Konflikte meistern: Ein Toolkit für schwierige Gespräche
Sarah Pohl ist promovierte Erziehungswissenschaftlerin und leitet die Zentrale Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen in Baden-Württemberg (ZEBRA-BW). Dort berät sie Angehörige von Menschen, die an Verschwörungserzählungen glauben, hilft Sektenanhängern beim Ausstieg und berät Paare, deren Glück politische Konflikte im Weg stehen. Im Interview erzählt sie, welche Tipps ihren Klientinnen und Klienten am meisten helfen.
Frau Pohl, manch einer verdreht schon beim Gedanken an den leidigen Besuch des schrägen Onkels die Augen. Sie setzen sich täglich mit Menschen auseinander, die vehement für schwierige Meinungen eintreten. Lieben Sie Konflikte?
(lacht) Ich finde es spannend, die Dynamik von Konflikten zu verstehen. Und ich habe wenig Angst vor ihnen. Ganz ohne Konflikte funktionieren Beziehungen ja eigentlich auch nicht. Wenn wir konstruktiv mit Schwierigkeiten umgehen, können sie uns echt weiterbringen: Sie helfen uns dabei, Beziehungen nachzujustieren, und zwingen uns, eine Menge über den anderen und uns selbst zu lernen. Also: Irgendwo finde ich Konflikte schon gut, ja!
Gibt es trotzdem Situationen, in denen Sie mal die Geduld verlieren?
Was mich wirklich nervt, ist, wenn Menschen aufhören, allgemeine Gesprächsregeln zu beachten. Es ist ja in Ordnung, eine andere Meinung zu vertreten, aber wir müssen uns trotzdem gegenseitig ausreden lassen und respektvoll miteinander umgehen.
Wie gehen Sie damit um, wenn jemand ständig unterbricht?
Ich versuche dem Menschen deutlich zu machen, dass nicht seine Meinung das Problem ist, sondern dass er die anderen nicht ausreden lässt. Manchmal klappt das. Manchmal merkt man aber, dass die Person unter viel aufgestautem emotionalem Druck steht. Dann kann man trotzdem ein Angebot machen und zum Beispiel fragen: »Ich merke, dass Sie gerade nicht in der Lage sind, zuzuhören. Wie können wir es schaffen, dass Sie sich mehr gehört fühlen?« Das kann helfen, aber wenn jemand überhaupt nicht zugänglich ist, dann reißt auch mir manchmal der Geduldsfaden.
Viele Menschen empfinden es so, dass gerade Gespräche über politische Themen zunehmend schwierig werden. Mitunter fängt man an, sich zu meiden, was schade ist. Welche Tipps haben Sie für solche Begegnungen?
Man sollte sich zuallererst Gemeinsamkeiten bewusst machen, denn oft eint uns mehr, als uns trennt. Das kann alles Mögliche sein. Zum Beispiel ein gemeinsames Interesse für Literatur oder denselben Sport. Ich habe mal jemanden beraten, dessen Freund total ins rechte Milieu abgedriftet ist. Trotz der politischen Differenzen haben die beiden immer noch gerne zusammen Fußball geguckt und Nachos gegessen. Solche gemeinsamen Aktivitäten nicht abzubrechen, ist enorm hilfreich.
»Man kann eine Meinung zwar verurteilen, sollte aber nicht den Menschen verurteilen, der diese Meinung vertritt«
Ich glaube, ich hätte gar keine Lust darauf, mit jemandem Fußball zu schauen, der in zentralen Fragen völlig anders denkt als ich.
So etwas ist auch nicht unbedingt einfach. Doch es ist wichtig, sich auf einer menschlichen Ebene zu treffen. Man kann eine Meinung zwar verurteilen, sollte aber nicht den Menschen verurteilen, der diese Meinung vertritt. Sonst ist man ja selbst im Schwarz-Weiß-Denken drin und übersieht schnell, dass der andere auch noch Bruder, Nachbar oder Kollege ist. Da nur »Rassist!« oder was auch immer zu denken, würde zu kurz greifen.
Aber wenn der andere nun mal ein Rassist ist?
