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Zum 100. Geburtstag von Richard Feynman: Kleiner als sein Mythos

Der Nobelpreisträger inszenierte sich als Lebemann und genialer Kommunikator, doch als Lehrer ebenso wie als Mensch ließ er zu wünschen übrig.
Feynman-Diagramm für den Zerfall eines Teilchens

Zum Star wurde der Theoretiker durch ein Experiment. Er brauchte dazu nur einen Becher Eiswasser, eine Schraubzwinge und einen Gummiring.

Es war am 11. Februar 1986, Richard Feynman saß ungeduldig in einem Sitzungssaal in Washington. Seine ganze Karriere lang hatte der amerikanische Physik-Nobelpreisträger solche Kommissionen gemieden. Aber jetzt war er von Präsident Ronald Reagan in einen Ausschuss berufen worden, der ein nationales Trauma aufklären sollte: die spektakuläre Explosion der Raumfähre »Challenger« zwei Wochen zuvor. Der Shuttle mit sieben Astronauten an Bord war 73 Sekunden nach dem Start 15 Kilometer über Florida zerrissen worden; das Fernsehen hatte live gesendet.

In der Sitzung nahm Feynman eine Probe eines Dichtungsrings der Booster-Raketen, quetschte das Material mit der Zwinge zusammen und versenkte beides im Eiswasser. Als er die Zwinge wenig später vor den Augen der Fernsehkameras löste, behielt die Dichtung die eingedrückte Form. »Ich glaube, das hat eine gewisse Bedeutung für unser Problem«, bemerkte der Physiker trocken. In der Tat stellte die Kommission später fest: Da am Morgen des Starts die Temperaturen in Florida am Gefrierpunkt lagen, hatte ein solcher Dichtungsring Form und Elastizität eingebüßt und heiße Gase aus der Rakete entkommen lassen, was zur Explosion führte.

Richard Feynman im Jahr 1984 | Der Physiker Richard Feynman kam in den 1980er Jahren zuerst auf die Idee von Quantencomputern. »Zum Donnerwetter, es ist ein wundervolles Problem«, witzelte er, »denn es sieht keineswegs einfach aus.«

Nach dieser Sitzung lebte der Nobelpreisträger noch zwei Jahre und vier Tage; mit 69 Jahren starb er an einem seltenen Krebs. Wer damals seinen Nachruf las, konnte sich an die Übertragung aus der »Challenger«-Kommission erinnert fühlen. »Wissbegierig und sarkastisch« und »ungeduldig gegenüber dem Mittelmaß« sei er gewesen, schrieb sein Biograf James Gleick in der »New York Times«. Die Journalisten der »Los Angeles Times« sprachen von einem »dreisten, unorthodoxen Geist«. Beides beschrieb einen Mann mit vielen Facetten, von denen nicht unbedingt alle attraktiv waren. Denn Richard Feynman war nicht nur ein brillanter Wissenschaftler, sondern auch ein genialer Selbstdarsteller, der seine Zeitgenossen zum Lachen und Nachdenken brachte und sich gelegentlich ziemlich unmöglich verhalten konnte.

Ein unmöglicher Charakter

Am kommenden Freitag wäre Richard Phillips Feynman 100 Jahre alt geworden. Geboren wurde er am 11. Mai 1918 als Sohn des jüdischen Ehepaars Lucille und Melville Feynman, die in Far Rockaway lebten, einem Stadtteil am Rand des New Yorker Bezirks Queens. Sein Vater weckte in ihm die wissenschaftliche Neugier, eher nach dem Unbekannten zu fahnden, als sich auf dem Bekannten auszuruhen. Von der Mutter hatte er den ätzenden Humor und den Mut, laut über Selbstherrlichkeit zu lachen. Das und seine außergewöhnliche mathematische Begabung wurden zur Grundlage seiner wissenschaftlichen Karriere, schreiben seine Biografen.

