einem sogenannten Totimpfstoff geimpft. In vielen anderen Ländern gibt es jedoch noch die Polio-Schluckimpfung. Sie enthält abgeschwächte, aber vermehrungsfähige Viren, die die Geimpften bis zu sechs Wochen in größeren Mengen mit dem Stuhl ausscheiden. Diese Viren können genetisch mutieren und ihre krank machenden Eigenschaften zurückerlangen.
Neu an dem aktuellen Fund ist, dass es sich um einen Wildvirus-Typ handelt, also einen natürlich vorkommenden Poliovirus, der nicht vom Impfstoff abstammt. Genauer geht es um den Wildvirus Typ 1 (WPV1). Er zirkuliert weltweit eigentlich nur noch in Pakistan und Afghanistan, wo es auch immer wieder zu einzelnen Fällen von Kinderlähmung kommt. Das RKI gibt an, dass die Genomsequenz des nun entdeckten Virus starke Ähnlichkeiten mit einem genetischen Cluster in Afghanistan zeigt. Vermutlich kam es also von dort nach Deutschland.
Sicher ist, dass sich zum Zeitpunkt der Probenentnahme mindestens eine infizierte Person in Hamburg oder Umgebung aufhielt, die das Virus ausgeschieden hat. Nach der Hamburger Gesundheitsbehörde lässt sich der genaue Ort, an dem das Virus ins Abwasser gelangte, nicht ermitteln. Ob sich die infizierte Person noch in Hamburg aufhalte oder nicht, wisse man derzeit nicht, sagt der Sprecher der Hamburger Sozialbehörde, Wolfgang Arnhold.
Es ist davon auszugehen, dass die Person aus Hamburg nichts von ihrer Infektion wusste. Das ist typisch: Polio-Infektionen verlaufen in mehr als 90 Prozent der Fälle symptomfrei. Kommt es doch zu Beschwerden, sind diese unspezifisch und ähneln eher denen einer Grippe. Weniger als ein Prozent der Infizierten entwickelt das typische Krankheitsbild mit schlaffen Lähmungen. Trotzdem können Infizierte das Virus ausscheiden und weiterverbreiten. »Grundsätzlich ist auch die Ansteckung von weiteren Personen nicht auszuschließen«, sagt daher die Epidemiologin Carolina Klett-Tammen vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. Sie meint damit den Fund in Hamburg.
- Wie verläuft Poliomyelitis?
Die allermeisten Poliofälle verlaufen ohne jegliche Symptome. Dennoch bilden die Infizierten Antikörper aus, man spricht daher von einer »stillen Feiung«.
Bei vier bis acht Prozent der Infizierten kommt es etwa eine Woche nach der Ansteckung zu einer sogenannten abortiven Poliomyelitis mit unspezifischen Beschwerden wie Durchfall, Fieber, Übelkeit, Hals-, Kopf- oder Gliederschmerzen.
- Polio im Nervensystem
Das Poliovirus kann über das Blut oder über Nervenbahnen das zentrale Nervensystem erreichen. In zwei bis vier Prozent der Fälle kann es nach den unspezifischen Symptomen zu einer nichtparalytischen Poliomyelitis kommen, die mit Fieber, Nackensteifigkeit, Rückenschmerzen und Muskelspasmen einhergeht, aber keine Lähmungen hinterlässt.
Gefürchtet ist der Verlauf der paralytischen Poliomyelitis. Typischerweise bessern sich die gerade genannten Beschwerden zunächst, bevor das Fieber ansteigt und plötzlich motorische Lähmungen auftreten. Am häufigsten sind die Beinmuskeln betroffen, aber auch Arm-, Bauch-, Brustkorb- und Augenmuskeln können gelähmt sein. Die Lähmungen bilden sich teilweise, aber meist nicht vollständig zurück. In seltenen Fällen befällt das Virus Hirnnerven, die für Funktionen wie Schlucken, Sprechen und Atmen zuständig sind. Daran können die Betroffenen sterben.