Wenn jemand etwas Rassistisches sagt, kann man das auch klar als rassistisch benennen und deutlich machen, dass es auf diesem Gebiet keinen Verhandlungsspielraum gibt. Trotzdem sollte man ein Beziehungsangebot aufrechterhalten. Man kann sich weiter grüßen, weiter am selben Tisch sitzen und weiter fragen, wie es dem anderen geht. Das schließt sich ja überhaupt nicht aus. Man sollte also hart auf der Sachebene bleiben, aber weich auf der Beziehungsebene. Mit so einer Strategie dringt man auch am ehesten zum anderen durch. Wie sehr helfen Argumente in Diskussionen über Politik oder Weltanschauung?
Mit Fakten und sachlichen Argumenten ist in Konflikten nicht so viel zu holen. Bei uns rufen ganz oft Menschen an, die sich überall eingelesen haben und einem störrischen Familienmitglied schon ständig Faktenchecks schicken. So etwas ist meistens ziemlich aussichtslos. Meinungsverschiedenheiten kann man sich ungefähr wie einen Eisberg vorstellen, bei dem nur die Spitze aus dem Wasser ragt und das meiste im Meer verborgen ist. Die Spitze ist in einer Diskussion die Sachebene. In einem Konflikt macht sie nur einen Bruchteil aus. Das meiste findet auf der Beziehungsebene statt und ist mit sachlichen Argumenten nicht zugänglich. Statt immer nur die Eisbergspitze mit Fakten zu bearbeiten, sollte man sich in einer Diskussion also lieber mal die Taucherbrille aufsetzen. Das macht man zum Beispiel, indem man danach fragt, warum jemand eine bestimmte Meinung hat. Dann findet man vielleicht heraus, dass hinter der Zustimmung für rechtsextreme Positionen eine Angst um die Rente steckt. Oder dass sich jemand als Mensch nicht gehört fühlt.
Bleiben wir einmal bei diesem Beispiel. Selbst wenn die rechtsextremen Positionen eines Gesprächspartners von einer Angst um die Rente gespeist ist – falsch findet man sie eventuell trotzdem. Und eigentlich möchte man die Person ja doch von der eigenen Sicht überzeugen. Bringt es da etwas, die Motivationen nachvollziehen zu können?
Aus der Konfliktforschung wissen wir, dass oft schon viel damit gewonnen ist, wenn jemand sich ernst genommen und verstanden fühlen. Und genau dabei hilft die Frage nach dem Warum. Die Menschen haben dann nicht mehr das Bedürfnis, ständig allen ihre Ansichten mitteilen zu müssen, und sind auch offener. Ich habe schon häufig erlebt, dass Menschen, die ein ehrliches Interesse spüren, auch mehr Neugier für andere Weltsichten zeigen.
Wie gut funktioniert diese Methode bei Ihren Klienten?
Bei uns hat einmal ein Mann angerufen, weil seine Frau sich nicht impfen lassen wollte und sehr tief in die Anti-Corona-Bewegung reingeraten war. Er war schon fast so weit, dass er sich eigentlich von ihr trennen wollte, aber wir haben ihm vorgeschlagen, einfach mal mit seiner Frau zusammen herzukommen. Mit den beiden haben wir dann diese »Unterwasser-Kommunikation« gemacht, also gefragt, warum sie so eine Abneigung gegen die Impfung hat und warum er Angst davor hat, dass sie sich nicht impfen lässt. Wir haben auch darüber gesprochen, wie es ihm eigentlich geht, wenn sie ihre Überzeugungen immer wieder predigt. Und wie es ihr geht, wenn er sie ständig zu bekehren versucht. Irgendwann ist er zu einer Sitzung gekommen und hat gesagt: »Meine Frau braucht sich nicht mehr impfen zu lassen. Ich habe jetzt verstanden, dass sie da echte Ängste hat.« Sie hat dann gestanden, dass sie sich schon längst hat impfen lassen – weil sie gesehen hat, wie viele Sorgen er sich um sie macht. Beide haben ihre Meinung in der Sache kaum geändert, aber besser verstanden, was ihre jeweilige Haltung beim anderen ausgelöst hat. Warum zählen Fakten in solchen Diskussionen eigentlich so wenig?
