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Klimawandel: Umstrittene Tricks, um den Klimawandel aufzuhalten

Das 1,5-Grad-Ziel wird kaum zu erreichen sein mit klassischen Methoden. Forscher tüfteln deshalb an verschiedenen Wegen, um CO2 aus der Atmosphäre zu entnehmen, unschädlich zu machen und irgendwo einzulagern. Doch während manche schon jubeln, dass wir nun doch nicht auf Flugreisen verzichten müssen, warnen andere vor den noch unbekannten Folgen der neuen Verfahren.
Rauchwolken aus Schloten

An diese neuen Vokabeln in der Klimadebatte werden wir uns gewöhnen müssen: Direct Air Capture, BECCS, Biochar oder »enhanced weathering«. Sie alle bezeichnen Methoden, CO2 aus der Atmosphäre zu entnehmen, unschädlich zu machen und irgendwo einzulagern. Der Zweck ist jeweils, die aufgeheizte Erde zu kühlen. Das wird notwendig, wenn es – wie anzunehmen – nicht gelingt, Energieverbrauch und Emissionen rechtzeitig zu senken, um die Klimakrise zu bewältigen und die Ziele des Pariser Vertrags zu erfüllen. Die Verfahren werden zusammenfassend als CDR (Carbon Dioxide Removal) oder NETs (Negative Emissions Technologies) bezeichnet.

Zwei Gutachten anerkannter Wissenschaftsgremien haben die Eingriffe ins Klima im Oktober als praktisch alternativlos und sogar nützlich bezeichnet: zuerst der Weltklimarat (IPCC) in seinem Sonderbericht zur 1,5-Grad-Grenze, dann die amerikanischen Akademien der Wissenschaften (NAS). Sabine Fuss vom Mercator-Institut für globale Gemeingüter und Klimawandel in Berlin, die beim Gutachten des Weltklimarat als Leitautorin mitgearbeitet hat, ist längst davon überzeugt: Es ist unvermeidbar, dass die Menschheit der Atmosphäre Treibhausgase entzieht. »Je länger die Welt mit ambitionierten Maßnahmen zum Klimaschutz wartet, desto entscheidender wird die Bedeutung von CO2-Entnahmetechnologien für das 1,5-Grad-Ziel.«

»NETs haben bisher noch nicht das öffentliche Interesse erhalten, das ihrem Potenzial entspricht«, sagt auch Stephen Pacala von der Princeton University, der die Arbeitsgruppe der NAS geleitet hat. Er nutzt darum eine Hochrechnung, um die Bedeutung klarzumachen: Ein neues US-Gesetz lobt eine Subvention von 50 Dollar pro Tonne CO2 aus für Anlagen, die es aus der Atmosphäre fernhalten oder entfernen und permanent irgendwo ablagern. Nimmt man das als Richtschnur eines künftigen Preises und multipliziert es mit 10 bis 20 Milliarden Tonnen CO2, die pro Jahr der Atmosphäre zu entziehen wären, ergibt das 500 bis 1000 Milliarden Dollar – schon der untere Wert ist mehr als der Umsatz von Apple, Amazon und Google zusammen.

»Im Endeffekt ist es doch egal, ob wir den Ausstoß sehr schnell reduzieren oder etwas weiter fossile Energie verbrennen und die Treibhausgase dann wieder entfernen«Stephen Pacala

»Im Endeffekt ist es doch egal, ob wir den Ausstoß sehr schnell reduzieren oder etwas weiter fossile Energie verbrennen und die Treibhausgase dann wieder entfernen«, sagt Pacala. »Wenn wir die Verfahren beherrschen, dann gibt es wenigstens aus der Perspektive des Klimas keinen Grund mehr, zum Beispiel im Luftverkehr weniger fossile Brennstoffe zu verwenden als erwünscht«, betont der Princeton-Forscher: »Kein Wunder, dass die Öl- und Gas-Industrie enthusiastisch ist.«

Schon dieser Beifall von der »falschen Seite« wird viele Menschen gegen die NETs einnehmen. Hinzu kommen die unvorstellbaren Dimensionen, die die neue Technik einnehmen könnte. Andere befürchten, die künftigen Verfahren würden als Ausrede genommen, schon jetzt mit der Reduktion von Treibhausgasen zu warten. »Das wäre ein ungedeckter Scheck«, warnt Mark Lawrence vom Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung in Potsdam. »Es würde Jahrzehnte dauern, ihn nachträglich zu decken, wenn es überhaupt gelingt. Denn die Verfahren, die der Atmosphäre Treibhausgase entziehen, haben Grenzen, die wir noch nicht genau kennen.«

