Kipppunkte und Finanzen: Können Zentralbanken die Natur schützen?

Es ist keine neue Erkenntnis, dass viele wirtschaftliche Aktivitäten Ökosysteme an den Rand ihrer Belastbarkeit treiben. Doch beide Seiten haben dabei viel zu verlieren: Wenn diese Ökosysteme kippen würden, hätte das dramatische Auswirkungen – auch auf die Wirtschaft. Deswegen beschäftigen sich Zentralbanken, die Hüter der wirtschaftlichen Stabilität, seit einigen Jahren neben der Klimakrise auch mit der Naturkrise. Diese Institutionen sitzen an den Schalthebeln der globalen Geldströme. Und womöglich könnten sie sogar dazu beitragen, herannahende Kipppunkte abzuwenden. Doch das Konzept ist noch kaum getestet: Lassen sich wichtige Ökosysteme vor dem Kollaps schützen, indem man bestimmten Unternehmen den Geldhahn zudreht?
Eine Arbeitsgruppe aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern versucht, genau die Frage zu beantworten. Zu ihnen gehört Lydia Marsden. »Finanzaufsichtsbehörden sollten sich stärker auf die Bereiche konzentrieren, in denen das Finanzsystem zu Umweltauswirkungen beiträgt«, sagt sie. Zusammen mit ihrem Kollegen Josh Ryan-Collins forscht sie am University College London zu nachhaltigen Finanzen. Die Beteiligten fokussieren sich in dem Projekt auf bestimmte Ökosysteme: solche, von denen Fachleute annehmen, dass sie Kipppunkte besitzen, wie der Amazonas-Regenwald, nordische Nadelwälder oder tropische Moorgebiete. Dieser Fokus macht das Projekt außergewöhnlich.
Von Anfang an waren sich die beiden Fachleute, selbst aus den Wirtschaftswissenschaften, darüber einig, dass sie sich naturwissenschaftliche Unterstützung suchen wollten. Von Experten, die genau verstehen, was es bedeutet, wenn wir gefährliche Kipppunkte überschreiten – und die dieses Wissen sehr einfach herunterbrechen können. Die naheliegende Anlaufstelle war für sie die University of Exeter, Heimat des »Global Tipping Points Report«. Gemeinsam mit den dortigen Erdsystemwissenschaftlern Jesse Abrams und Tim Lenton wollten sie eine zentrale Frage beantworten: ob sich nämlich die globalen Finanzströme gezielt umleiten lassen, um solche Kipppunkte abzuwenden.
Große Risiken für das Finanzsystem
Es geht dabei keineswegs nur um die Umwelt. Zwar wird das Projekt unter anderem von den Klima- und Umweltschutzorganisationen The Sunrise Project und WWF gefördert, aber das Team um die Ökonomin Marsden treibt auch ganz handfeste Fragen nach der wirtschaftlichen Zukunft um.
Wenn etwa der Amazonas-Regenwald kippt, hätte das verheerende Folgen und könnte auch das Finanzsystem ins Wanken bringen, wie das Team um Marsden in seinen Veröffentlichungen berichtet. Der Regenwald beeinflusst die Niederschläge in weiten Teilen Südamerikas. Bricht das Ökosystem teilweise zusammen, könnte das zu massiven Ernteausfällen führen. Auch die Wasserkraft wäre betroffen – eine wichtige Energiequelle im Amazonasgebiet. Verstärkte Dürren könnten außerdem wichtige Transportrouten wie den Panamakanal stören. Durch globalisierte Lieferketten können sich Angebotsschocks im Nahrungsmittel- oder Energiebereich auf das gesamte Finanzsystem auswirken. Dazu kommt, dass der Amazonas-Regenwald bis zu 200 Gigatonnen Kohlenstoff speichert. Würden Teile davon freigesetzt, würde das die Erderhitzung beschleunigen – und es wahrscheinlicher machen, weitere Kipppunkte zu überschreiten.
Auch wenn unsicher ist, ob und wann Kipppunkte überschritten werden, sei das Risiko für das Finanzsystem groß, erklärt die Forscherin. Auch deshalb sollten Zentralbanken und Aufsichtsbehörden Geldströme einschränken, die zur Naturzerstörung beitragen. Dass sich das interdisziplinäre Forschungsteam auf die Ökosysteme mit Kipppunkten konzentriert, hat einen banalen Grund: Irgendwo muss man anfangen. Alle Ökosysteme sind wichtig, aber bei manchen hätte ein Verlust besonders große Auswirkungen.
Man kann sich Kipppunkte etwa so vorstellen, dass man eine Tasse auf den Rand eines Tisches zuschiebt. Man kann die Tasse lange Zeit immer näher an die Kante, ja sogar ein Stückchen darüber hinaus schieben, ohne dass etwas Besonderes passiert. Bis auf einmal ein kleiner Stupser reicht und die Tasse auf den Boden fällt und zerbricht. Es sind Punkte, an denen eine kleine Veränderung einen großen und oft nicht wieder umkehrbaren Unterschied für ein System macht.
