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Passende Schuhe: Freiheit für die Füße

Kinderfüße wachsen schnell und stecken oft in zu kleinen Schuhen, weil die Größenangaben nicht stimmen. Sorgt das für krumme Füße und womöglich Beschwerden im Erwachsenenalter?
Ein Kleinkind versucht sich einen Schuh anzuziehen
Im Alter von ein bis drei Jahren ist mit einem durchschnittlichen Längenwachstum der Kinderfüße von 1,5 Millimeter pro Monat zu rechnen. Deshalb werden ihre Schuhe schnell zu klein. Füße von Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren wachsen etwa einen Millimeter pro Monat, während es bei Kindern im Alter von sechs bis zehn Jahren etwas weniger als ein Millimeter ist. Kinderschuhe sollten beim Kauf mindestens 12 und maximal 17 Millimeter länger sein als die Füße.

Es dauert nicht lange, bis Wieland Kinz fündig wird. »Diese Hausschuhe hier sind zu kurz«, sagt er und zieht das Messgerät aus einem der Kinderschuhe. Dann stellt er die Schuhe auf den kleinen Tisch vor sich. Viel zu kurz sind sie: Um zwei Millimeter kleiner als die Füße des kleinen Elias, der nun in Socken neben ihm kniet und wie alle Kinder in diesem Text eigentlich anders heißt.

Fachmann Kinz, ebenfalls in Socken, wirkt nicht überrascht. Zu kleine Schuhe seien eher die Regel als die Ausnahme, sagt der Sportwissenschaftler. »Mehr als die Hälfte der Kinder tragen zu kurze Schuhe.« Der 53-jährige Forscher setzt sich wieder in die Hocke, um die Winterschuhe von Elias zu vermessen. Immerhin ist der Schuh diesmal größer als der Fuß, doch auch die engen den Fuß ein. Dem Kind bleiben nur drei Millimeter Spielraum. Zwölf Millimeter sollten es mindestens sein, sagt Wieland Kinz.

Der Mann, der hier im Akkord Kinderschuhe misst, hat seine Doktorarbeit über Kinderfüße und Kinderschuhe geschrieben und ein gleichnamiges Forschungsvorhaben ins Leben gerufen. Im Auftrag von Ministerien hat er Kinderfüße in ganz Österreich vermessen, mit einer Wiener Universitätsprofessorin unterhält er eine Forschungsgruppe. Seit 20 Jahren besucht er regelmäßig Kindergärten und Schulen und prüft, ob den Jungen und Mädchen ihre Schuhe passen. Dafür hat er ein simples Schuhmessgerät entwickelt, mit dem er die Innenlängen millimetergenau vermisst. Fast 30 000 Schuhpaare, schätzt er, hat er bis heute untersucht. Und immer erlebt er dasselbe Drama.

Die Ergebnisse sind erschreckend, sagt Wieland Kinz: Gesunde Kinderfüße werden in zu kurze, zu enge oder unbewegliche Schuhe gequetscht. Einmal, erzählt er, trug ein Kind einen Hausschuh, der fünf Größen zu kurz war. Das Problem: Kinder gewöhnen sich an Schuhe, sogar wenn die ihre zarten Füße wie im Schraubstock zusammenpressen. Die Folgen für die Gesundheit der Kleinen sind jedoch enorm. Viele Eltern ahnen nicht, wie schnell Kinderfüße in die Länge schießen: Sie wachsen im Kindergartenalter etwa einen Millimeter pro Monat. Daher sollten die Schuhe alle drei bis vier Monate überprüft werden. Als Jugendlicher hat man dann Schmerzen, und die Beschwerden nehmen mit dem Alter zu. Etwa 40 Prozent der Erwachsenen haben Fußprobleme, Frauen häufiger als Männer. Die häufigsten Ursachen sind starkes Übergewicht in Verbindung mit mangelnder Bewegung – und eben falsches Schuhwerk.