All das sind Gründe, die Verfahren bald auf eine wirkliche Probe zu stellen. Beide Gutachten enthalten immerhin Abschätzungen, wie viel CO2 die NETs aus der Atmosphäre entnehmen könnten. Laut NAS sind es realistischerweise ungefähr fünf Milliarden Tonnen Kohlendioxid pro Jahr, der IPCC kommt auf knapp 20 Milliarden Tonnen, macht aber deutlich großzügigere Annahmen. Dem gegenüber stehen geschätzte 10 bis 20 Milliarden Tonnen an Emissionen pro Jahr, die sich besonders schwer reduzieren lassen und mit NETs auszugleichen wären, etwa aus Flugverkehr, Landwirtschaft oder Zementwerken.

Simple Aufforstung als eine der drei Technologien

Es gibt im Wesentlichen drei Ideen, wie sich CO2 im ersten Schritt aus der Atmosphäre entnehmen lässt: mit geeigneten Filtern in einer technischen Anlage, mit dem Anbau von Biomasse oder mit chemischen Reaktionen der Luft an Mineralien oder Bestandteilen des Bodens. Für die Entsorgung, den zweiten Schritt, existieren verschiedene Möglichkeiten, unter anderem: Das Treibhausgas kann isoliert und mit verschiedenen Methoden unter die Erde gepresst werden, als Biomasse im Wald bleiben oder überall verteilt in der Landschaft liegen. Nicht jedes Verfahren aus dem ersten Schritt ist prinzipiell kombinierbar mit jedem aus dem zweiten Schritt: Es bildet sich eine verwirrende Vielfalt der Verfahren.

Die US-Akademie hält derzeit drei Methoden für geeignet, in großem Maßstab eingesetzt werden; die Preise lägen jeweils unter 100 Dollar pro Tonne CO2, die entfernt wird. Das einfachste Verfahren davon ist simple Aufforstung, von dem Stephen Pacala sagt: »Ich weiß gar nicht, warum man das überhaupt Technologie nennt.« Hier hat vor allem China im großen Maßstab Erfahrung gesammelt, auch Brasilien plante unter seinen bisherigen Regierungen, zerstörte Naturflächen wiederherzustellen. Nach der Wahl des neuen Präsidenten Jair Bolsonaro hängt ein großes Fragezeichen über dem Schicksal von Cerrado-Savanne und Amazonas-Regenwald.

Generell müsste die Welt, wie viele Wissenschaftler betonen, zuerst den Raubbau an der Natur stoppen, bevor eine nennenswerte Aufforstung möglich ist. Nach Schätzung der NAS könnten Schutz und Ausbau der Waldflächen jährlich bis zu 2,5 Milliarden Tonnen CO2 binden. Der IPCC spricht sogar von 3,6 Milliarden Tonnen. »Weit vor 2040 sollten wir aber nicht damit rechnen, solche Entnahmemengen zu realisieren«, schätzt Mark Lawrence die Lage ein. »Die Biomasse braucht Zeit zu wachsen, und die Landwirtschaft muss umgestellt werden, um genügend Raum zu schaffen.« Da die Bäume stehen bleiben sollen, muss im Lauf der Zeit immer mehr Fläche für diese Methode reserviert werden.

Ein Sechstel der weltweiten Agrarfläche für CO2-Reduktion

Ein weiteres Verfahren, auf dass sich in den vergangenen Jahren viele Forscher konzentriert haben, heißt BECCS. Das steht für Bioenergy with Carbon Capture and Storage. Hier wachsen die Pflanzen auf Plantagen und werden regelmäßig geerntet. Kraftwerke verfeuern die Biomasse, Kohlendioxid wird aus dem Abgasstrom isoliert und unter der Erde verpresst. So ließen sich jährlich bis zu fünf Milliarden Tonnen CO2 aus der Atmosphäre entnehmen, schätzt die NAS; der IPCC kommt praktisch auf die gleiche Obergrenze. Um die 200 Millionen Hektar Plantagen wären dann nötig, das ist ungefähr ein Sechstel der gesamten globalen Agrarfläche heute. Mark Lawrence gibt aber zu bedenken: »Wir haben beim Biosprit gesehen, dass plötzlich und unerwartet die Nahrungsmittelpreise stark anstiegen. Es kann also sein, dass BECCS eine Grenze hat, die sehr viel niedriger liegt als heute angenommen.«