Es gibt verschiedene Arten von Kipppunkten. Solche in weitgehend physikalischen Prozessen, zum Beispiel wenn Eis schmilzt oder wichtige Strömungen sich verlangsamen, hängen vor allem von der Erderwärmung ab. Bei den Kipppunkten in Ökosystemen dagegen gibt es weitere Treiber, und viele von ihnen haben einen ökonomischen Hintergrund. Etwa, wie das Land genutzt wird, ob Wälder oder Gewässer verschmutzt sind oder eine Komponente des Ökosystems übermäßig ausgebeutet wird, wie durch Überfischung. Um diese Ökosysteme zu schützen, muss man also auch bei den wirtschaftlichen Aktivitäten vor Ort ansetzen.
Wer finanziert Naturzerstörung?
»Wir wollten uns auf bestimmte, kritische Ökosysteme konzentrieren«, sagt Marsden. Denn die Finanzierung fossiler Brennstoffe und damit der Erderhitzung hätten Wissenschaft und Zivilgesellschaft schon umfassend untersucht. Welche wirtschaftlichen Faktoren hinter Naturzerstörung stehen, ist dagegen oft weit weniger gut bekannt. Nach mehreren gemeinsamen Workshops entschied das Team sich für fünf zentrale Ökosysteme: den Amazonas-Regenwald, nordische Nadelwälder, tropische Moorgebiete, Mangroven und Korallenriffe. Es wollte wissen: Welche Geldströme finanzieren die wirtschaftlichen Aktivitäten, die vor Ort die Umwelt belasten?
»Finanzaufsichtsbehörden sollten sich stärker auf die Bereiche konzentrieren, in denen das Finanzsystem zu Umweltauswirkungen beiträgt«Lydia Marsden, University College London
Dafür identifizierte die Arbeitsgruppe zunächst für die jeweiligen Ökosysteme die wichtigsten Treiber der Naturzerstörung. Den brasilianischen Amazonas-Regenwald zum Beispiel bedrohen abgesehen von der Erderwärmung vor allem Landnutzungsänderungen. Unternehmen holzen Bäume ab, um Weideland für Rinder oder Anbaugebiete für Soja zu schaffen. Bei den borealen Nadelwäldern in Russland und Kanada ist die industrielle Forstwirtschaft der Wirtschaftssektor, der das Ökosystem am meisten schwächt.
Das Team identifizierte die an solchen Aktivitäten beteiligten Unternehmen in den jeweiligen Untersuchungsgebieten. Anschließend versuchten die Forschenden nachzuvollziehen, woher die Unternehmen ihr Geld bekommen. Eine wichtige Erkenntnis dabei: Oft finanzierten Banken die wirtschaftlichen Aktivitäten, deren Hauptsitz weit entfernt vom jeweiligen Ökosystem liegt. Im Fall des brasilianischen Amazonas-Regenwalds waren etwa europäische Banken die wichtigsten Geldgeber und für 41 Prozent der identifizierten Geldströme verantwortlich. Das bedeutet: Banken quer über die Kontinente tragen dazu bei, die Ökosysteme zu zerstören. Und auf der anderen Seite sind diese Banken in Gefahr, wenn Unternehmen durch fehlende Ökosystemleistungen nicht mehr wie gewohnt produzieren und dadurch ihre Kredite nicht zurückzahlen können.
Außerdem kommt das Geld häufig aus anderen Ländern als jenen, in die die produzierten Waren exportiert werden. Die USA sind beispielsweise der Hauptimporteur für Holzprodukte aus Kanada. Japanische Banken waren aber für ein Drittel der identifizierten Geldströme zur Forstwirtschaft in den borealen Nadelwäldern Kanadas verantwortlich. Wer verstehen will, wie sich die Ökosysteme schützen lassen, kann also nicht allein auf den Handel mit Produkten schauen.
Ihre Ergebnisse hat die Gruppe in mehreren Working Papers und Policy Briefs veröffentlicht. Marsden arbeitet daran, aus zwei Working Papers eine Veröffentlichung in einem Fachjournal zu machen.
Zentralbanken beschäftigen sich mit Naturrisiken
Diese Erkenntnisse geben Zentralbanken und Aufsichtsbehörden wichtige Hinweise, wie sich mit geldpolitischen Maßnahmen Ökosysteme schützen lassen. Um zerstörerische Aktivitäten einzudämmen, müssen sie erst verstehen: Wer finanziert die Unternehmen? Welche Arten der Finanzierung nutzen sie? Doch der Weg dahin ist noch weit, betonen die Forschenden. Denn viele Unternehmen und Geldströme lassen sich nicht durch öffentlich zugängliche Daten identifizieren.