Am besten barfuß laufen

An diesem Wintermorgen besucht Wieland Kinz den Kindergarten Pfistergässle in Denzlingen, einem Vorort Freiburgs. Im Halbkreis vor ihm warten 14 Kinder. Neben sich haben sie ihre Schuhe aufgereiht: Die fürs Haus, die für die Straße, und manche haben auch ihre Gummistiefel mitgebracht. Nacheinander ruft Wieland Kinz sie zu sich. Zunächst werden die Füße vermessen, dann die Schuhe.

»Bei mir passen alle Schuhe«, sagt die kleine Paulina und schaut Wieland Kinz streng an. Doch das Mädchen täuscht sich. Die Winterschuhe sind deutlich zu klein, ihr bleibt nur ein Millimeter Platz. Paulina allerdings spürt das nicht oder hat sich an die engen Schuhe gewöhnt.

»Kinderfüße sind so biegsam und geschmeidig, dass sie auch hohe Belastungen nicht spüren«Angela Simon, Fußchirurgin

Das ist das Tückische: Die Kleinen können gar nicht beurteilen, ob ein Schuh drückt. Ihnen fehlt die entsprechende Sensorik in den Füßen. Dadurch lassen sich die kleinen Zehen quetschen oder krümmen, ohne dass die Kinder Schmerzen empfinden. »Kinderfüße sind so biegsam und geschmeidig, dass sie auch hohe Belastungen nicht spüren«, sagt Angela Simon, Fußchirurgin aus Malchin in Mecklenburg-Vorpommern und Expertin für Kinderfüße. Die Zehenknochen sind in jungen Jahren noch weich, die Knochen noch nicht ausgebildet. Schutz bietet ihnen eine dicke Fettschicht, die Kinderfüße so knuffig wirken lässt. Erst im vierten Lebensjahr bildet sich das Fußskelett vollständig aus, im sechsten Lebensjahr dann auch das fertige Fußgewölbe. Doch damit ist die Entwicklung noch lange nicht abgeschlossen.

Es dauert ungefähr bis zum 14. Lebensjahr, bis der Fuß endgültig zu jenem Wunderwerk aus Knochen, Muskeln und Sehnen geworden ist, der seinen Besitzer im Lauf des Lebens rund dreimal um den Globus trägt. 26 Knochen sind über 33 Gelenke miteinander verbunden und werden von 114 Bändern stabilisiert und zusammengehalten. 20 Muskeln und starke Sehnen verleihen dem Menschen einen festen Stand. Gleichzeitig ist der Fuß elastisch und anpassungsfähig, das Gewölbe hält ihn in Balance. Jeden Tag federt der Fuß das Mehrfache des Körpergewichts ab. Rund 75 000 Nervenenden nehmen jeden Reiz wahr, der auf den Fuß einwirkt. Sie registrieren Wärme und Kälte, Schmerz und Druck, sanfte Unebenheiten ebenso wie spitze Steinchen. Orthopäden wissen: Abwechslung macht gute Füße, der Untergrund darf gerne wacklig oder uneben sein.

Jeder Reiz kräftigt die Muskulatur, stärkt die Knochen und fördert die Sensorik. Insofern sollten Kinder so oft wie möglich barfuß laufen oder rutschfeste Socken statt Hausschuhe tragen. Kinder, die überwiegend barfuß aufwachsen, können besser springen und balancieren als Kinder, die in Schuhen laufen lernen, hat die Bewegungswissenschaftlerin Astrid Zech von der Universität Jena in einer Studie mit mehr als 800 Kindern nachgewiesen. Und Füße brauchen Freiheit. In Schuhen benötigen sie vor allem Platz, um sich gut zu entwickeln. Das liegt auch daran, dass sich der Fuß streckt, wenn er abrollt. Die Voraussetzungen für ein Leben auf einem stabilen Fundament bringen fast alle Kinder mit. 98 Prozent kommen mit gesunden Füßen auf die Welt.

