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Kognition: »Es geht auch ohne Großhirnrinde«

Stellt das menschliche Gehirn die Vollendung der Evolution dar? Ein Gespräch mit dem Psychologen Onur Güntürkün über Fehlannahmen in den Neurowissenschaften und darüber, wie sich Kognition über Millionen von Jahren entwickelte.
Schematische Zeichnung eines menschlichen Gehirns
Lange Zeit hieß es, höhere Kognition sei ohne Großhirnrinde nicht möglich – eine Struktur, die im menschlichen Gehirn viel Raum einnimmt. Doch Vögel sind auch ohne einen solchen Neokortex zu erstaunlichen Leistungen fähig.

Herr Güntürkün, auf einer Konferenz im Sommer 2024 begannen Sie Ihren Vortrag mit einem Foto aus dem Berliner Naturkundemuseum – einem Ihrer Lieblingsorte, wie Sie sagten. Was fasziniert Sie daran?

Die Vielfalt! In dem Diorama, das ich für die Präsentation fotografiert habe, sind etwa 3000 Tiere ausgestellt, und jedes sieht anders aus. Ich habe mir früher immer vorgestellt, dass jede Tiergruppe eine ganz eigene innere Welt besitzt. Inzwischen glaube ich, dass wir und andere Spezies viel ähnlicher denken, als zumindest ich das bisher angenommen habe.

Wieso glauben Sie das?

Trotz ihrer zum Teil sehr unterschiedlichen Gehirne nutzen verschiedene Tierarten offenbar ganz ähnliche Herangehensweisen zum Lösen von Problemen. Das ist mir durch meine Forschung an diversen Spezies bewusst geworden.

Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit der Kognition von Vögeln. Was ist das Besondere an ihnen?

Sie sind einerseits stammesgeschichtlich sehr weit von uns entfernt, andererseits aber kognitiv überraschend leistungsfähig. Und das, obwohl sie völlig andere Gehirne haben als wir. Das macht sie sehr spannend. Ich glaube, dass wir die Grundlagen unseres eigenen Denkens nur verstehen können, wenn wir uns Tiere ansehen, die sich anatomisch stark von uns unterscheiden.

Onur Güntürkün | Der Psychologe und Hirnforscher ist Professor für Biopsychologie an der Ruhr-Universität Bochum. Dort erforscht er mit seiner Arbeitsgruppe die physiologischen Korrelate der Kognition. Er arbeitet sowohl mit menschlichen Versuchspersonen als auch mit verschiedenen Tierarten, darunter mit Vögeln wie Elstern und Tauben, sowie mit Delfinen und sogar Krokodilen.

Wieso das?

Je mehr die Organismen, die wir untersuchen, uns ähneln, desto eher kommen wir zu der vermutlich falschen Schlussfolgerung, dass nur eine ganz bestimmte Art von Gehirn mit ganz bestimmten Prozessen diese Form von Kognition ermöglicht. Um das zu überprüfen, müssen wir uns in der Stammesgeschichte weit vom Menschen wegbewegen. Dazu eignen sich Vögel sehr gut, weil sie phylogenetisch gesehen 324 Millionen Jahre von uns entfernt sind.

»Spatzenhirn« sagt man zu jemandem, den man für dumm hält. Vögel haben zwar ein sehr kleines Gehirn, können aber trotzdem Erstaunliches leisten. Was zum Beispiel?

Es gibt Kakadus in Australien, die eine Technik entwickelt haben, mit der sie Mülltonnen öffnen. Daraus ist eine richtige Kultur entstanden, die sich über weite Regionen ausgebreitet hat. Mittlerweile gibt es einen regelrechten Kulturkampf zwischen Menschen und Kakadus, weil die Hausbesitzer sich immer wieder neue Tricks ausdenken müssen, wie sie ihre Mülltonnen sichern. Die Papageien reagieren dann mit neuen Variationen ihrer eigenen Künste. Manche Vögel sind zudem in der Lage, sich im Spiegel zu erkennen, andere stellen Werkzeuge her. Diese Tiergruppe kann allgemein unglaublich schnell und effizient kategorisieren. So lassen sich Tauben beispielsweise darauf trainieren, Krebszellen in histologischen Schnitten zu identifizieren.

