Klimawandel: In Spitzbergen kommen die Walfängergräber aus dem Boden
Rund 600 Gräber von Walfängern kennt man von der Insel Spitzbergen am Rande der Arktis. Dort wurden all jene bestattet, die das raue Leben an Deck der Fangschiffe nicht lange genug überlebten, um in die Heimat zurückzukehren. Vor allem dem Skorbut erlagen die Männer, wie Untersuchungen der Skelette aus dem 17. und 18. Jahrhundert gezeigt haben.
Auf Grund der Eiseskälte und des dauerhaft gefrorenen Bodens haben die Bestatteten und ihre Kleidung die Jahrhunderte wesentlich besser überdauert, als es anderswo in Europa der Fall ist. Doch nun schlagen Wissenschaftler der norwegischen Denkmalpflege Alarm: Weil der Klimawandel die Insel rasant aufheizt, drohen die Überreste in den Gräbern binnen Kurzem komplett zu verwesen. Eine Dokumentation sei dringend nötig, schreibt das Team um Lise Loktu auf der Website der staatlichen Forschungsstelle NIKU. »Es gilt: jetzt oder vielleicht nie.«
Der Verfall von Jahr zu Jahr sei mit bloßem Auge erkennbar. Zudem würden immer wieder Gräber ins Meer gespült, weil der Boden durch den auftauenden Permafrost und das ausbleibende Meereis seine Stabilität verliere. Andernorts dringe Wasser ein und damit Mikroorganismen, die die erhaltene organische Substanz abbauten, erläutert Loktu, die von 2016 bis 2022 im Auftrag des Gouverneurs von Spitzbergen im hohen Norden tätig war.
Welche Informationen die Gräber über die Menschen des 17. und 18. Jahrhunderts bereithalten, habe man bereits bei Ausgrabungen in den 1980er Jahren feststellen können. Die damals geborgenen Funde haben norwegische Fachleute seither immer wieder mit den neuesten Methoden untersucht, so zum Beispiel mit Hilfe der DNA- und Isotopenanalyse. Die Besatzungen kamen wahrscheinlich aus vielen Ländern Europas, schreibt die Denkmalbehörde in ihrem Onlinebeitrag. Ihre Skelette und die Kleidung gäben darum Auskunft über die ökonomischen, sozialen, religiösen und gesundheitlichen Lebensbedingungen der gesamteuropäischen Bevölkerung und nicht nur über jene der Walfänger auf ihren Fahrten.
Noch zu klären sei, ob die Friedhöfe auch verschiedene soziale Schichten innerhalb der Walfängergemeinde offenbaren. »Walfänger waren überwiegend arme Menschen«, erklärt Loktu. Auf einem Friedhof lägen jedoch Menschen, die auffallend größer waren als die Bestatteten der anderen Gräberfelder. Womöglich hatten sie als Kinder von Bessergestellten in der Kindheit mehr zu essen gehabt als der Durchschnitt der Bevölkerung.
Bei den meisten Toten weisen Abnutzungserscheinungen am Oberkörper auf harte Arbeit hin, die teils schon in frühester Jugend begann. Viele der Männer hatten demnach auch immer wieder Phasen der Unter- oder Mangelernährung durchlebt, vom Vitamin-C-Mangel und dem dadurch ausgelösten Skorbut ganz zu schweigen. Auch Verletzungen traten häufig auf. Knochenveränderungen im Bereich des Schultergürtels, wie man sie in ähnlicher Form bereits bei den Inuit beobachtet hat, deuten auf ausgiebiges Paddeln oder Rudern hin.
Woher die Individuen genau stammten und welche Rolle sie bei der Arbeit hatten, wollen Loktu und ihr Team in den kommenden Jahren anhand der bereits ausgegrabenen Skelette herausfinden. Trotz der klimawandelbedingten Gefahr planen die Archäologen nicht, sämtliche noch verbliebenen Gräber frei zu legen, um nicht unnötigerweise die Totenruhe zu stören. Es gehe primär darum, Wissen zu retten, das andernfalls vollständig verschwinden würde.
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