Ein namhafter Hersteller verkaufte sogar einen Schuh, bei dem die Größen 29 und 30 gleich lang waren

Schuhgrößen sind meist falsch angegeben

Jetzt ist Leni an der Reihe. Sie stellt ihre zwei Paare auf dem Tisch ab und klettert hoch. Wieland Kinz vermisst ihre Füße, dann Hausschuhe und Winterschuhe, inspiziert die Sohle, überlegt. Das hier ist ein klassisches Beispiel, ruft er zur Erzieherin herüber, beide Schuhe hätten dieselbe Größe, seien aber unterschiedlich lang. Ein Phänomen, das ihm öfter begegnet. Bei den Schuhgrößen herrsche Kraut und Rüben, sagt er. Die Größen, die meist an der Sohle aufgedruckt sind, hält er für großen Quatsch und für eine Mogelpackung der Hersteller. Wo eine 30 draufstehe, sei häufig nur eine 28 drin, die tatsächliche Innenlänge sei fast immer zu kurz. Der Grund: Alle Hersteller verwenden ihre eigenen Größen. Eine normierte Größenskala, an die sie sich halten müssten, existiert nicht. Ein namhafter Hersteller verkaufte sogar einen Schuh, bei dem die Größen 29 und 30 gleich lang waren. »Das war denen zehn Jahre nicht aufgefallen«, sagt Wieland Kinz.

Falsche Größenangaben sind seinen Angaben zufolge einer der Hauptgründe, weshalb Kinder in zu kurzen Schuhen stecken. Seine Nachmessungen ergaben, dass nur drei Prozent der getragenen Schuhe im Vergleich zur aufgedruckten Schuhgröße die korrekte Innenlänge hatten. 93 Prozent der überprüften Schuhe waren zu kurz, 4 Prozent zu lang. Egal, bei welchen Marken und in welchen Ländern er nachmaß – immer erhielt er dasselbe Ergebnis, sogar im fernen Japan. Und auch die Studienlage hierzu ist eindeutig: Seit den 1950er Jahren zeigen Untersuchungen wiederholt, dass die meisten Kinder zu kurze Schuhe tragen.

Das Problem wurde schon im Jahr 1954 erkannt. Damals untersuchte der Mediziner Harald Timm 100 gesunde Kinderfüße in Lübeck, die Arbeit veröffentlichte er in der »Zeitschrift für Orthopädie und ihre Grenzgebiete«. Die Schuhe vermaß er mit einem Pedoskop, wie es in Schuhgeschäften damals üblich war. Mit Röntgenstrahlung durchleuchteten die Verkäufer die Passform der angezogenen Schuhe. So sahen die Verkäufer sofort, ob die Schuhe passten. Das Ergebnis der Studie war nicht weniger empörend als seine Methodik: 62 Kinder trugen zu kurze Schuhe, bei 9 Kindern zeigten sich bereits deutliche Knochenwachstumsstörungen am Großzehengrundgelenk. »Die Zahl der Kinder mit zu kurzem oder ungeeignetem Schuhwerk ist erschütternd groß«, notierte der Mediziner damals über das grassierende »Fußelend«. Der Schuh verforme bereits im Kindesalter den Fuß und verursache bleibende Schäden, schrieb er.

Die Pedoskope mit Röntgenstrahlung sind verschwunden, das Problem ist geblieben. Für eine Studie zur Fußgesundheit bei Kindern wurden 2016 die Schuhe und Füße von etwas mehr als 1000 Kindern im Alter zwischen 1 und 7 Jahren vermessen und begutachtet. Das Ergebnis: Nur 38 Prozent der Straßenschuhe und 26 Prozent der Hausschuhe passten. Manche Hausschuhe waren bis zu sechs Größen zu klein. Bei 187 Kindern fielen bestimmte Fußmerkmale negativ aus, wie etwa falsche Zehenstellungen oder Druckstellen.

Heutzutage sind Eltern bekannt dafür, ihren Nachwuchs stark zu behüten. Aber ausgerechnet bei dem Körperteil, der ihre Kinder durchs Leben trägt, sind sie nachlässig? Wieland Kinz relativiert. Die wenigsten Eltern ahnten wohl, dass im Schuhgeschäft systematische Messprobleme auf sie warten. Außerdem wisse kaum jemand, welche körperlichen Schäden falsche Schuhe hervorrufen können. Der Experte sieht die Verantwortung daher bei den Herstellern: »Korrekte Innenlängen würden dazu führen, dass wenigstens beim Schuhkauf die Sicherheit besteht, dass man das bekommt, was auf dem Schuh steht.«

Kinder sind viel unterwegs | Kinder laufen, springen und toben den ganzen Tag. Ihre Füße sind allerdings erst ab dem 14. Lebensjahr fertig entwickelt. Deswegen sollten ihre Schuhe einiges aushalten, genug Platz bieten, bequem sein und einen festen Stand ermöglichen.