Wie bringt man ihnen das bei?

Man zeigt ihnen Schnitte von gesundem und mit Krebszellen befallenem Gewebe. Die Tiere dürfen immer nur auf eines der beiden Bilder picken. Anfangs sind sie ahnungslos, worum es geht. Sie picken wahllos herum, erhalten aber immer dann eine Belohnung, wenn sie durch Zufall eine Probe mit Krebszellen berühren. Nach einer Weile werden die Tiere immer besser darin, die gewünschten Bilder zu erkennen. Irgendwann erreichen sie sogar ein Niveau, das in etwa dem eines ausgebildeten Pathologen entspricht.

»Solange wir immer nur Tiere mit Neokortex untersuchen, kommen wir zu dem Schluss, dass es ohne nicht geht«

Tauben, die die Arbeit eines Pathologen übernehmen – das wertet den Job ziemlich ab.

Natürlich beherrschen die Mediziner noch die gesamte wissenschaftliche Theorie dazu und können die Befunde fachlich einordnen. Wenn es allerdings rein um das Erkennen von bösartigen Zellen geht, kommt es auf das visuelle Formgedächtnis an. Und das ist bei Vögeln besonders leistungsfähig. Sie können zum Beispiel auch lernen, kubistische von impressionistischen Gemälden zu unterscheiden. Sie generalisieren derartiges Wissen schnell und übertragen es auf weitere Gemäldetraditionen. Zeigt man den Vögeln anschließend eine Reihe von Bildern aus anderen Epochen, gruppieren sie diese ähnlich, wie wir es beispielsweise in Museen machen würden. Nur dass wir das meist theoriebasiert tun und sie ausschließlich auf Grund von visuellen Merkmalen.

Sie haben Tauben sogar Englisch beigebracht. Wie das?

Wir haben die Vögel darauf trainiert, richtig und falsch geschriebene englische Wörter zu unterscheiden. Das gelang ihnen auf einem recht hohen Niveau. Sie waren zwar keine Einserkandidaten, wären damit aber zumindest durch die Grundschule gekommen – mit der Einschränkung, dass es sich ausschließlich um Wörter mit vier Buchstaben handelte.

Schlauer Vogel | Eine Nebelkrähe (Corvus cornix) bearbeitet mit ihrem starken Schnabel eine Walnuss. Zuvor hat sie die Nuss von einem Baum aus auf die Pflastersteine fallen lassen, damit die Schale aufspringt. Weltweit benutzen Krähen in Städten diesen Trick.

Im Studium habe ich noch gelernt, für höhere Kognition brauche man eine Großhirnrinde. Vögel haben eine solche Hirnstruktur allerdings gar nicht in der Form wie wir. Ist sie doch nicht nötig?

Ganz offensichtlich geht es auch ohne Großhirnrinde. Solange wir immer nur Tiere mit Neokortex untersuchen, kommen wir zu dem Schluss, dass es ohne nicht geht. Aber wie wir an den Vögeln sehen, ist er für komplexe Denkprozesse nicht unbedingt nötig. Es war falsch, ausschließlich auf ihn zu setzen.

Womit denken Vögel stattdessen?