Für das BECCS-Verfahren gibt es bereits einige Pilotanlagen. Eine steht in Decatur, Illinois, dort fängt eine Fabrik für Maissirup und Ethanol CO2 aus dem Abgas auf und verpresst es unterirdisch. Während eines Versuchs sollen etwa 800 000 Tonnen Kohlendioxid pro Jahr entsorgt werden. Es bräuchte also 6000 solche Fabriken weltweit, um die von US-Akademie und Weltklimarat genannte Größenordnung zu erreichen.

Der letzte Punkt der NAS-Liste betrifft die landwirtschaftliche Praxis. Viele Experten sagen, Bauern könnten ihre Arbeit so umstellen, dass Böden wieder mehr Kohlenstoff speichern, anstatt ihn wie bisher zu verlieren. Dazu gehören der Verzicht auf das intensive Pflügen und der Anbau von Zwischenfrüchten nach der regulären Ernte. Diese Pflanzen werden dann in den Boden eingearbeitet. Die US-Akademie nimmt an, so könnten drei Milliarden Tonnen CO2 pro Jahr gebunden werden; der IPCC schätzt den Beitrag auf bis zu fünf Milliarden Tonnen.

Verfügbare Flächen sind begrenzt

Ein verwandtes Verfahren, das oft diskutiert wird, heißt Biochar: Dabei wird Biomasse per Pyrolyse in eine Art Holzkohle verwandelt und dann in den Boden eingearbeitet. Das kann die Erträge verbessern und hält den Kohlenstoff zudem von der Atmosphäre entfernt. Allein dieser Methode traut der IPCC einen Beitrag von zwei Milliarden Tonnen zu. Allerdings kann man die drei Verfahren Aufforstung, BECCS und Biochar nicht einfach als unabhängige Beiträge addieren. Es geht schließlich in jedem Fall darum, Biomasse anzubauen, so dass alle gemeinsam mit den verfügbaren Flächen auskommen müssen.

Die US-Akademie kommt so auf eine Gesamtsumme von neun bis elf Milliarden Tonnen CO2 pro Jahr, die sich im Prinzip global der Atmosphäre entziehen ließen. Das Team um Stephen Pacala warnt jedoch, dass sicherlich nicht alle Bauern oder Waldbesitzer, die mitmachen könnten, auch mitmachen würden. Realistischerweise könnten die Verfahren vielleicht jedes Jahr fünf Milliarden Tonnen Kohlendioxid zu einem Preis von bis zu 100 Dollar pro Tonne entfernen. Damit ließe sich womöglich nur ein Viertel der Emissionen ausgleichen, die die NAS für schwer vermeidbar hält. Der Weltklimarat kommt hingegen auf Summen von bis zu 20 Milliarden Tonnen. Das hat drei Gründe: Der IPCC begrenzt den Preis nicht bei 100, sondern eher bei 200 Dollar pro Tonne. Er macht sich keine Gedanken, ob auch wirklich alle möglichen Projekte verwirklicht werden. Und er rechnet zwei Verfahren ein, die noch großen Forschungsbedarf haben.

»Es könnte sein, dass es bis 2040 große Fortschritte gibt, aber es ist unrealistisch, sich darauf zu verlassen«Mark Lawrence

Das erste davon nutzt Filter, um CO2 aus der Luft zu entnehmen (direct air capture). Es muss dann unter der Erde entsorgt werden. Daran versucht sich zurzeit eine Hand voll Firmen. Am weitesten ist vermutlich Climeworks aus der Schweiz. Das Unternehmen hat eine Anlage in Hinwil, wo das aufgefangene Kohlendioxid in ein Gewächshaus geleitet wird. Und eine in Hellisheidi auf Island, die das Gas in Wasser gelöst in tiefe Basaltschichten pumpt, wo sich Karbonate bilden und den Kohlenstoff festhalten. Zurzeit kostet das viele hundert Dollar pro Tonne CO2 und bindet in der Größenordung von 1000 Tonnen pro Jahr. Der Preis müsste also auf ein Viertel bis Achtel sinken, die Menge sich um einen Faktor von einer Million steigern. Der IPCC traut diesem DACCS (Direct Air Capture with Carbon Storage) genannten Verfahren immerhin einen möglichen Beitrag von bis zu fünf Milliarden Tonnen pro Jahr zu. Das Gremium warnt aber, bisher gebe es in der Forschung dazu wenig Übereinstimmung.

