Körpergröße: Werden wir immer größer?

An seinem dritten Geburtstag beschloss Oskar Matzerath, nicht mehr zu wachsen. Ein reifer Verstand in einem Kinderkörper. Ein kleiner Junge, der sich weigert, in die Erwachsenenwelt einzutreten. So präsentiert Günter Grass seinen Protagonisten im Roman »Die Blechtrommel«. Bei aller Skepsis gegenüber Büchern, die man im Schulunterricht lesen musste – Oskar Matzerath fasziniert bis heute. Insbesondere seine Methoden, sich trotz fehlender Körpergröße Gehör zu verschaffen: ein knapper Meter groß, eine Blechtrommel und ein Schrei, der Glas zerspringen lässt.
Außergewöhnliche Körpergrößen haben schon immer die Fantasie der Menschen beflügelt. Märchen erzählen von den sieben Zwergen und von Riesen, die Bohnenranken hinunterklettern; Fantasy-Romane berichten von kleinwüchsigen Hobbits und baumgroßen Ents; selbst die Bibel lässt David gegen den gewaltigen Goliath kämpfen.
Ein Blick auf die reale Welt zeigt: Auch hier gibt es kleine und große Individuen. Doch natürlich ist die Spanne nicht so extrem wie in den fantastischen Geschichten. Wie groß jemand ist, hängt unter anderem davon ab, wo er lebt: So sind Niederländer mit rund 184 Zentimetern die weltweit im Schnitt größten Menschen, gefolgt von Männern aus Montenegro, Estland und Island. Frauen aus Südostasien, etwa in Osttimor und Laos geboren, sind mit 153 Zentimetern die kleinsten. Deutschland findet sich in der Liste der Körperlängen auf dem 19. Platz von 195: Im Schnitt sind Männer hier zu Lande 180 Zentimeter groß, Frauen bringen es auf 166 Zentimeter.
Wachsen in Rekordzeit
Körpergrößen können also sehr unterschiedlich sein. Dabei beginnen wir alle auf die gleiche Art und Weise, geradezu winzig, nämlich als rund 0,1 Millimeter kleine Eizelle, die in der Regel irgendwo auf dem Weg zwischen Eierstock und Gebärmutter von einem noch kleineren Spermium befruchtet wird.
Ab da heißt es wachsen, wachsen, wachsen: In den 38 Schwangerschaftswochen legt der ursprüngliche Einzeller das 5000-Fache seiner Ursprungslänge zu: 50 Zentimeter groß ist ein Neugeborenes im Schnitt. So schnell wie im Mutterleib wächst ein Mensch nie wieder in seinem Leben. In den ersten Jahren nach der Geburt folgen die nächsten großen Wachstumsphasen. Der dritte Wachstumsschub kommt in der Pubertät: bei Mädchen zwischen 10 und 16 Jahren, bei Jungen rund zwei Jahre später.
Welche Größe wir im Erwachsenenalter erreichen, bestimmt nicht zuletzt das Erbgut. Früher schätzte man den genetischen Einfluss auf 80 Prozent, heute noch auf 40 bis 50 Prozent. Mittlerweile weiß man, dass es hunderte assoziierte Gene mit mehr als 12 000 Variationen gibt, die etwa die Knorpel- und Knochenbildung oder den Eintritt in die Pubertät beeinflussen.
»In den letzten drei Millionen Jahren haben wir einen bemerkenswerten Sprung gemacht«Manuel Will, Archäologe und Paläoanthropologe
»Gene spielen eine große Rolle«, sagt Manuel Will. Vereinfacht gesagt: »Größere Eltern haben im Durchschnitt größere Kinder.« Der Archäologe und Paläoanthropologe erforscht an der Universität Tübingen unter anderem, wie sich Menschen seit ihren ersten Schritten auf dieser Erde verändert haben. »In den letzten drei Millionen Jahren haben wir einen bemerkenswerten Sprung gemacht.« Unser direkter Vorläufer Australopithecus maß noch kaum 130 Zentimeter vom Zeh bis zum Scheitel. Ein größerer Körper scheint für den Menschen also Vorteile zu bieten. Hier lohne sich ein Blick in die Tierwelt: Viele Tiere wählen Partner, die den Nachwuchs schützen oder »gute Gene« weitergeben. Die Fitness zeigt sich etwa durch ein eindrucksvolles Geweih, schillerndes Gefieder – oder eben die Körpergröße. »Auch wir sind Tiere«, sagt Will. »Diese evolutionäre Vorliebe scheint noch im Menschen zu existieren.«
Das bestätigt auch die Forschung, die sich mit der Neuzeit beschäftigt: Große Männer profitieren von ihrer überdurchschnittlichen Körperhöhe. Sie sind im Job erfolgreicher und verdienen mehr als kleinere Geschlechtsgenossen. Aber haben sie mehr Erfolg bei den Frauen? Und wie sieht es umgekehrt bei der Partnerwahl aus?
