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Ökologie: Vogelsterben im Urwald

Selbst fernab der Zivilisation schwinden die Bestände vieler Vogelarten. Langsam ergründen Wissenschaftler, dass ein globales Problem dahintersteckt.
Ein Vogel mit leuchtend blauen Augenringen und orange-braunem Gefieder sitzt auf einem moosbedeckten Ast im dichten, dunklen Wald. Der Vogel schaut aufmerksam zur Seite, umgeben von verschwommenem Laub.
Ein Halsband-Ameisenvogel (Phaenostictus mcleannani) lauert auf Beute, die von Treiberameisen am Waldgrund aufgescheucht wird.

Wo sind Tiere und Pflanzen noch einigermaßen sicher vor den Folgen des Klimawandels? Lange galten die bislang intakten Regionen der tropischen Regenwälder als potenzielle Zuflucht. Schließlich schaffen diese Ökosysteme im Schatten ihres Kronendachs ein sehr stabiles Mikroklima. Zumindest die heftigsten Auswirkungen von zunehmender Hitze und Dürre könnte das abpuffern, so die Theorie. Doch diese Hoffnung scheint trügerisch, denn es mehren sich die Anzeichen dafür, dass die Klimakrise sich selbst hier dramatisch auswirkt: Auch in nahezu unberührten Tropenwäldern geht die Vogelvielfalt im Unterholz und am Boden massiv zurück. Abholzung, Brandrodung und andere bekannte Störfaktoren spielen in diesen Gebieten fernab der Zivilisation keine Rolle. In der Fachwelt keimt daher seit einigen Jahren ein beunruhigender Verdacht: Muss der Mensch gar nicht zur Säge greifen, um diese Hotspots der Artenvielfalt zu zerstören? Neuen Studien zufolge sieht es ganz danach aus.

Ein internationales Team um Brittany Trew von der University of Exeter in Großbritannien hat zum Beispiel festgestellt, dass Baumriesen wohl doch keine so effektiven Schutzschirme sind wie gedacht. Mit Computermodellen hat die Arbeitsgruppe die Temperaturverhältnisse unter dem Kronendach von 300 000 Tropenwaldflächen rund um die Welt analysiert.

In den meisten davon hat sich das Klima zwischen 1990 und 2019 massiv verschoben: Selbst in riesigen ungestörten Waldgebieten kletterten die Temperaturen immer wieder in Bereiche, mit denen Tiere und Pflanzen dort zuvor nicht regelmäßig rechnen mussten. Und wenn die Bewohner dieser eigentlich so stabilen Lebensräume eines nicht leiden können, dann sind das abrupte Veränderungen. Selbst eine scheinbar kleine Temperaturerhöhung von weniger als einem Grad Celsius kann zum Problem werden. »Unsere Forschung zeigt, dass der Klimawandel weltweit schon riesige Flächen von intakten Tropenwäldern beeinflusst«, resümiert Brittany Trew. »Um den Arten eine Chance zu geben, sich daran anzupassen, müssen wir diese Wälder vor zusätzlichen Bedrohungen durch den Menschen schützen.«

Braunrücken-Ameisenvogel | Arten wie dieser Braunrücken-Ameisenvogel (Poliocrania exsul) gehören zu den typischen Vertretern der Avifauna im Unterholz.

Ausgesprochen prekär ist die Situation für die Bewohner tropischer Gebirge. Denn diese Ökosysteme erwärmen sich verglichen mit anderen Gebieten schnell, was die dort lebenden Arten besonders schlecht vertragen. So hat sich zum Beispiel gezeigt, dass Vögel im tropischen Bergland schneller und heftiger auf den Klimawandel reagieren als ihre Verwandten in gemäßigten Breiten. Oft weichen sie zwar in größere Höhen aus, um der Hitze zu entgehen. Doch je weiter sie in Richtung Gipfel kommen, umso kleinere Rückzugsräume bleiben ihnen. Bis sie irgendwann nirgends mehr hinkönnen. Fachleute beschreiben diesen Prozess gern mit dem Bild einer Rolltreppe, auf der die Tiere Richtung Aussterben fahren.

Mahnendes Beispiel aus Australien

Stephen Williams und Alejandro de la Fuente von der James Cook University im australischen Townsville haben eine solche Entwicklung in der Wet Tropics of Queensland World Heritage Area dokumentiert. Dieses Regenwaldgebiet im Nordosten des australischen Bundesstaats Queensland gilt als Hotspot der weltweiten Artenvielfalt und zählt seit 1988 zum UNESCO-Welterbe. Doch selbst in diesem so gut geschützten und gemanagten Refugium hat die Rolltreppe Richtung Aussterben bereits Fahrt aufgenommen: Monitoring-Daten aus den Jahren 2000 bis 2016 zeigen, dass die Vogelgemeinschaften ihre Verbreitungsgebiete systematisch nach oben verschieben.