In Stichworten erzählt, ging diese Karriere so: Studium der Physik am Massachusetts Institute of Technology, Promotion in Princeton, Mitarbeit am Manhattan-Projekt in Los Alamos, Lehre und Forschung an der Cornell University, wo er die nach ihm benannten Feynman-Diagramme entwickelte und die Quanten-Elektrodynamik (QED) vollendete – das brachte ihm 1965 den Nobelpreis ein. Außerdem fand er wichtige Aspekte einer Theorie der schwachen Wechselwirkung, die für Prozesse in Atomkernen verantwortlich ist. Ab 1950, da war er erst 32, verbrachte er den Rest seiner Laufbahn am California Institute of Technology (Caltech) in Pasadena, wo die berühmten Feynman-Lectures entstanden. Zudem stellte er eine Theorie über flüssiges Helium auf und regte eine Generation amerikanischer Forscher zur Arbeit an Quantencomputern an.

Die Arbeit, die später zu seinem Nobelpreis führte, hatte schon Anfang der 1940er Jahre während des Studiums begonnen, erzählte Feynman im Dezember 1965 bei der Verleihung in Stockholm. Die theoretische Physik seiner Zeit quälte sich mit unbeherrschbaren Unendlichkeiten, wenn sie auch nur versuchte, die scheinbar so einfache Abstoßung zwischen zwei Elektronen zu beschreiben. Unter dem Blickwinkel der Quantenmechanik wurde diese Kraft nicht durch ein elektrisches Feld übertragen, sondern durch den Austausch eines ungeladenen virtuellen Teilchens.

Strichzeichnungen statt unübersichtlicher Formeln

Dass dieses Photon bei der Annährung der beiden Elektronen entstehen kann, ist eine Folge von Heisenbergs Unschärferelation: Für einen Moment konnte sich ein Elektron die Energie des virtuellen Teilchens vom Vakuum borgen. Doch das war noch nicht die ganze Geschichte. Manchmal fiel der Kredit höher aus, und es konnten mehrere Partikel entstehen. Zum Beispiel solche, die die Elektronen bei Annäherung aneinander erzeugten, aber selbst wieder auffingen. Es war auch möglich, dass das erste ausgetauschte Photon eine Art Umweg machte, indem es zunächst in ein Paar weiterer Teilchen zerfiel und aus diesen wieder neu entstand, bevor es das andere Elektron erreichte. »Strahlungskorrekturen« nennen die Physiker das Verfahren, auch solche fantasievollen Szenarien zu berücksichtigen.

Um sich einen Überblick über die Möglichkeiten zu verschaffen, entwickelte der junge Physiker, der bei Ende des Krieges erst 27 Jahre alt war, eine grafische Notation. Darin stellten durchgezogene gerade Linien die Laufwege realer Teilchen dar, ein virtuelles Photon war eine Schlangenlinie. Später, als sich die Diagramme längst von der QED gelöst hatten und zum allgemeinen Werkzeug der Hochenergiephysik geworden waren, kamen gestrichelte und gekringelte Linien hinzu. Mit diesem Instrumentarium scherte Feynman aus dem Zeitgeist seiner Disziplin aus, der mathematischen Konzepten den Vorzug von anschaulichen Bildern gab. »Er wollte anders sein«, sagt Jörg Resag, Autor des Buchs »Feynman und die Physik«, und genau das sei die Quelle seiner oft genialen Ideen gewesen.

Auf die wissenschaftliche Gemeinde damals wirkte das alles zunächst wie Gekritzel auf der Papierserviette aus einer der Bars, die der junge Kollege gern besuchte. Aber tatsächlich verbargen sich hinter den Diagrammen reguläre Gleichungen. Jedes grafische Element hatte einen Zahlenwert, und die Regel war, innerhalb eines Diagramms diese Werte zu multiplizieren und die Ergebnisse aller relevanten Diagramme schließlich zu addieren. Noch heute lassen sich die Formeln in grafischer Gestalt so benutzen. Jeder Physikstudent lernt die Feynman-Diagramme im Studium kennen.

Hokuspokus gegen die Unendlichkeit

Die Zeichnungen allein lösten aber noch nicht das Grundproblem mit der QED: die Summe über alle möglichen Verläufe der Reaktion zwischen Anfangs- und Endzustand zu bestimmen. Das Entstehen von drei, vier, fünf virtuellen Teilchen war zwar viel weniger wahrscheinlich als der einfache Austausch eines Photons, aber nicht ausgeschlossen. Wo sollten die Physiker beim Aufaddieren der Strahlungskorrekturen die Grenze ziehen? Es war schließlich auch möglich, dass die virtuellen Partikel praktisch beliebig viel Energie besitzen – und falls die am Ende zu bildende Summe solche Beiträge einschloss, konnte sie selbst nicht mehr endlich und physikalisch sinnvoll sein.