- Postpolio-Syndrom
Hat das Poliovirus Zellen des zentralen Nervensystems infiziert, kann es Jahre oder Jahrzehnte nach der Erkrankung dazu kommen, dass die Lähmungen zunehmen und Muskeln verkümmern. Wahrscheinlich liegt das daran, dass die von der Krankheit ursprünglich nicht geschädigten Nervenzellen zu viele Muskeln mitversorgen müssen, deshalb chronisch überfordert sind und letztlich zugrunde gehen.
Quelle: RKI
Wie Experten das Erkrankungsrisiko einschätzen
Schon nach den Funden der Impfstoff-abgeleiteten Viren waren einige Experten hierzulande besorgt, dass das Virus irgendwann auf eine Person treffen könnte, die nicht oder nur unzureichend geimpft ist. Und sie schlossen nicht aus, dass es in Deutschland künftig wieder einen Fall von Kinderlähmung geben könnte. Denn das Virus ist hochansteckend. Übertragen wird es beispielsweise, wenn sich Menschen nicht gründlich die Hände waschen, nachdem sie auf der Toilette waren oder ihrem Kind die Windel gewechselt haben. Kleinkinder, die noch vieles in den Mund nehmen, können sich besonders leicht infizieren.
Experten zufolge gab und gibt es bislang keine Hinweise auf weitere Infektionen oder gar eine anhaltende Verbreitung. Sie schätzen das Risiko für die Gesamtbevölkerung derzeit gering ein – denn die Impfquoten sind allgemein hoch. Allerdings, darauf weist auch das RKI hin, gebe es bei Säuglingen, Kleinkindern und Vorschulkindern wesentliche Impflücken. »Auch wenn Deutschland mit einer Polio-Impfquote von derzeit etwa 80 Prozent gut geschützt ist, gibt es Regionen mit deutlich unterdurchschnittlichen Impfquoten«, sagt auch Roman Wölfel, Oberstarzt und Leiter des Instituts für Mikrobiologie der Bundeswehr in München. In Regionen mit niedrigen Impfquoten könnten selbst Einzelfunde zu Übertragungsketten führen und sich das Virus unbemerkt in ungeimpften Gruppen ausbreiten.
Keine Panik, aber Impfstatus überprüfen
Nach Angaben des RKI sollten mindestens 95 Prozent der Kinder bis zu ihrem ersten Geburtstag dreimal gegen Polio geimpft worden sein. Doch nur 21 Prozent der Kinder in Deutschland sind vollständig geimpft. Viele holen die dritte Impfung, die vor allem für den Langzeitschutz wichtig ist, bis zum zweiten Geburtstag nach. Im Bundesdurchschnitt haben im Alter von zwei Jahren allerdings nur 77 Prozent der Kinder alle nötigen Polio-Impfungen.
In Hamburg sind nach zwölf Lebensmonaten zwar nur 24,8 Prozent der Kinder geimpft, nach 24 Monaten sind es aber immerhin 80,5 Prozent. Laut Behördensprecher Arnhold sei man angesichts des aktuellen Funds nicht besorgt. Die Frühwarnsysteme hätten funktioniert. Jetzt gehe es darum, aufmerksam zu sein – aktuell würden weitere Abwasserproben entnommen und vom städtischen Hygieneinstitut analysiert. Es gebe eine »sehr geringe Gefahr für die allgemeine Bevölkerung«.
Doch der Fall erinnert daran, dass die Kinderlähmung global noch nicht ausgerottet ist. Und er zeigt, wie wertvoll Überwachungssysteme wie das Abwassermonitoring sind – und wie wichtig ein vollständiger Impfschutz ist. Besonders Eltern sollten die Nachricht zum Anlass nehmen, den Impfstatus ihrer Kinder zu überprüfen. Worauf dabei genau zu achten ist, erklärt das RKI auf einer eigens dafür eingerichteten Seite. Unter diesem Link können Sie nachschauen, wie hoch die Impfquote in Ihrer Gegend ist.
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