Das funktionelle Äquivalent zu unserem Präfrontalkortex, also zu der Region, die uns komplexes Denken ermöglicht, ist bei Vögeln das Nidopallium caudolaterale, abgekürzt NCL. Das Unglaubliche daran ist, dass sich die beiden Strukturen unabhängig voneinander entwickelt haben. Sie müssen sich vorstellen, dass vor 324 Millionen Jahren zwei Gruppen von Lebewesen offensichtlich unter einem ähnlich großen Selektionsdruck standen, ein Hirnareal zu entwickeln, das höhere Kognition ermöglicht. Es musste eine gewisse Architektur aufweisen, die Neurochemie musste auf eine ganz bestimmte Art und Weise beschaffen sein, die Nervenzellen brauchten eine spezielle Verschaltung, und so weiter. Und das ist tatsächlich unabhängig voneinander bei Vögeln und Säugetieren passiert: Das Rad wurde mehrmals neu erfunden. Bei uns in einer kortikalen Form, als Großhirnrinde, bei Vögeln in einer nichtkortikalen Form, als NCL. Man kann demnach die gleiche Funktionalität in einem ganz anderen dreidimensionalen Design realisieren.

»Die Orcas, die hin und wieder eine Jacht versenken, sind zwar in dem Moment für den Kapitän eine Gefahr, aber grundsätzlich sind wir ihnen geistig überlegen«

Sie haben vor ein paar Jahren entdeckt, dass Vögel doch einen Kortex besitzen, der ähnlich funktioniert wie unserer. Das ist verwirrend.

Allerdings! Sie nutzen ihn aber ausschließlich für die Sinneswahrnehmung, für nichts anderes. Und dafür eignet sich eine zweidimensionale, rindenartige Struktur ausgezeichnet. Nehmen wir mal das Beispiel des Sehsinns: In Ihrem Auge treffen jeden Augenblick Lichtsignale ein. Auf dessen Rückseite liegt die Netzhaut, die wie eine gespiegelte Karte der Umgebung organisiert ist. Alles, was sich zu Ihrer Linken befindet, wird im rechten Teil repräsentiert, alles, was oben ist, unten und umgekehrt. Die Netzhaut wird wiederum zweidimensional im Gehirn abgebildet, genauer gesagt im visuellen Kortex. Für andere Sinne gilt das Gleiche: Die Cochlea im Ohr etwa reagiert auf Frequenzbänder, die der Hörkortex topografisch verarbeitet. Und die Körperoberfläche ist als Karte im somatosensorischen Kortex repräsentiert. Wenn Vögel nichts Äquivalentes zu einem Kortex hätten, dann würden alle Sinneseindrücke dreidimensional, wie in einem Rührei vermengt, im Gehirn ankommen. Es wäre unglaublich aufwändig, das später wieder in seine Landkartenform zurückzurechnen.

Höhere Kognition funktioniert dagegen mit einer Rührei-Struktur?

Offenbar ja. Für sensorische Prozesse ist die topografische Architektur des Kortex ideal, weil man Sinnesreize immer im Raum verorten muss. Komplexe Denkprozesse klappen jedoch auch ohne Großhirnrinde, vielleicht sogar effizienter. Wie genau Vögel dafür ihren NCL nutzen, wissen wir nicht. Aber Studien deuten darauf hin, dass die einzelnen Neurone in dem Areal sehr ähnlich zusammenarbeiten wie jene in unserem Kortex.

Mehr als ein »Spatzenhirn« | Auf Grund der Winzigkeit des Vogelhirns trauten Neuroanatomen den gefiederten Tieren intellektuell wenig zu. Doch Vögel erwiesen sich als erstaunlich schlau. Die Evolution schuf bei ihnen eine andere Hirnarchitektur als bei Säugetieren, die ähnlich hohe kognitive Leistungen ermöglicht. Wie Primaten besitzen Vögel ein Gehirn mit sensorischen und kognitiven Verarbeitungszentren – allerdings in anderen Arealen. So dient das Nidopallium caudolaterale (NCL) im hinteren Bereich des Gehirns als Integrationsstation für das sensorische, das limbische und das motorische System. Es entspricht damit funktionell dem präfrontalen Kortex (PFC) der Primaten.

Wenn die Hirngröße allein nicht entscheidend ist für die Intelligenz eines Tiers, was ist es dann?