Ganz nutzlos sind sie nicht, für einen Teil der Diskussion kann man schon auch auf der Sachebene bleiben. Aber tut man das ausschließlich, vergrößern sich die Gräben meist nur. Diskutiere ich mit jemandem, der denkt, dass die Erde flach ist, dann weiß ich am Ende wahrscheinlich nur noch viel besser, warum ich der Meinung bin, dass sie rund ist. In so einem Gespräch würde es viel mehr Sinn machen zu fragen: »Wann hast du dein Vertrauen in die Wissenschaft verloren?« In bestimmten Situationen können Fakten aber auch genau das Richtige sein. Das kommt immer auf die Phase an, in der der andere gerade steckt.
Von welchen Phasen sprechen Sie?
Mit Meinungen ist das ein bisschen so wie mit dem Verliebtsein. Am Anfang ist man völlig begeistert und lässt überhaupt keine Gegenrede zu. Je stärker jemand versucht, uns vom Gegenteil zu überzeugen, desto stärker halten wir an unserer Meinung fest. In so einer akuten Verliebtheitsphase macht es keinen Sinn, sachliche Argumente anzubringen. Höchstens sollte man kritische Nachfragen stellen. Nach etwa einem halben Jahr hört das Verliebtsein aber wieder auf. Dann ist man zugänglicher für Kritik und dann können Diskussionen viel mehr erreichen.
Fokussieren wir uns einmal auf die sachliche Diskussion. Worauf sollte man da achten?
Bei meinen Beratungen vergleiche ich ein sachliches Argument immer mit Spinat – der muss dem anderen erst schmackhaft gemacht werden. Wenn ich möchte, dass mein Kind gesünder isst, dann gebe ich ihm ja auch nicht einfach einen ganzen Teller voll Spinat und sage »Iss auf, das ist gesund«. Stattdessen mache ich vielleicht eine Spinatlasagne daraus. Übertragen auf eine Diskussion bedeutet das, dass man statt dem Argument in Reinform zuerst etwas Positives und Verbindendes sagen sollte. Zum Beispiel: »Ich finde es total gut, dass du dich so kritisch mit der Impfung auseinandersetzt«. Die Menschen haben ja oft viel Arbeit in ihre Meinung gesteckt. Das kann man ruhig mal wertschätzend erwähnen. Danach kann das Argument kommen, also zum Beispiel die Studien, die man sich vorher selbst zurechtgelegt hat. Zum Schluss streut man noch mal Käse drüber, indem man etwas sagt wie: »Ich freue mich, dass du deine Meinung ausgerechnet mit mir so intensiv diskutierst und dass dich auch meine Sicht dazu interessiert. Ich sehe das als Freundschaftsbeweis.« Wenn man es so serviert, ist ein Argument viel leichter verdaulich und wird weniger stark als Angriff wahrgenommen.
Gibt es noch mehr, das man von Spinat über Diskussionen lernen kann?
Der Teller sollte nie zu vollgepackt werden – mehr als drei Argumente braucht man nicht. Und: Die Servierreihenfolge ist wichtig. Das zweitstärkste Argument sollte man am Anfang benutzen, das schwächste in der Mitte und das stärkste zum Schluss. Außerdem sollte es in einer Diskussion nicht darum gehen, dem anderen seine Sichtweise wegzunehmen oder, um im Bild zu bleiben, ungesunde Ernährung komplett zu untersagen. Stattdessen sollte man das Ernährungs- beziehungsweise Meinungsspektrum des anderen durch etwas Neues erweitern. Was bringt Konfrontationen zum Scheitern?
Man sollte nicht in Respektlosigkeiten reinrutschen. Wenn wir andere als Aluhütler oder Rassisten beschimpfen, disqualifizieren wir sie als Gesprächspartner. Dadurch verliert die Diskussion an Augenhöhe. Wenn wir mit dem anderen im Gespräch bleiben wollen, nützen solche Zuweisungen überhaupt nichts.
Grundsatzdiskussionen über ideologische oder politische Ansichten sind oft sehr anstrengend. Sollte man überhaupt die Konfrontation suchen?