Konkret ging es damals um die Energieniveaus in der zweiten Hauptschale von Wasserstoff und das magnetische Moment des Elektrons, für die im Frühjahr 1947 jeweils präzise neue Messungen vorlagen. Die Theoretiker konnten sie nicht nachvollziehen. Feynman machte sich mit seiner Methodik daran und verfiel schließlich auf einen Kniff. Er nannte ihn später selbst »Hokuspokus«, kam aber auf die korrekten Ergebnisse. Er argumentierte, nur die endlichen Beiträge zu den Strahlungskorrekturen seien physikalisch bedeutungsvoll. Die unendlichen Anteile zur Summe gehörten sozusagen zur Elektronenmasse und -ladung, sie seien sogar der eigentliche Grund, dass die Teilchen überhaupt eine Ruhemasse haben.

Feynman-Diagramm für den Zerfall eines Teilchens

So beschrieb Feynman es jedenfalls in seinem Nobel-Vortrag. Und er bekannte dort, das Renormierung genannte Verfahren zur Aufteilung der endlichen und unendlichen Anteile diene höchstens dazu, die Schwierigkeiten der Theorie »unter den Teppich zu kehren«. Auf den Unendlichkeitskniff indes waren Ende der 1940er Jahre auch Julian Schwinger von der Harvard University und Sin-Itero Tomonaga von der Universität für Bildung in Tokio gekommen. Von der äußeren Gestalt der Herleitungen war nicht ersichtlich, dass die drei Physiker auf verschiedene Weise das Gleiche sagten. Es bedurfte der mathematischen Fähigkeiten des Briten Freeman Dyson, um die Äquivalenz der Ansätze zu zeigen – und die Entdeckung nobelpreiswürdig zu machen. Alle drei Renormierer bekamen die Ehrung 1965 zu gleichen Teilen.

Ein Jahr zuvor waren die »Feynman-Lectures« erschienen. Diese in rotem Stoff gebundenen Lehrbücher begründeten seinen Ruf, ein genialer Lehrer zu sein, weil er darin einen ganz anderen Ton anschlug als die Autoren früherer Werke. Die Bände kamen mit einfacher Sprache und Alltagsbeispielen daher, vor allem aber spiegelten sie seine Weltanschauung, mit der Physik, so wie er sie sah, könne man die ganze Welt erklären. Dieser Blickwinkel sei »ein wesentlicher Teil der wahren Kultur moderner Zeiten«, formulierte Feynman es im Nachwort – und wenn Professoren anderer Fächer das anders sähen, hätten sie einfach Unrecht.

Als Lehrer gescheitert

Das Problem an den »Feynman-Lectures« war jedoch, dass sie die meisten Studenten überforderten. Der Autor selbst bekannte am Schluss, ihm hätten vielleicht zwei oder drei Dutzend Studenten von insgesamt 200 folgen können – diejenigen, die ohnehin kaum Unterweisung benötigten. Beim Rest entschuldigte er sich: »Wenn Sie das Fach jetzt wegen mir hassen, tut es mir leid.« Ein Assistent von damals erinnerte sich später, im Lauf der beiden Jahre seien immer mehr Studenten der ersten Semester abgesprungen. Dafür strömten Doktoranden und Lehrkräfte in den Hörsaal, um ihr Fach ganz neu zu erleben. Gemessen am ursprünglichen Zweck müsste man die Vorlesungen daher als Fehlschlag werten. Doch als Beispiel dafür, wie man in der Physik über Probleme nachdenke, seien sie spektakulär erfolgreich gewesen.

Das bestätigt der Biograf James Gleick in seinem Feynman-Buch: Die Vorlesung war eine »tour de force«, sowohl als Hochschulkurs wie als Lehrbuch. Viele Universitäten hätten die drei Bände erst eingeführt und einige Jahre später wieder ausgemustert. »Feynman hatte nicht die Geduld, einen Studenten durch ein Forschungsproblem zu führen«, fasst Gleick zusammen. Der Einfluss des Caltech-Forschers machte sich eher indirekt bemerkbar, denn die drei roten Bände wirkten auf die etablierten Physiker und Kollegen an den Universitäten. Manche beschreiben die Bücher darum als »Einführungskurs für Doktoranden«.