Am Beispiel der Vögel kann man erkennen, dass die Zahl der Nervenzellen eine Rolle spielt. Vögel besitzen sehr viel mehr Neurone, als man auf Grund ihrer Hirngröße vermuten würde. Diese sind zwangsläufig dichter gepackt. Es gibt Kollegen, die behaupten, die absolute Neuronenzahl sei entscheidend. Dann müssten wir uns in puncto Intelligenz aber geschlagen geben gegenüber einigen Zahnwalen. Das kann nicht sein. Die Orcas, die hin und wieder eine Jacht versenken, sind zwar in dem Moment für den Kapitän eine Gefahr, doch grundsätzlich sind wir ihnen geistig überlegen, obwohl sie sehr viel mehr Nervenzellen besitzen als wir. Ich glaube, es kommt neben vielen anderen Faktoren vor allem auf die relative Hirngröße an: Wie groß ist mein Gehirn im Verhältnis zum Körper? Da stehen Menschen und Vögel sehr gut da. Und bei Vögeln kommt noch etwas hinzu: Sie investieren den Großteil ihrer Nervenzellen in jene Hirnbereiche, die für die Kognition zuständig sind. Vor allem bei Krähen und Papageien sind es teils 60 bis 70 Prozent. In unserem Gehirn sitzen nur knapp 20 Prozent aller Neurone im Kortex, der Rest liegt woanders. Offenbar haben Vögel im Lauf der Evolution enorm viel in kognitive Prozesse investiert. Um fliegen zu können, musste ihr Gehirn klein bleiben. Im Gegenzug haben sie die Nervenzellen miniaturisiert und die meisten von ihnen kognitiv relevanten Regionen gewidmet.

Sie sagten in Bezug auf die Kognition: »Das Rad wurde mehrmals neu erfunden.« Nun besteht ein Rad aus mehreren Einzelteilen: Mantel, Felge et cetera. Auch das Denkvermögen beruht auf verschiedenen Fähigkeiten. Wurde all das von Grund auf identisch neu entwickelt?

Wir wissen natürlich nicht, wie die Evolution der Kognition genau vonstattenging, da es dafür keine fossilen Spuren gibt. Doch es sieht ganz so aus, als liefen Lern- und Kognitionsprozesse in der Tierwelt nach nahezu den gleichen Regeln ab. Das Arbeitsgedächtnis ist ein gutes Beispiel – also die Fähigkeit, sich verschiedene Dinge gleichzeitig zu merken. Je mehr man sich merken will, desto schlechter funktioniert es, und je intensiver man über einzelne Punkte einer To-do-Liste nachdenkt, desto besser prägt man sich diese ein. Ich könnte einen ganzen Katalog von Eigenschaften auflisten, die typisch sind für unser Arbeitsgedächtnis. Sie sind aber auch typisch für das Arbeitsgedächtnis anderer Säugetiere und der Vögel. Das Gleiche gilt für das Langzeitgedächtnis, für Lernprozesse und so weiter.
Dennoch wäre es unsinnig zu behaupten, dass alle Tiere über die gleichen kognitiven Fähigkeiten verfügen. Je komplexer die Aufgabe ist, desto mehr Nervenzellen werden benötigt. Deshalb kann es sein, dass Tiere mit weniger Neuronen dazu nicht in der Lage sind. Man kann sich die kognitiven Fähigkeiten vorstellen wie Schatzkästchen, die hierarchisch nach ihrer Komplexität angeordnet sind. Sobald das Gehirn im Lauf der Evolution ausreichend Rechenkapazitäten entwickelt hat, öffnet sich das nächste Kästchen – und das Tier verfügt über die entsprechende Fähigkeit.

Welches Schatzkästchen befände sich in dieser Hierarchie ganz oben?