Ich finde es zumindest wichtig, den anderen damit zu konfrontieren, was er bei einem auslöst. Zu sagen »Wenn ich höre, was du da sagst, dann macht mir das Angst« ist ein wichtiges Signal. Und es gibt auch rote Linien, die nicht einfach so unkommentiert überschritten werden können. Meinungen zu Chemtrails kann man erst mal so stehen lassen, aber wenn abfällig von »den Juden« gesprochen wird oder wenn »die Ausländer« unter Generalverdacht gestellt werden, dann ist das menschenverachtend. Da sollte man auch klar widersprechen, vor allem, wenn es in einer Gruppe gesagt wird. Sonst wird Schweigen schnell als Zustimmung gewertet. Selbst wenn ich dann mit meinem Widerspruch nicht denjenigen erreiche, der etwas gesagt hat, sende ich zumindest ein klares Zeichen an die Umstehenden. Kann es trotzdem einmal sinnvoll sein, einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen?
Man muss immer auf die eigenen Grenzen achten. Wenn ein Thema ständig präsent ist, wenn es selbst noch beim Weihnachtsessen automatisch hochkommt, dann kann man auch sagen »Heute passt es nicht, lass uns doch in einem anderen Rahmen darüber sprechen«. Das dürfen wir sagen und sollten wir auch.
Woran merkt man, dass die eigenen Grenzen erreicht sind?
Eindeutige Warnzeichen sind, wenn man selbst gereizt wird und nicht mehr zuhören kann. Oder wenn man ungerecht wird und den anderen verurteilt. Dann ist man selbst nicht mehr der richtige Gesprächspartner für eine Diskussion. Ein ganz anderer Aspekt ist natürlich, wenn physische Gewalt im Spiel ist. Dann geht es nicht mehr um wertschätzende Kommunikation, sondern darum, die Betroffenen zu schützen.
»Man ändert die Welt nicht, indem man anderen intolerant begegnet«
Warum fällt es so schwer, andere Meinungen zu akzeptieren?
Wir haben alle einen eigenen Wertekompass. Wenn andere stark für ihre Werte einstehen, dann kann sich das bedrohlich für unsere eigenen anfühlen. Während der Coronapandemie etwa sind die einen für ihre Freiheit auf die Straße gegangen, während die anderen sich in ihrer Sicherheit bedroht gefühlt haben. Dieser Widerspruch lässt sich nicht ganz auflösen, weil sowohl der Wunsch nach Freiheit als auch der nach Sicherheit seine Berechtigung hat. Es hilft aber, sich bewusst zu machen, dass die anderen keine bösen Menschen sind, sondern für Grundwerte kämpfen, während man selbst vielleicht andere wichtiger findet. Und man ändert die Welt ja nicht, indem man anderen intolerant begegnet.
Würde man auch selbst von mehr Akzeptanz profitieren?
Es kann unglaublich bereichernd sein, mal aus der eigenen Filterblase herauszukommen. Das machen wir nicht so oft, weil wir uns gerne mit Menschen umgeben, die gleich denken wie wir. Das nennt man auch »soziale Homophilie«. Aber wir leben nun mal in einer Welt, in der alle unterschiedlich sind. Diese Vielfalt zu akzeptieren und auch mit Menschen befreundet zu sein, denen wir nicht in allem zustimmen, macht uns kommunikations- und konfliktfähiger. Und es hilft auch den anderen dabei, nicht zu sehr in radikale Welten abzutauchen. Ich höre das immer wieder von Aussteigen: Was ihnen am meisten geholfen hat, sind die Menschen, die sie nicht aufgegeben haben und trotz der schrägen Meinungen mit ihnen in Kontakt geblieben sind.
Welche heißen Tipps haben Sie für das nächste schwierige Familientreffen?
Humor! Also nicht über, sondern mit dem anderen. Das kann helfen, die erhitzten Gemüter ein bisschen zu kühlen. Die heiklen Themen sollte man sich am besten für das Gespräch unter zwei Augen beim Spaziergang nach dem Essen sparen, nicht für die große Runde. Und man muss sich klarmachen, dass man nicht die Verantwortung dafür trägt, dass andere Menschen sich ändern. Man kann Angebote machen, kritische Fragen stellen und wertschätzend in Kontakt bleiben, aber den Kurswechsel muss der andere selbst vollziehen.
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