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News: Krankmachendes Rauschen

Im Jahre 1918 raffte eine sich über die ganze Welt ausbreitende Grippe-Epidemie schätzungsweise 40 bis 50 Millionen Menschen dahin. Dies war die bisher schlimmste Seuche in der Geschichte der Menschheit. Grippewellen stellen auch heute noch eine Bedrohung dar, allerdings kann man ihr Fortschreiten mittlerweile mit Hilfe der Mathematik - zumindest in einem gewissen Ausmaß - vorhersagen. Ein mathematisches Modell von Virus-Epidemien brachte nun ein überraschendes Ergebnis: Die Ausbreitung erfolgt in verrauschter Umgebung schneller.
Rauschen in diesem Zusammenhang bedeutet "Zufälligkeit" und stellt normalerweise einen störenden Einfluss dar. Ursachen für ein verrauschtes Umfeld, das die Ausbreitung der Viren beeinflusst, können unterschiedlicher Natur sein, wie verschieden starke Anfälligkeit für Infektionen, geographische Verteilung von Populationen und zufällige Schwankungen von Faktoren wie Temperatur oder ähnliches. Es liegt nahe, anzunehmen, dass all diese Störungen die Verbreitung der Krankheit behindern würden. Für ein Virus ist das Reproduzieren und Befallen weiterer Individuen so ähnlich wie "Stille Post" in einem Raum voller sich unterhaltender Menschen: Die Nachricht geht im Rauschen unter.

Aber im Laufe des vergangenen Jahrzehnts stellten Wissenschaftler fest, dass sich Störungen nicht notwendigerweise nachteilig auf das Signal auswirken müssen. In bestimmten so genannten "nichtlinearen" Systemen wie chemischen Reaktionen oder neuronalen Verschaltungen im Gehirn kann sogar das Gegenteil der Fall sein. Bei einigen dieser Systeme verstärkt ein gewisses Maß an Rauschen die Weiterleitung des Signals.

Das als stochastische Resonanz bekannte Phänomen ist ein allgemeines Merkmal von Prozessen, in denen die Übertragung eines Signals nur dann stattfindet, wenn ein bestimmter Grenzwert überschritten wird. Es kommt zum Beispiel im sensorischen System des Flusskrebses zum Einsatz oder in den elektrischen Sinnesorganen, die dem Löffelstör helfen, seine Beute aufzuspüren. Es scheint ein in der Natur recht verbreitet Phänomen zu sein, weshalb einige Organismen offenbar gelernt haben, von ihm zu profitieren.

Henry Tuckwell und seine Kollegen von der Université de Paris VI nahmen auch für Viren an, dass sie nur erfolgreich einen neuen Wirt befallen können, wenn die Übertragungsrate einen bestimmten Wert überschreitet. Daher entwickelten die Forscher ein mathematisches Modell, das diese Eigenschaft berücksichtigt und ihre Auswirkungen genauer untersucht (Physical Review E vom Mai 2000).

Die Wissenschaftler stellten fest, dass die Häufigkeit viraler Infektionen anstieg, wenn die Rauschstärke über Null lag. Sie erreichte irgendwann ein Maximum und fiel dann ab, wenn die Störungen noch weiter zunahmen. Das Auftreten eines "idealen" Rauschpegels ist charakteristisch für das Phänomen stochastische Resonanz. Letztlich unterbricht ein zu hohes Maß an Rauschen allerdings – wie vermutet – die Übertragung des Signals.

Aus den Ergebnissen der Studie lässt sich folgern, dass die Bekämpfung von Infektionskrankheiten ein noch komplexeres und spitzfindigeres Thema ist, als man bisher angenommen hatte. Behandlungen, welche die Variabilität der individuellen Empfänglichkeit gegenüber der Infektion erhöhen, indem sie einige schützen während andere Personen unbehandelt bleiben, könnten zum Beispiel einen entgegengesetzten Effekt haben, da sie das Rauschen verstärken.

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