Auch aus Mittel- und Südamerika kommen immer mehr Berichte über Tropenvögel, die in ungestörten Lebensräumen auf dem Rückzug sind. In Panama zum Beispiel untersucht eine Langzeitstudie schon seit Jahrzehnten die Vogelwelt des Parque Nacional Soberanía. Eine Forschungsgruppe um Henry Pollock von der University of Illinois hat die Daten der Jahre 1977 bis 2020 ausgewertet und ist zu Besorgnis erregenden Ergebnissen gekommen: Bei 40 der 57 untersuchten Vogelarten sind die Bestände in diesem Zeitraum geschrumpft, nur zwei verzeichneten eine Zunahme.

Warum gerade im Unterwuchs?

Betroffen waren alle möglichen Bewohner im Unterholz des Regenwalds – unabhängig von ihrem Körpergewicht, ihren Nahrungsvorlieben, ihren Verwandtschaftsverhältnissen oder ihrer anfänglichen Häufigkeit. Auch in diesem Fall sehen die Forscherinnen und Forscher den Klimawandel als mögliche Ursache. Dafür spricht auch eine frühere, ebenfalls in Panama durchgeführte Langzeitstudie. Längere Trockenzeiten bremsten demnach das Populationswachstum von fast einem Drittel der 20 untersuchten Vogelarten.

Einen ganz ähnlichen Trend haben John Blake und Bette Loiselle von der University of Florida im extrem artenreichen und weitgehend intakten Tieflandregenwald im Osten von Ecuador aufgezeichnet. Seit mehr als 20 Jahren beschäftigen sich Fachleute dort mit der Vogelwelt rund um die Forschungsstation Tiputini – und registrieren dabei immer weniger Hinweise auf die Vogelwelt.

Die Funktionsfähigkeit des gesamten Ökosystems steht auf dem Spiel

Heutzutage fangen und beobachten sie nur noch etwa halb so viele Vögel wie zu Beginn der Untersuchungen. Bei rund 90 Prozent der häufigsten Arten im Unterholz und Kronendach verzeichnen sie einen Rückgang der Bestände. »Wenn wir rund die Hälfte der Populationen verlieren, hat das wahrscheinlich weit reichende Folgen«, schreibt das Team im Fachjournal »Global Ecology and Conservation«. Man müsse damit rechnen, dass seltene Arten komplett aus der Region verschwinden und dass sich die Beziehungen innerhalb der Vogelgemeinschaft verändern. Die Funktionsfähigkeit des gesamten Ökosystems stehe auf dem Spiel.

Gehen die Insekten aus?

Besonders hart hat es in dieser Studie Vogelarten getroffen, bei denen Insekten auf dem Speiseplan stehen. Und das scheint auch andernorts der Fall zu sein. Zum Beispiel in Brasilien. Dort erfasst das Biological Dynamics of Forest Fragments Project seit mehr als 35 Jahren die Vögel eines naturnahen Regenwaldgebiets nördlich der Stadt Manaus. Schon 2020 hatten Forscher und Forscherinnen um Philip Stouffer von der Louisiana State University in den USA dort einen Vogelschwund in den unteren Etagen des Waldes dokumentiert: Bei rund der Hälfte der 79 untersuchten Arten schrumpften die Bestände. Und wieder kamen die Insektenfresser dabei sehr schlecht weg. Das könnte daran liegen, dass Hitze und ausbleibende Niederschläge die Sechsbeiner und damit das Nahrungsangebot für solche Vögel dezimieren.

Der Klimawandel beschert den gefiederten Bewohnern Amazoniens aber wohl nicht nur einen leeren Magen, sondern auch direkten körperlichen Stress. Für an schattige Waldlebensräume angepasste Arten können Hitze und Trockenheit durchaus zur Belastung werden. Und in dieser Hinsicht herrschen in dem Naturparadies bei Manaus bereits heute extremere Verhältnisse als früher. Eine Analyse von Klimadaten aus 38 Jahren ergab, dass die Trockenzeit des Jahres 2019 rund 1,3 Grad Celsius heißer und 21 Prozent trockener ausgefallen ist als die von 1981.

Warm und trocken wird es dabei vor allem auf den höher gelegenen Plateaus. Im Flachland dagegen finden die Vögel an den heißen Nachmittagen leichter einen Unterschlupf mit günstigerem Mikroklima. Und das nutzen sie auch, zeigen die Beobachtungen: Die Graubrust-Ameisendrosseln (Formicarius analis) verlassen bei Hitze und Trockenheit die Höhenlagen und ziehen sich in Täler mit mehr Deckung und weniger extremen Bedingungen zurück. Zudem nehmen viele Vögel der Region häufig ein erfrischendes Bad, um ihren Körper abzukühlen.

Zu heiß und zu trocken

Unangenehm scheinen den Tieren die klimatischen Extreme also zu sein. Aber schmälern sie auch ihre Überlebenschancen? Diesem Verdacht ist kürzlich ein Team um Jared Wolfe von der Michigan Technological University in den USA im gleichen Gebiet nachgegangen. In die Analyse sind Projektdaten eingeflossen, die aus den Jahren 1985 bis 2012 stammen. In der Zeit ist die Durchschnittstemperatur während der Trockenzeit um etwa ein Grad Celsius angestiegen, der Niederschlag hat um rund zehn Millimeter abgenommen.