Die »Feynman-Lectures« wurden trotzdem oder vielleicht genau deswegen zum zentralen Referenzpunkt dessen, was manche die Feynman-Industrie oder gar den Feynman-Kult nannten. Physiker erzählten einander ehrfürchtig, amüsiert, vielleicht auch schockiert, was sie von dem berühmten Kollegen aus Pasadena gehört, gesehen und gelesen hatten. Dass ihnen der Gesprächsstoff nicht ausging, dazu trug Richard Feynman selbst bei. »Er hüllte sich in eine Wolke von Mythos, und wandte viel Zeit und Energie darauf, Anekdoten über sich selbst zu generieren«, sagte sein Caltech-Kollege Murray Gell-Mann einst über ihn – eher ungehalten.

Viele dieser Geschichten finden sich in den beiden autobiografischen Büchern, die Feynman veröffentlichte. Das erste erschien noch vor seinem Tod und wurde zum Beststeller. »Sie belieben wohl zu scherzen, Mr. Feynman« hieß es und enthielt den ersten Gag schon im Untertitel: Die »Adventures of a curious character« handeln – je nach Lesart – entweder von einem »neugierigen Charakter« oder einem »merkwürdigen Typen«. Das Buch entstand nach Tonbandaufnahmen, und das merkt man der eher schlichten Sprache und dem einfachen Aufbau der Kapitel auch an. Die meisten von ihnen haben wenig bis nichts mit Feynmans Arbeit zu tun, sondern handeln von seinen anderen Interessen. Und bei aller Selbstironie kommt der Erzähler meist ziemlich gut, viele andere aber schlecht davon. Regelmäßig ist er der einzige Mensch weit und breit, der klar denkt.

Eitelkeit als Lebensprinzip

In Los Alamos zum Beispiel, wo die Amerikaner im Manhattan-Projekt die Atombombe entwickelten, langweilte Feynman sich seinen Memoiren zufolge so sehr, dass er große Expertise darin entwickelte, die Safes in den Büros seiner Kollegen und der hohen Offiziere zu knacken. »Wir hatten da in Los Alamos keine Unterhaltung, und wir mussten uns selbst irgendwie amüsieren«, schreibt Feynman laut der deutschen Übersetzung seines Buchs. »Darum gehörte das Herumfummeln mit dem Mosler-Schloss [meines Aktenschranks] zu meiner Unterhaltung.« Schnell fand er die Schwachstellen der Verriegelung, die in den Büros seiner Kollegen immerhin viele der wichtigsten Geheimunterlagen des Landes schützen sollte.

Hinzu kamen menschliche Schwächen: Manche Mitarbeiter des Manhatten-Projekts benutzen die Geburtstage ihrer Kinder als Kode des Kombinationsschlosses oder beließen den Safe einfach in der Werkseinstellung. Besonders das verblüffte den Hobby-Safeknacker Feynman: »Ich ging in meinem Gebäude von Büro zu Büro und probierte die beiden Kombinationen aus der Fabrik aus, und ich öffnete ungefähr jeden fünften Safe.«

Andere solche Anekdoten handelten vom Jungen, der Radios reparierte, vom Studenten, der einer Kellnerin das Trinkgeld unter einem umgekehrten, randvollen Wasserglas hinterlässt, vom Professor mit den Bongo-Trommeln, vom Physiker als menschlichem Spürhund oder von den Besuchen in Striptease- und Topless-Bars, wo Feynman die Tänzerinnen nach ihrem Auftritt zeichnete. Auch Studentinnen in Pasadena bat er bald, ihm nackt Modell zu sitzen.

Schon dies hat in späterer Zeit zu einiger Kritik am Verhalten des Physikers geführt. Noch mehr Aufruhr erregt dann ein weiteres Kapitel, in dem Feynman schildert, wie er als sehr junger Mann kurz nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte, Frauen ins Bett zu bekommen. Mit Flirten und dem Spendieren von Drinks war es nicht getan, stellte er fest, schnell fühlte sich der Physiker ausgenutzt. Dem zynischen Rat eines Mannes aus dem Showgeschäft folgend begann er damit, weibliche Gäste in den Bars gezielt schlecht und respektlos zu behandeln. Erst wenn sie zugestimmt hatten, mit ihm Sex zu haben, gab er ihnen etwas aus. Als er die Regel einmal selbst brach, einer Frau »vorher« ein Sandwich bezahlte und sie dann nicht mit ihm schlafen wollte, beschimpfte er sie: Sie sei schlimmer als eine Hure.

