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News: Kindesmord auf hoher See

Sich selbst erfolgreich fortzupflanzen, ist die unnachgiebige Triebkraft hinter vielen Verhaltensweisen der Lebewesen. Sie ist so machtvoll, daß sie bei manchen Arten sogar erwachsene Tiere dazu bringt, die Nachkommen von anderen zu töten, um ihren eigenen Reproduktionserfolg zu maximieren. Erstmals konnte dieses Verhalten auch bei Kleinwalen nachgewiesen werden.
I. A. Patterson und seine Mitarbeiter von der SAC Veterinary Service Division in Inverness und der University of Aberdeen in Schottland berichten in den Proceedings of the Royal Society, London B vom 7. Juli 1998 von handfesten Hinweisen auf Kindesmord bei einer kleinen Population von Großen Tümmlern (Tursiops truncatus) an der Nordostküste von Schottland.

Aufgrund des großen Aktionsgebietes der Meeressäuger war es schwierig, eindeutige Indizien für dieses Verhalten zu finden. Erst die Untersuchungen der angespülten Kadaver von Tümmlerkälbern ergaben, daß die Verletzungen und Narben durch Attacken anderer Delphine verursacht waren. Außerdem konnten die Wissenschaftler Aggressionen eines erwachsenen Tümmlers gegen ein totes Jungtier beobachten. Sie sehen darin stichhaltige Hinweise, daß Kindermord tatsächlich ein Bestandteil des Sozialverhaltens von Walen ist.

Damit ließen sich auch die bisher unerklärlichen Todesfälle bei Schweinswalen (Phocoena phocoena) besser verstehen, die im gleichen Territorium wie Tümmler leben: Es wurde vielfach von gestrandeten Schweinswalen berichtet, die schwere Verletzungen trugen, die anscheinend von Delphinen stammten. Da Schweinswale in etwa so groß wie Delphinkälber sind, glauben die Forscher, daß sie von den Tümmlern mit eigenen Jungtieren verwechselt und als vermeintliche Konkurrenzkinder getötet wurden.

Noch fehlen genaue Daten über Alter und Geschlecht der Delphine, welche die Kälber angreifen. Doch es gibt bereits einige Erklärungen für dieses paradox anmutende Verhalten: Weibliche Große Tümmler gebären nur alle zwei bis vier Jahre, aber wenn sie ihr Junges verloren haben, werden sie innerhalb von Tagen für Männchen attraktiv. Bei einer so unregelmäßigen Vermehrungsweise könnte der Fortpflanzungswettbewerb zwischen den Männchen diese zum Kindermord treiben – ein Phänomen, das schon von anderen Säugetieren bekannt ist. Andrerseits könnten die Weibchen in schlechten Zeiten derartig handeln, um eine Überbevölkerung unter den gegebenen Bedingungen zu vermeiden.

Welche Variante auch zutreffen mag, die Wissenschaftler empfehlen, den Kindermord als einen Faktor anzusehen, der zum sozialen und evolutiven Verhalten von Walen gehört. Aus dieser Erkenntnis folgen wichtige Schlüsse für den Schutz von Schweinswalen, Delphinen und anderen Walen: In kleineren Populationen, die empfindlicher für demographische Schwankungen und menschliche Eingriffe sind, könnte Kindesmord schlimme Folgen für den Bestand der Gruppe haben.

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