Auffällig ist, dass Männer durch alle Kulturen größer sind als Frauen, im Schnitt 12 Zentimeter. Auch das war wohl schon früher so: »Bei Australopithecus war der Größenunterschied zwischen männlichen und weiblichen Exemplaren mit bis zu 40 Zentimetern sogar noch viel deutlicher«, sagt Will. »Über die Evolution sehen wir bei der Gattung Homo bis heute, dass sich die Größen der Geschlechter immer wieder annähern, sich aber nie angleichen.« Warum, bleibt unklar. Interessanterweise bevorzugen Männer nämlich kleinere Frauen, Frauen ihrerseits größere Männer.
Vor 200 Jahren waren Europäer im Schnitt 165 bis 170 Zentimeter groß. Weltweit, vor allem aber in Europa, nahm die durchschnittliche Körpergröße seitdem stetig zu. Für diesen bemerkenswerten Wachstumsschub reichen die Gene als Erklärung allein nicht aus. Denn deren Anpassung würde deutlich länger dauern. Evolution denkt in Jahrtausenden und Jahrmillionen.
Der Bauplan der Körpergröße
Fachleute sind sich einig, dass viele Faktoren beeinflussen, wie groß wir werden. Ein noch relativ neuer Blick geht zur Epigenetik, also bestimmten Prozessen im Körper, die steuern, welche Gene abgelesen werden und welche nicht. Ein Beispiel sind DNA-Methylierungen, die durch unsere Umgebung beeinflusst werden. Die Muster, die dabei entstehen, können wir sogar vererben. Chinesische Forscher fanden 2024 mehr als 11 000 Stellen im Genom, die mit der Körpergröße zusammenhängen. Mehr noch: Sie sagen, dass anhand dieser epigenetischen Muster die Größe eines Menschen vorhergesagt werden kann.
Auch können Umwelteinflüsse direkt steuern, ob und wie viel wir wachsen. Menschen weltweit – vor allem jedoch im globalen Norden – haben heutzutage Zugang zu sauberem Wasser und ausreichend Nahrung. Selbst einzelne Nahrungsmittel, etwa Milch mit ihrem hohen Gehalt an Proteinen und Kalzium, können einen Unterschied machen. Ein Beispiel dafür liefern südafrikanische Hirtenvölker, die ihren Energiebedarf zu bis zu 80 Prozent mit Kuh-, Ziegen- und Schafsmilch decken: Die Turkana-Nomaden sind mit 1,74 Metern bei Männern und 1,61 Metern bei Frauen im Vergleich zu anderen Hirtenvölkern groß.
Eine gute Gesundheitsvorsorge trägt ebenso zum Körperwachstum bei. So senken Impfungen und Medikamente das Risiko, schwer zu erkranken. Schwangere und Babys profitieren von umfassender Vor- und Nachsorge rund um die Geburt. Wir wissen: Leiden Säuglinge und Kleinkinder unter Atemwegs- oder Magen-Darm-Erkrankungen, zehrt das an ihren kleinen Körpern. Möglicherweise beeinträchtigt auch unbehandelter Diabetes Typ I das Längenwachstum von Kindern. Krankheiten fressen Energie, die dann zum Wachsen fehlt. Jugendliche können diese Wachstumsverzögerung wieder aufholen, wenn sich die Bedingungen verbessern, sprich: wenn die Krankheit behandelt wird und es ausreichend Nahrung gibt. Nach langen Hungerperioden, Kriegen oder Zeiten schwerer körperlicher Arbeit bleiben Menschen jedoch häufig kleiner.