Zusätzlich sind Naturrisiken deutlich schwerer zu regulieren als der Klimawandel. Die Europäische Zentralbank hat im Jahr 2025 ihre geldpolitische Strategie überarbeitet. Dabei hat sie die wirtschaftlichen Risiken durch die Naturzerstörung gleichgesetzt mit denen durch den Klimawandel. Diese lassen sich allerdings nicht auf eine einzelne, gut messbare Kenngröße – wie Treibhausgasemissionen – herunterbrechen.
Ein weiteres Problem ist, dass viele Zentralbanken momentan nach einem einseitigen Risikoverständnis handeln. Sie versuchten, »die finanziellen Risiken des Klimawandels und des Naturverlusts genau zu berechnen und ›einzupreisen‹«, erklärt Marsden.
In diesem Verständnis sind Klima- und Naturkrise externe Risikofaktoren, die Akteure, getrieben von wirtschaftlicher Vernunft, dann berücksichtigen können. Doch Banken und Unternehmen tragen selbst zur Erderhitzung und Naturzerstörung bei und erhöhen so das Risiko für das Wirtschaftssystem. Viele Fachleute und NGOs fordern deshalb, dass Zentralbanken nach dem Vorsorgeprinzip handeln sollten. In Bezug auf die Ökosystemkipppunkte bedeutet das: Sie sollten aktiv dazu beitragen, diese Ökosysteme als solche zu schützen, statt nur die Risiken ihrer Zerstörung zu erfassen.
Marsden sagt, sie habe während der Arbeit an der Studie immens von der interdisziplinären Zusammenarbeit mit den Erdsystemforschern profitiert: »Es hat sehr dabei geholfen, die Informationen zu Kipppunkten auf eine Weise darzustellen, die zwar streng wissenschaftlich, aber auch für Finanzpolitiker verständlich ist, die sich mit dieser Literatur überhaupt nicht eingehend beschäftigen.«
Zentralbanken könnten mehr tun, sind aber vorsichtig
Was könnten Zentralbanken und Aufsichtsbehörden also tun? Die EZB hat für 2026 einen Klimafaktor für bestimmte Anleihen angekündigt, die Banken als Sicherheiten hinterlegen können, wenn sie sich Geld von der Zentralbank leihen. Dieser Risikoaufschlag könnte die Anleihen von emissionsintensiven Unternehmen unattraktiver machen. Noch ist unklar, ob er einen großen Einfluss haben wird, es ist aber ein erster Schritt. Ähnlich könnten Zentralbanken Anleihen von Unternehmen behandeln, die zur Entwaldung in tropischen Regenwäldern oder borealen Nadelwäldern beitragen. Wenn Banken Geld an diese Unternehmen verleihen möchten, könnten die Aufsichtsbehörden höhere Kapitalpuffer fordern. Das bedeutet, dass Banken mehr Eigenkapital vorhalten müssten – solche Kredite würden dann unattraktiver.
»Selbst wenn die EZB alles täte, um diese Geldströme einzuschränken, könnte sie das Problem nicht allein lösen«Lydia Marsden, University College London
Die Arbeitsgruppe um Lydia Marsden hat ihre Arbeit schon vor Mitarbeitenden verschiedener Zentralbanken vorgestellt. Viele sind interessiert, aber auch skeptisch. »Die meisten sagen, dass sie mehr quantitative Belege für systemische Umweltrisiken für das Finanzsystem bräuchten, um einzelne Banken in ihrer Finanzierung einzuschränken«, sagt Marsden. Von ihrem einseitigen Risikoverständnis abweichen und einzelne Geldströme lenken, das würden sie also nur mit einer sehr sicheren Datenlage.
Dabei versuchen die Fachleute genau dies zu vermitteln: Wann Ökosysteme kippen und welche Auswirkungen das haben könnte, lässt sich zwar im Ansatz erforschen. Die Risiken so genau zu quantifizieren, wie Zentralbanken es sich wünschen, könnte jedoch unmöglich sein. Wenn sich die Risiken im Finanzsystem zeigen, ist es eventuell schon zu spät.
Marsden betont aber auch: »Selbst wenn die EZB alles täte, um diese Geldströme einzuschränken, könnte sie das Problem nicht allein lösen.« Die Zentralbanken dürften sich beim Naturschutz deshalb nicht nur darauf beschränken, den zerstörerischsten Branchen den Geldhahn abzudrehen. Stattdessen sollten sie ebenso eine koordinierende, politische Aufgabe übernehmen: Regierungen aufmerksam machen, welche Gefahren dem Finanzsystem durch die Naturzerstörung drohen, und darauf dringen, auch politisch mehr für den Schutz der Ökosysteme zu tun.
Die Recherche wurde durch die Riff freie Medien gGmbH gefördert.
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