Kronenbekarde | Die spektakuläre Kronenbekarde (Onychorhynchus coronatus) gehört zu den tropischen Fliegenschnäppern: Insektenfresser wie diese leiden unter dem Verlust der Arthropoden, die wiederum vom Klimawandel stark betroffen sind.

Wie statistische Berechnungen zeigen, sinkt die Überlebenswahrscheinlichkeit bei allen untersuchten 29 Arten mit steigenden Temperaturen. So überlebten im kühlsten Jahr schätzungsweise 62 Prozent der häufigen Weißgesicht-Ameisenvögel (Pithys albifrons), im heißesten dagegen nur 21 Prozent. Bei anderen Arten war die Diskrepanz sogar noch größer. Dabei scheinen die langlebigen Vertreter der Vogelwelt besonders empfindlich auf zu viel Hitze zu reagieren. Laut Modellrechnungen senkt ein Temperaturanstieg um ein Grad Celsius die Überlebensrate der Unterholzvögel im Schnitt um mehr als 60 Prozent. Mehr Regen in der Trockenzeit wirkt sich dagegen meist positiv aus.

»Damit haben wir zum ersten Mal nachgewiesen, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Klimawandel und schlechteren Überlebenschancen von tropischen Vögeln im Unterholz des Tieflandregenwalds gibt«, erklärt Jared Wolfe im Forschungsblog seiner Universität.

»Die Ergebnisse säen Zweifel daran, dass intakte tropische Regenwälder dem Klimawandel wirklich trotzen können«Jared Wolfe

Im Lauf der Evolution haben die Tiere dort wohl schon heftigere Klimaumschwünge überstanden – nur eben nicht in so kurzer Zeit. »Unsere Studie belegt, dass die Vögel in einer der artenreichsten Regionen der Erde zunehmend in die Krise geraten«, betont der Ökologe. Das sei Ausdruck einer weit reichenden Störung des gesamten Ökosystems. »Die Ergebnisse säen Zweifel daran, dass intakte tropische Regenwälder dem Klimawandel wirklich trotzen können.«

Wolfe befürchtet, dass in anderen Regenwäldern Süd- und Mittelamerikas ähnliche Prozesse im Gang sind. Daher müsse man dringend herausfinden, welche Waldgebiete ihren bedrohten Bewohnern vielleicht mehr Schutz vor Hitze und Trockenheit bieten als andere. Und man müsse besser verstehen, wie genau der Klimawandel die Artenvielfalt dezimiert.

Biological Dynamics of Forest Fragments Project

Dieses Projekt gehört zu den am längsten laufenden Feldforschungsstudien der Tropen: Seit 1979 beobachten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, wie sich die Zerstückelung und Isolierung von unterschiedlich großen Waldstücken auf deren Ökologie auswirkt. Die Flächen umfassen ein, zehn oder hundert Hektar und liegen nördlich der brasilianischen Amazonas-Metropole Manaus.

Zu den wichtigsten Erkenntnissen der vom bekannten Tropenökologen Thomas Lovejoy initiierten Forschungsreihen gehört beispielsweise, wie sich Randeffekte der Regenwaldinseln auf das Innere des Ökosystems und dessen Tiere und Pflanzen auswirken: Je kleiner das Habitat ist, desto stärker beeinflussen äußere Faktoren den Lebensraum, etwa durch Aufheizung, verstärkte Verdunstung, Windbruch oder die einwandernden Tier- und Pflanzenarten, die in geschlossenen Wäldern fehlen würden. Ein zweiter Schwerpunkt liegt auf der sich verändernden Fauna und Flora: Gerade die kleinsten Habitatinseln verloren sehr viele typische Waldarten wie Ameisenvögel, weil deren Beutetiere verschwanden. Nektar konsumierende Arten wie Kolibris kamen mit den sich verändernden Bedingungen dagegen besser zurecht.

Ein Experiment soll Aufschluss geben

Mehr Licht ins Dunkel soll daher ein ungewöhnliches Experiment bringen, das der Ökologe zusammen mit David Luther von der George Mason University in den USA und Cintia Cornelius Frische von der Universidade Federal do Amazonas in Manaus konzipiert hat. Die Gruppe will Wasser aus einem Reservoir entnehmen und etwa einen Kilometer entfernt in den intakten Regenwald leiten. »So versuchen wir, die Niederschlagsverhältnisse zu imitieren, die hier vor 40 oder 50 Jahren herrschten«, erklärt der Forscher.

Wie werden die Vögel auf dieses zusätzliche Wasserangebot reagieren? Werden sie anschließend gesünder oder besser genährt sein als zuvor? Werden andere Arten auftauchen oder die schon vorhandenen häufiger zu beobachten sein? Das alles will das Team untersuchen und vergleichen. »Hoffentlich können wir so herausfinden, welches Mikroklima für reiche und gesunde Vogelbestände sorgt«, sagt Jared Wolfe. Wenn man diese Verhältnisse kenne, könne man in den Wäldern gezielt danach suchen. »Ziel ist es, die entsprechenden Gebiete zu schützen, um dem Angriff des Klimawandels auf die Biodiversität etwas entgegenzusetzen.« Um zu retten, was noch zu retten ist.

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