»Wer groß ist, wird als kompetent und dominant wahrgenommen«Christiane Scheffler, Humanbiologin
Menschen streben nach höherem Status
Einen anderen Ansatz verfolgt die Humanbiologin Christiane Scheffler. Sie interpretiert unser Größenwachstum als Streben nach Status und Prestige – und als Privileg oberer sozialer Schichten. »Die Körperhöhe ist ein Signal an die Gruppe, also an Mitmenschen im direkten Umfeld«, sagt Scheffler, die an der Universität Potsdam soziokulturelle Phänomene erforscht. Wer groß sei, werde als kompetent und dominant wahrgenommen. Und Menschen würden stets versuchen, einen höheren sozialen Status zu erreichen. Die Humanbiologin spricht von »strategischer Wachstumsanpassung«.
Scheffler ist daher überzeugt, dass das Körperwachstum nur bedingt von materiellen Faktoren wie Ernährung oder medizinischer Versorgung abhängt. Sie verweist auf das Jahr 1861, als in Russland die Leibeigenschaft endete: »Plötzlich wurden die Bauern und die armen Leute größer, obwohl sie mit Sicherheit die gleichen Kartoffeln und den gleichen Getreidebrei gegessen haben wie zuvor.«
Solche Wachstumstrends fallen nach dieser These häufig in Zeiten des Umbruchs – etwa während Revolutionen und Bürgerkriegen –, wenn sich das soziale Gefüge ändert und das manchen bisher Unterdrückten den sozialen Aufstieg ermöglicht.
Klimakrise und die Körpergröße der Zukunft
Werden wir also immer größer, weil sich unsere Lebensbedingungen verbessern? Nein, wissen wir inzwischen mit einem Blick auf die europäischen »Riesen«. Niederländische Kinder überragen ihre Eltern heute nicht mehr. Männer, die 2001 geboren sind, sind im Schnitt einen Zentimeter kleiner als jene, die 1980 zur Welt kamen. Frauen »schrumpften« im selben Zeitraum sogar um 1,4 Zentimeter.
Warum das so ist, ist unklar. Denn weder Ernährung noch Gesundheitsvorsorge sind merklich schlechter geworden. Möglicherweise liegt es aber an einem Zuviel des Guten. Vor allem in den Industriestaaten nehmen Zivilisationskrankheiten wie starkes Übergewicht zu, so auch in den Niederlanden. Allein zwischen 1980 und 2023 verdreifachte sich der Anteil der Erwachsenen mit Adipositas. Das erhöht das Risiko, im Erwachsenenalter an Diabetes Typ II zu erkranken oder einen Schlaganfall zu erleiden. Möglicherweise stellt dies die Weichen für nachfolgende Generationen.
Zudem haben überdurchschnittlich große Personen auch Nachteile. Sie leiden etwa häufiger unter Knie- und Rückenproblemen und haben ein erhöhtes Krebsrisiko. Denn je größer der Körper, desto mehr Zellen können entarten und sich zu Tumoren entwickeln.
Kleine Menschen haben hingegen durchaus Vorteile: Sie verbrauchen weniger Kalorien und benötigen damit weniger Nahrung als größere Altersgenossen. In den meisten Gesellschaften, in denen es genug Lebensmittel gibt, ist dies kein relevanter Faktor. Doch Krisenzeiten gab es in den vergangenen 200 Jahren immer wieder – und es wird sie auch künftig geben.
Wir leben bereits in einer der größten Krisen der Menschheit: der Klimakrise. Der Tübinger Manuel Will und sein Team erforschen, wie sich die Temperatur der Erde auf die Körper- und Gehirngröße der Gattung Homo während der letzten Million Jahre auswirkte. »Wir wissen aus Studien, die wir gemeinsam mit Klimamodellierern gemacht haben, dass Homo erectus in tropischem Klima lebte und vergleichsweise leicht war«, sagt der Paläoanthropologe. Je weiter die Vorfahren des heutigen Menschen nach Norden wanderten, umso massiger wurden sie.
Solche Beobachtungen erinnern an die bereits 1847 beschriebene bergmannsche Regel: Der Humboldt-Pinguin an Südamerikas Küsten ist mit 65 Zentimeter Körperlänge nur halb so groß wie der Kaiserpinguin, der über antarktisches Packeis watschelt. Die Regel basiert auf purer Physik: Ein Pinguin mit viel Körpermasse produziert mehr Wärme. Zugleich ist die Oberfläche seines Körpers im Verhältnis zur Masse geringer als die eines kleineren Vogels. Je niedriger das Oberflächen-Volumen-Verhältnis, desto geringer der Wärmeverlust. Die Regel gilt für die meisten gleichwarmen Tiere und in gewissem Rahmen auch für uns Menschen.