Ungelöst ist bisher der gewaltige Energieverbrauch der Methode. Um zum Beispiel die Emissionen eines Kohlemeilers der Atmosphäre zu entziehen, stellt die NAS fest, müsste eine DACCS-Anlage praktisch die gesamte Energie dieses Kraftwerks bekommen. Sinnvoll wäre der Betrieb also nur mit erneuerbaren Energiequellen, und auch von deren Produktion bräuchte eine globale Branche von Betrieben zur CO2-Entnahme aus Luft einen nennenswerten Anteil. Die beiden Climeworks-Anlagen versuchen ihren Bedarf zu reduzieren, indem sie große Mengen Abwärme nutzen, die auf dem Gelände einer Müllverbrennungsanlage und neben einem geothermischen Kraftwerk anfallen. Das wird aber nicht immer klappen. »Das braucht noch viel Zeit und Ingenieurleistung, um diesen Bedarf zu reduzieren. Es könnte sein, dass es bis 2040 große Fortschritte gibt, aber es ist unrealistisch, sich darauf zu verlassen«, sagt Mark Lawrence.

Gefahr der Alibifunktion

Wenig über den Status einer Idee hinaus ist der Einsatz vermahlener Mineralien wie Olivin. Wird das Pulver in der Landschaft verteilt, verwittert es, daher der Fachbegriff »enhanced weathering«. Es bilden sich Karbonate und entziehen das dafür nötige CO2 der Atmosphäre. Um die Bodenqualität zu verbessern, werden schon heute Kalk oder Gips auf Feldern verteilt, die zum Beispiel den pH-Wert regulieren. Damit das Verfahren aber einen Einfluss auf das Klima bekommt, müsste man um mehrere Größenordnungen mehr Mineralpulver verteilen: Der Wissenschaftsrat der Europäischen Akademien (EASAC) hatte im Februar 2018 vorgerechnet, die Menge des in Bergwerken gewonnenen Olivins müsste um den Faktor 100 gesteigert werden, bei Kalk wäre sogar das Tausendfache der heutigen Produktion nötig.

Halbe Gebirge müsste die Menschheit abtragen, zermahlen und verstreuen – mit einem enormen Energieaufwand. Der IPCC schätzt, dass sich so bis zu vier Milliarden Tonnen CO2 binden ließen, die NAS kommt auf 1,5 Milliarden Tonnen. Sie hält das Verfahren zwar für viel versprechend, gar einen möglichen Joker, aber noch nicht für spruchreif oder bezahlbar. Im Prinzip könnte man die Mineralisation auch nutzen, um die Zementproduktion klimafreundlicher zu gestalten, stellte ebenfalls im Oktober eine zweite NAS-Kommission fest, die sich Gedanken über die Nutzung statt die Entsorgung von Kohlendioxid machte. Die Wissenschaftler haben es aber vermieden, auch nur eine Schätzung des Potenzials der Methode abzugeben.

Viele Szenarien für eine mögliche Entwicklung der kommenden Jahrzehnte machen aber großzügigen Gebrauch von den Verfahren aus dem NET-Spektrum, die ja alle bisher nur theoretisch verfügbar sind. Besonders BECCS wird oft überreizt, wie auch der IPCC feststellt. Die Sorge von Wissenschaftlern und Aktivisten ist darum, dass auch Politiker verschiedener Länder anfangen könnten, im fehlgeleiteten Glauben an die Technik der CO2-Entnahme die Notwendigkeit zur Reduktion der Emissionen anzuzweifeln. Beim Weltklimarat heißt es jedoch ganz klar: Um die Klimakrise zu bewältigen, brauchen wir alle möglichen Maßnahmen, wir können nichts zurückstellen oder auslassen. Das Zeitalter des »oder« ist vorbei, wir sind in der Ära des »und«.

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