Was sehr anspruchsvoll ist und worin wir Menschen sehr gut sind, ist das Vermögen, sich in andere hineinzuversetzen. In der Fachwelt nennt man das »Theory of Mind«. Während wir uns unterhalten, kann ich mir zum Beispiel vorstellen, was in Ihnen gerade vorgeht. Vielleicht wird Ihnen langweilig, wenn ich zu ausschweifend antworte; vielleicht denken Sie sich gerade die nächste Frage aus oder überlegen, was Sie heute noch alles zu tun haben. Möglicherweise liege ich mit meinen Annahmen falsch, doch ich habe die prinzipielle Fähigkeit, mich in Sie hineinzuversetzen. Viele Tiere können das nicht.

Tun es diejenigen Tiere, die das können, alle auf eine ähnliche Art und Weise?

Theory of Mind ist nicht das beste Beispiel, weil wir nur sehr wenig darüber wissen. Aber ja, ich gehe davon aus, dass Tiere, die dazu in der Lage sind, ganz ähnlich denken und diese Funktion im Gehirn auch ähnlich implementieren. Sie brauchen vergleichbare Schaltkreise und vergleichbare Algorithmen, denn es gibt wahrscheinlich nicht viele Möglichkeiten, um die Theory of Mind mit all ihren Eigenschaften zu realisieren. Das kann in völlig unterschiedlichen Hirnarealen passieren, doch die Funktionsweise muss sich ähneln. Übertragen auf das Bild des Rads: Vermutlich kamen verschiedene Kulturen zu dem Schluss, dass es rund sein muss und eine Achse benötigt. Anfangs war es extrem schwer, so dass Tiere und Menschen es kaum bewegen konnten. Wenn man den Durchmesser nicht reduzieren möchte, kommt man also schnell auf die Idee, an der Fläche einzusparen – und so entstanden Speichen. Plötzlich traten also mehrere Kulturen mit ganz ähnlichen Rädern auf die Weltbühne.

»Ein großes, schweres Gehirn scheint, zumindest was die Kognition angeht, keinen Vorteil zu bieten«

Verfügen Vögel über eine Theory of Mind?

Ich glaube, dass sich zum Beispiel Raben bis zu einem gewissen Grad in Artgenossen hineinversetzen können.

Woran machen Sie das fest?

Raben verstecken gerne ihr Futter. Sie fressen so lange, bis sie satt sind, und bewahren den Rest auf. Sie achten sehr genau darauf, beim Verstecken nicht beobachtet zu werden, denn sie klauen auch gerne. Bemerken sie, dass ein Artgenosse ihnen zugesehen hat, hängt ihre Reaktion davon ab, in welcher hierarchischen Position sich der andere zu ihnen befindet. Steht der andere in der Rangordnung unter ihm, belässt der Rabe das Futter in dem aufgeflogenen Versteck. Er weiß nämlich genau, dass der andere sich niemals trauen würde, es zu klauen, da er sonst verprügelt würde. Wird der Rabe hingegen von einem höhergestellten Tier beobachtet, frisst er das Futter schnell auf. Denn ihm ist klar, dass der Zuschauer keine Scheu hätte, das Versteck zu plündern. Wie soll ein Vogel dazu in der Lage sein, wenn er die Welt nicht aus den Augen des Artgenossen sehen könnte?

Warum haben Primaten ein so großes und schweres Gehirn, wenn es auch kleiner und leichter geht? Schließlich verbraucht es viel Energie.