Häufige Fehler beim Schuhkauf

Neben den falschen Innenlängen gibt es noch ein anderes Problem, das Messgerät. Jedes Kind kennt die Prozedur: Schuhe ausziehen, Ferse nach hinten, Schieber zurückziehen, messen. Simpel und genau wirkt die Methode, doch es fehlt die Präzision. Die Schuhgrößen unterscheiden sich von Messgerät zu Messgerät, eine 29 kann in einem anderen Laden auch eine 30 sein. »Da herrscht kompletter Wildwuchs«, sagt Wieland Kinz. Um das Fachpersonal auf solche Fehler hinzuweisen, bietet er regelmäßig Schulungen an. Im Rollenspiel gehen sie den Vorgang durch. Nachdem die Verkäufer den Fuß in dem Messgerät vermessen und eine Empfehlung abgegeben haben, greift er ein. Gemessen wird streng genommen nur die empfohlene Schuhgröße des Messgeräts, klärt er auf. Denn auch die Empfehlungen, wie viel Spielraum das Kind im Schuh haben sollte, ist variabel.

Spätestens hier wird es kompliziert. Messgerät, Schuhgröße, Spielraum – jeder definiert das anders. Halb so schlimm, hört Wieland Kinz dann oft. Wir machen anschließend noch die Daumenprobe. Dabei drückt man mit dem Daumen auf den angezogenen Schuh und testet, ob der Daumen zwischen die längste Zehe und der Schuhspitze passt. Doch auch dieser Test taugt nichts, denn Kinder ziehen reflexartig die Zehen an, wenn man ihnen vorne auf die Füße drückt. Erfahrene Verkäuferinnen und Verkäufer legen deshalb die andere Hand leicht über den vorderen Schuh, während sie mit dem Daumen drücken. So merken sie, ob die Kinder ihre Zehen einrollen. Ob vorne wirklich genug Platz bleibt, lässt sich mit dieser Methode nicht feststellen.

Einige Geschäfte sind deshalb dazu übergegangen, die Kinder auf die Einlagen zu stellen, die sie aus den Schuhen nehmen. Damit lässt sich sofort erkennen, ob die Schuhe passen und vorne noch genug Platz ist. Doch Wieland Kinz hat häufig erlebt, dass die Einlagen nicht zu den Schuhen passten. Bei einem Hersteller waren die Sohlen regelmäßig zwei bis drei Zentimeter zu lang, so dass sich die Einlage an der Spitze umbog. Bei anderen entdeckte er einen Spalt zwischen Ferse und Einlage. Warum die Sohlen nicht zu den Schuhen passen? Sohlen würden in verschiedenen Firmen oft im asiatischen Ausland hergestellt und nicht genau auf die Innenlängen des Schuhs gefertigt, sagt er. Hinzu komme, dass viele Verkäufer die Fersen der Kinder ganz hinten an den Rand der Einlagensohle stellen. Im Schuh liegt die Ferse jedoch etwa einen Zentimeter vor dem hinteren Ende der Einlage. Fehler lauern beim Schuhkauf also überall.

Die bekannten Marken machten es bei den Größen und Innenlängen nicht besser als die billigen Anbieter

Was gute Schuhe ausmacht

Teuer müssten Schuhe jedenfalls nicht sein, hat Wieland Kinz herausgefunden. Die bekannten Marken machten es bei den Größen und Innenlängen nicht besser als die billigen Anbieter. Er hält es sogar für in Ordnung, gebrauchte Schuhe an Kinder weiterzugeben. »Dieses alte Mantra kommt aus der Industrie«, sagt er. Gangbildübernahme heißt das Schreckensszenario besorgter Eltern und Großeltern, die deshalb jedes Kind mit neuen Schuhen einkleiden. Es gibt allerdings keine wissenschaftliche Grundlage gegen gebrauchte Schuhe. Aussortieren würde Wieland Kinz Schuhe nur, wenn sie stark abgetragen sind. Einfach die Schuhe auf den Tisch stellen und überprüfen: Hängen sie nach links oder rechts durch? Dann sollte man sie entsorgen.