Der Physiker war schon mehr als 25 Jahre tot, als dieses acht Seiten lange Kapitel seines 320-Seiten-Buchs in etlichen Blogs neu diskutiert wurde. Manche nannten Feynman ein »sexuelles Raubtier«, das schutzlose Frauen ausgenutzt habe. Andere sahen es etwas differenzierter: »Er war offenbar davon überzeugt, dass es ein respektvolles Verhalten gegenüber Frauen war, ihnen etwas zu kaufen und Sex als Gegenleistung zu erwarten«, schrieb im Juli 2014 die Wissenschaftsjournalistin Maggie Koerth-Baker ziemlich verwundert im Webmagazin »Boing Boing«. »Man muss ihm zugutehalten, dass er bald entschied, nicht so weitermachen zu wollen. Aber offenbar hat er niemals begriffen, was mit seiner Einstellung damals nicht stimmte.«

Feynman und die Frauen

Tatsächlich endet die Episode in seinen fast 40 Jahre nach den Ereignissen veröffentlichten Memoiren mit dieser Passage: »Es machte mir keinen Spaß, es so zu machen. Aber es war interessant zu wissen, dass es Dinge gab, die ganz anders funktionierten, als ich es von meiner Erziehung her gewöhnt war.«

In vielen Kommentaren auf die Artikel – auch im Blog von »Scientific American« erschienen einige – warfen die Leser den Autoren vor, sie verzerrten die Geschichten aus Feynmans eigener Hand, um sein Andenken zu zerstören und sich selbst auf seine Kosten zu profilieren. Solches Verhalten gegenüber Frauen sei in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg die Regel gewesen, auch wenn man es heute nicht mehr akzeptieren könne. Außerdem gebe es auch Beispiele, in denen der Physiker Kolleginnen unterstützt und ehrenwert behandelt habe.

Nichts davon dürfe ein Grund sein, die Vorwürfe zu verschweigen, widersprach dann Janet Stemwedel, Philosophieprofessorin von der San Jose State University: Wer so argumentiere, reduziere Menschen nach dem Vorbild einer Vektorsumme in der klassischen Mechanik auf eine einzige Dimension. Bei diesem Verfahren werden Wegstrecken oder Kräfte verschiedener Richtung und Länge oder Stärke addiert. Ein langer Vektor kann so einen kleineren in eine andere Richtung bedeutungslos werden lassen. »Menschen sind keine Vektorsumme«, sagte Stemwedel. Eine große wissenschaftliche Leistung dürfe nicht mit sexistischem Verhalten verrechnet werden – beide gehören zu einem ehrlichen Bild eines großen Mannes.

Auch Feynman selbst wurde kurz vor seinem Tod noch mit solchen Vorwürfen konfrontiert. Sein Freund Ralph Leighton enthüllte zum 30. Todestag im Februar 2018 folgendes: Er hatte von einem befreundeten Journalisten den Nachruf besorgt, den die »Los Angeles Times« angesichts der Krankheit des Physikers vorbereitet hatte, und gab ihn dem Krebspatienten zu lesen. Darin stand und steht bis heute: »Am Ende wirkte es so, als habe er genauso viel Zeit darauf verwendet, sein Image als Macho und Frauenheld aufrechtzuerhalten, der immer für einen guten Lacher zu haben war, wie für die mathematischen Mysterien, die ihm den Nobelpreis eingebracht hatten.« Als Feynman das las, schreib Leighton, habe er traurig den Kopf geschüttelt.

Das Bedauern des großen Physikers, erklärte der Freund, resultierte aus einer Welt, in der Frauen kaum eine Rolle spielten. Die Feynman-Lectures hatten nur männliche Studenten gehört, und auch bei der Veröffentlichung von »Sie belieben wohl zu scherzen« waren nur Männer beteiligt. »Als mir diese schändliche Situation bewusst wurde«, schrieb Leighton, »bat ich den Verlag, einige der anstößigen Geschichten zu streichen. Doch die neue Lektorin (endlich eine Frau!) riet mir, sie im Buch zu belassen: Die historischen Aufzeichnungen sollten genau wie der Nachruf erhalten bleiben.«

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