Das ist eine Frage, die mich nachts wach hält. Ein großes, schweres Gehirn scheint, zumindest was die Kognition angeht, keinen Vorteil zu bieten. Das Erschreckende ist: Es gibt potenziell ein besseres Hirndesign für komplexes Denken als unseres. Vielleicht haben Primaten einfach nie den Selektionsdruck zur Miniaturisierung gehabt. Man muss natürlich fair sein und sagen: Kein Vogel kommt an unsere kognitiven Leistungen heran. Allerdings an die eines Schimpansen. Dabei wiegt das Gehirn einer Krähe nur etwa zehn Gramm, das eines Schimpansen dagegen stolze 400 Gramm. Ein Teil des Mehrgewichts geht möglicherweise für die Steuerung der Hände drauf. Es gibt jedoch auch Säugetiere mit großem Gehirn, die keine Hände besitzen, sondern Hufe, und trotzdem Krähen und Papageien kognitiv weit unterlegen sind. Ein weiterer Teil dürfte für die Repräsentation der großen Körperoberfläche genutzt werden. Diese nimmt jeden Augenblick Millionen von Signalen auf, die alle verarbeitet werden müssen. Bei einem kleinen Tier sind es deutlich weniger. All das gleicht die Unterschiede aber nicht komplett aus. Das Vogelhirn ist ein Meisterwerk der Miniaturisierung – hier wurde fast alles auf kognitive Leistungsfähigkeit gesetzt. Das scheint ihre Überlebensstrategie gewesen zu sein.

Auch einige »niedere« Spezies wie Bienen haben erstaunliche Fähigkeiten. Braucht man für komplexe Kognition überhaupt ein solches Gehirn, wie Wirbeltiere es haben?

Irgendein Gehirn braucht man auf jeden Fall. Und ich glaube gar nicht, dass das Bienenhirn deutlich simpler ist als unseres. Für seine winzige Größe hat es erstaunlich viele Nervenzellen, etwa so viele wie unsere Netzhaut.

»Es gibt keinen IQ für Tiere. Man kann beispielsweise nicht sagen, ein Hund ist schlauer als eine Katze«

Woran bemisst sich, wie intelligent ein Tier ist?

Es gibt keinen IQ für Tiere. Man kann beispielsweise nicht sagen, ein Hund ist schlauer als eine Katze. Denn die Spezies sind auf ganz unterschiedliche Dinge spezialisiert. Stattdessen können wir aber eine große Palette an kognitiven Merkmalen testen. Die erwähnte Beobachtung mit den Raben, die Futter verstecken, stammt aus einem Experiment zur Theory of Mind. Bei solchen Tests schneiden Krähen, Papageien und Menschenaffen sehr ähnlich ab.

Verschiedene Spezies benötigen unterschiedliche Fähigkeiten, um im Leben erfolgreich zu sein. Können die von Ihnen erwähnten Tests das überhaupt berücksichtigen?

Ich glaube schon, dass man dem bis zu einem gewissen Grad Rechnung tragen kann. Die meisten Tierarten hat man aber noch nie getestet. Wir stehen erst am Anfang dieser Entdeckungsreise. Es werden noch viele Tiere dazukommen, die uns in Erstaunen versetzen werden. Der Putzerfisch könnte ein solcher Kandidat sein. Er ist kognitiv unglaublich leistungsfähig und besitzt relativ zu seinem Körper ein ziemlich großes Gehirn.

Man sagt, Sprache ist ein exklusives Merkmal von Menschen. Nun gibt es immer neue Meldungen über Tiere, die eine ausgefeilte Lautkommunikation aufweisen – zuletzt über Elefanten, die einander mit namensähnlichen Lauten ansprechen. Überrascht Sie das?

Nein. So etwas Ähnliches gibt es auch bei Delfinen. Sie stoßen so genannte Signaturpfiffe aus. Wären wir Delfine und würden uns begegnen, dann würden Sie pfeifen »Anna, Anna, Anna« und ich würde entgegnen »Onur, Onur, Onur«. Elefanten können offenbar sogar die Signatur des anderen imitieren. Das überrascht mich alles nicht. Man muss jedoch bedenken, dass das keine Sprache ist! Es handelt sich dabei lediglich um gelernte Vokalisation, die in einen sozialen Kontext eingebettet ist, sich also immer auf ein anderes Individuum bezieht. Was Sprache auszeichnet, ist ihre syntaktische Struktur. Mit einem limitierten Bausatz von Worten kann ich eine unendliche Vielfalt an Inhalten codieren, indem ich sie jeweils unterschiedlich anordne. Dabei folgt die Anordnung einer festen grammatikalischen Struktur. Es gibt Hinweise darauf, dass Schimpansen und ein paar andere Spezies, darunter auch Vögel, über eine sehr primitive Form der Grammatik verfügen, eine Protogrammatik. Ihre Laute sind nicht zufällig angeordnet, sondern weisen eine gewisse Regelhaftigkeit auf. Aber das ist viel simpler als das, was wir gerade produzieren.