Der Schuhexperte beurteilt einen guten Schuh danach, ob er ausreichend Platz bietet, warm, weich und geschmeidig sowie beweglich genug ist. Das Innenmaterial sollte Feuchtigkeit aufnehmen und weitertransportieren, das Außenmaterial Feuchtigkeit abgeben. Steife und unbewegliche Exemplare würde er sofort aussortieren, denn Schuhe sollten sich an die Füße anpassen und nicht andersherum. Ob Kinder genug Platz im Schuh haben, hängt aber nicht nur von der Innenlänge ab, sondern auch von der Breite. Zudem achtet er auf die Zehenraumhöhe, damit kleine Zehen nicht gequetscht werden. Von Turnschläppchen hält er nichts, und auch Gummistiefel seien häufig zu niedrig. Bei manchen Kindern, die häufig Gummistiefel trugen, entdeckte er blaue Flecken unter den Nägeln.

Wie sich das falsche Schuhwerk auswirkt

Die häufigste Schädigung durch zu enge Schuhe ist der Hallux valgus, auch Ballenzeh genannt. Es mag überraschen, dass auch Kinder von diesem Phänomen betroffen sind – im hohen Alter sind häufig die Frauen davon betroffen, die ihre Füße in Pumps gequetscht haben. Diese Fehlstellung der Großzehe (Hallux) entsteht dadurch, dass der Vorfuß in einen zu engen oder spitz zulaufenden Schuh gezwängt wird. Das Großzehengelenk weicht dann schief nach außen ab, und die Zehe wird gegen die mittleren Zehen gedrängt. Dadurch kommt es zu Schwielen und Schmerzen sowie zu chronischen Reizzuständen des Großzehengrundgelenks und des Schleimbeutels. Dabei weicht der erste Mittelfußknochen mit seinem Köpfchen nach innen ab und bildet den Ballen. In schwer wiegenden Fällen kann die zweite Zehe sogar völlig überlappt werden. Die mögliche Folge: Arthrose. Typische Begleiterscheinungen von Hallux valgus sind verkürzte Sehnen und Hammer- oder Krallenzehn. Dabei werden die mittleren Zehen vorne zusammengedrückt und krallen sich ein.

»Die Korrelation zwischen zu kurzen Schuhen und deutlich veränderten Großzehenwinkeln ist eindeutig und wurde mehrfach nachgewiesen«, sagt Wieland Kinz. Er geht sogar davon aus, dass handelsübliche Kindersocken mit ihrer trapezartigen Zehenspitze den Fuß schädigen können. Kleine Hallux-Winkel beobachtet er schon bei Dreijährigen, bei Zehnjährigen seien sie noch größer. Die erste Studie dazu mit mehr als 800 Kindern hat er im Jahr 2009 veröffentlicht, eine weitere im Dezember 2020. Schon wenige Jahre falsches Schuhwerk hätten »dramatische Auswirkungen«, sagt er. Die Folgen für Sprunggelenk, Knie, Hüfte und Wirbelsäule sind noch nicht ausreichend erforscht.

Die Jenaer Bewegungswissenschaftlerin Astrid Zech hält die Auswirkungen auf die Gesundheit für weniger eindeutig. Dass unpassende Schuhe die Fußform beeinflussen und zu Deformitäten führen, sei kompliziert zu beweisen, weil man dafür Kinder über längere Zeit mit einem schlechten Schuhwerk ausstatten müsste, um eindeutige Erkenntnisse zu erlangen. Aber das scheitere schon an ethischen Gründen, sagt sie. Insofern sei der Nachweis schwer, dass Schuhe Fußfehlstellungen hervorrufen, auch wenn Studien diese Korrelation belegen. Vergleiche von Kindern, die häufig barfuß laufen, mit Kindern, die eher Schuhe tragen, sind hingegen eindeutig: Sie zeigten, dass Schuhe die Fußform beeinflussen, sagt sie. Ein kleiner Schuh wirke dann wie ein Korsett, in das der Fuß gepresst wird.