»Für eine Anpassung des heutigen Menschen an den massiven Wandel ändert sich das Klima zu schnell«Manuel Will, Archäologe und Paläoanthropologe
Allerdings: »Für eine Anpassung des heutigen Menschen an den massiven Wandel ändert sich das Klima zu schnell«, sagt Manuell Will. Schließlich lägen die Generationszeiten bei 25 bis 30 Jahren. Studien mit kurzlebigeren Tierarten zeigen jedoch, dass sie sich sehr wohl anpassen. »Wir sehen, dass Tiere leichter werden, Schnäbel wachsen oder Fische kleiner werden«, sagt Will.
Ob nun aber die Klimakrise die Menschen direkt wieder kleiner werden lässt, bezweifelt der Forscher nicht nur wegen der vergleichsweise langen Anpassungszeiträume. »Ich würde erwarten, dass indirekte Folgen des Klimawandels wie Hunger und gesundheitliche Probleme stärker wiegen als Hitze und Trockenheit.«
Einig scheinen sich Forscherinnen und Forscher insofern zu sein, dass nichts in Stein gemeißelt ist: »In Bezug auf Körpergröße und Morphologie ist der erwachsene Mensch […] eine anpassungsfähige Summe von Entwicklungsschritten auf dem Weg zur Reife«, schreibt etwa der US-amerikanische Anthropologe Michael Little in seinem 2020 veröffentlichten Aufsatz »Evolutionary Strategies for Body Size«.
Man müsse nur einmal die großen Schwankungen der Körperlänge global, in unterschiedlichen Kulturen, ja sogar in einzelnen Familien betrachten, ergänzt Will. Die Evolution habe nicht festgelegt: »Der Mensch soll so und so groß sein.« Es gebe Möglichkeitsfenster, wie der Paläoanthropologe sie nennt. »Dieses Fenster kann in einer Familie vielleicht 1,80 Meter betragen«, sagt er. Das hieße aber nicht, dass alle Kinder auch wirklich 1,80 Meter groß werden. Verschiedene Faktoren schließen – jeder für sich – das Fenster Spalt um Spalt, andere öffnen es wieder.
Am Ende entscheidet das Zusammenspiel genetischer, ökologischer, sozialer und ökonomischer Komponenten, wie groß ein Mensch wird. Das letzte Wort haben dabei die Gene. Ein Jugendlicher kann sich noch so hohe Ziele stecken, das Kind noch so gut ernährt sein. Wenn der Stammbaum dieser Person voller kleiner Menschen ist, wird sie mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auch eher klein bleiben.
Extrem groß, extrem klein
Menschen gelten als kleinwüchsig, wenn sie kleiner als 1,50 Meter sind. Die Inderin Jyoti Kisanji Amge ist mit 62,8 Zentimetern der kleinste lebende Mensch der Welt. Ihre Kleinwüchsigkeit beruht auf Achondroplasie, der häufigsten genetischen Ursache für Kleinwuchs. Diese hemmt das Wachstum der langen Röhrenknochen und verkürzt die Gliedmaßen. Eine weitere Ursache für sehr geringe Körpergröße kann hypophysärer Kleinwuchs sein, bei dem die Hirnanhangdrüse zu wenig Wachstumshormone produziert. Auch Unterernährung oder chronische Krankheiten können das Wachstum hemmen, ebenso seltene Störungen im Knochenstoffwechsel, wie die Glasknochenkrankheit (Osteogenesis imperfecta), oder Skelettfehlbildungen wie bei Skelettdysplasien.
Extrem große Menschen sind mehr als 2,10 Meter groß. Der Türke Sultan Kösen ist mit 2,51 Metern der größte Mensch der Welt. Sein Gigantismus resultiert aus einem gutartigen Hypophysentumor, der die Ausschüttung von Wachstumshormonen steigert und das Körperwachstum fördert. Seit der Entfernung des Tumors bleibt seine Körpergröße unverändert. Neben Tumoren können auch genetische Faktoren außergewöhnliche Größe verursachen. Das Sotos-Syndrom (zerebraler Gigantismus) oder das Marfan-Syndrom, das mit langen Gliedmaßen und überdurchschnittlicher Körpergröße einhergeht, sind Beispiele dafür.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.