»Dass wir so schlau sind, hat durchaus etwas mit unserer Sprache zu tun«

Ist die Syntax vieler Tierlaute für uns vielleicht schlicht nicht erkennbar? Dass Elefanten ihre Artgenossen mit Namen ansprechen, hat man mit Hilfe künstlicher Intelligenz herausgefunden.

Sie haben Recht: Bestimmte Lautmuster können wir nur mit Hilfe moderner Technik entschlüsseln. Und dann gibt es natürlich noch viele andere Formen der Kommunikation, etwa Gebärdensprache oder die Bewegungsmuster von Tänzen. Einige Vogelarten führen komplexe Balztänze auf, die einer festen Choreografie folgen und damit ein definiertes Signal an den Partner senden. Es werden sehr viel mehr Varianten von Austausch existieren, die wir alle noch nicht kennen. Ob wir aber ein Lebewesen entdecken, das über eine Syntax und Wortvielfalt verfügt, die auch nur ansatzweise an unsere herankommen, bezweifle ich. Ich denke, das hat etwas mit der Komplexität unseres Gehirns zu tun. Wir haben rund 86 Milliarden Nervenzellen im Gehirn, und jede ist über rund 10 000 Synapsen mit anderen Neuronen verknüpft. Solch ein gigantisches Netzwerk braucht man wahrscheinlich, um die vielen Worte abzuspeichern, sie zu konjugieren, zu deklinieren und in eine Satzfolge einzubauen.
Unser Sprachsystem ist sicherlich nicht vom Himmel gefallen. Das menschliche Gehirn ist im Lauf der Evolution enorm gewachsen. Dabei haben wir das Netzwerk für die Protovokalisation, das wir von unseren Urahnen geerbt haben, weiterentwickelt, was unser Denken enorm geschärft hat. Dass wir so schlau sind, hat durchaus etwas mit unserer Sprache zu tun.

2015 haben Sie in einem Interview mit der »Zeit« gesagt: »Wenn es so etwas gibt wie ein Forschungsprogramm in meinem Leben, dann ist es, eine mechanistische Erklärung für das Denken zu suchen.« Haben Sie mittlerweile, zehn Jahre später, eine solche gefunden?

Ich bin nach wie vor auf diesem Weg, und es geht voran. Weil ich versuche, allgemeine Mechanismen des Denkens zu identifizieren, arbeite ich sowohl mit Menschen als auch mit vielen verschiedenen Tieren: neben Vögeln beispielsweise auch mit Delfinen und Krokodilen. Mein Team, insbesondere mein ehemaliger Postdoc Erhan Genç, der inzwischen Professor an der TU Dortmund ist, hat mit einer unglaublichen Vielfalt an Tests und Fragenkatalogen die Denkfähigkeit und das Wissen von vielen hundert Menschen analysiert und mit zahlreichen neuronalen Maßen verknüpft. Ich glaube, wir haben damit die genaueste Repräsentation dessen identifizieren können, was Intelligenz beim Menschen ausmacht.

Was ist Ihr Fazit daraus?

Wir haben zwar unzählige Mechanismen und Korrelate entdeckt. Doch sämtliche neuronalen Maße, die wir erhoben haben, können wahrscheinlich kaum 20 Prozent der Intelligenz und des Wissensschatzes eines Menschen erklären. Die restlichen 80 Prozent bleiben nach wie vor unentdeckt. Das Rätsel, was uns schlau macht und wo im Gehirn unser Wissen wirklich steckt, ist also bei Weitem noch nicht gelöst. Der Weg dahin ist mühsam, aber wir kommen voran!

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