Im Kindergarten bei Freiburg steigt jetzt das letzte Kind vom kleinen Tisch. Nach zweieinhalb Stunden ist der Kinderfußmesstag in Denzlingen beendet. Eine halbe Stunde dauert es, dann hat Wieland Kinz alle Ergebnisse parat. Sie bestätigen den typischen Befund: Von 37 Kindern im Alter von ein bis sechs Jahren trugen 15 Kinder zu kurze Straßenschuhe, fast zwei Drittel zu kurze Hausschuhe. Nur ein Hausschuhpaar war korrekt ausgezeichnet, sonst stimmten die Größen nicht, denn die meisten Schuhe waren kürzer, als sie sein sollten. Ähnlich unbefriedigend war die Situation bei den Straßenschuhen, auch hier war die überwiegende Mehrheit der Schuhe kürzer als angegeben. Ein Paar wies die Schuhgröße 33 aus – die Nachmessung ergab, dass es sich um einen Schuh der Größe 30 handelte.

Würden Normen das Problem lösen?

Wieland Kinz ist deshalb überzeugt, dass es eine verbindliche Norm braucht, an die sich die Hersteller halten müssten. Theoretisch existiert so eine Norm bereits: der Pariser Stich. Sie besagt, dass die Leistenlänge geteilt durch 0,666 die Schuhgröße ergibt. Doch daran hält sich kaum ein Hersteller. Jeder verwende seine eigenen Größen, berichtet der Schuhexperte. Alle Versuche, die Hersteller auf eine solche verpflichtende Größenskala zu drängen, blieben erfolglos.

Das Deutsche Schuhinstitut, der Lobbyverband der Schuhindustrie, kommt bei eigenen Vermessungen ohnehin zu völlig anderen Ergebnissen. Demnach passen 78 Prozent aller Kinderschuhe, nur 16 Prozent waren zu klein. So steht es jedenfalls im »Kinderfußreport« aus dem Jahr 2020, den das Deutsche Schuhinstitut herausgibt. Der Weg zu gesunden Kinderfüßen führe nur über den engagierten Schuhfachhandel, heißt es. Zudem ist man der Auffassung, dass mit den Messgeräten des WMS-Gütesiegels, mit dem der Verband die Schuhhändler gegen eine Lizenzgebühr auszeichnet, der Schuhkauf »zum Kinderspiel« werde, heißt es auf der Homepage. Die Ergebnisse der Industrie stehen also im krassen Widerspruch zu den zahlreichen wissenschaftlichen Studien, die seit fast 70 Jahren erscheinen, bei denen Forscher immer wieder feststellen, dass ein großer Anteil Kinder keine passenden Schuhe trägt. Beim Deutschen Schuhinstitut jedoch sieht man keinen Widerspruch: »Durch die Kombination des Füßemessens und Innenlängenmessens kann nach wenigen Anproben ein Schuh gefunden werden, der in der Länge passt«, teilt Pressesprecherin Claudia Schulz mit. Eine geschulte Verkaufskraft, die die Schuhmodelle gut kenne, sei dabei sehr wertvoll, um die Geduld von Kindern und Eltern nicht zu strapazieren.

Viele Eltern haben die Geduld jedenfalls verloren und nehmen den Schuhkauf selbst in die Hand. Und so findet man einfache Anleitungen im Netz: Kinder werden auf Pappe gestellt, Füße mit Stiften umrandet, das Ganze ausgeschnitten und damit Schablonen mit mindestens zwölf Millimeter Spielraum gebastelt. Diese werden dann in die potenziellen neuen Schuhe gelegt. Diese Pappmethode entspricht keineswegs dem Hightechverfahren, mit dem Schuhe heutzutage gefertigt werden. Aber das ist mehr, als der Fachhandel im Jahr 2023 zu bieten hat.

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