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Neuronale Netze: Kreativität aus der Maschine

Algorithmen schreiben Artikel, ertakten Songs und errechnen Gemälde. Dank Deep Learning erschaffen Computer Kunst. Über die neue Kränkung der Menschheit – und ihren Nutzen.
Abstrakte KI-Kunst

Die Besucher der Frankfurter Buchmesse 2017 hatten einen guten Blick auf eine kleine, aber bedeutende Revolution. Bestens ausgestellt und beleuchtet war sie für jedermann sichtbar. Bloß erkannten viele Menschen die Bedeutung dessen nicht, was sie da sahen. Genau darin lag der Clou. Verantwortlich für die radikale wie ungewöhnliche Neuheit war Ahmed Elgammal, Professor an der amerikanischen Rutgers University. Mitgebracht hatte er einen Reigen ansehnlich abstrakter Kunstwerke. Die Sensation jedoch steckte in den Beschreibungskärtchen unter den Gemälden. In bestechender Regelmäßigkeit führten sie bei aufmerksamen Lesern zu Erstaunen, Bestürzen oder Begeisterung.

Denn Ahmed Elgammal, Direktor des Art &  Artificial Intelligence Labs seiner Universität, legte für keines seiner Kunstwerke, die diesem Labor entstammen, je selbst Hand an. Kein Mensch tat das. Und so kennt auch niemand das Motiv oder die Idee hinter den Bildern. Mit solchen Konzepten befasst sich der Schöpfer dieser Werke schlichtweg nicht. Allerdings taktet er auf einer GPGPU, einer zweckentfremdeten Graphic Processing Unit, um seiner Kreativität freien Lauf zu lassen.

Inspiration im Arbeitsspeicher

Die Gemälde auf der Buchmesse hat eine KI entworfen – und das derart stilsicher und neuartig, dass so gut wie niemandem auffiel, dass die Intention hinter den Pinselstrichen keine menschliche war. »Wir haben einen Algorithmus kreiert, der neue, ästhetisch ansprechende Bilder erschafft, ohne andere Künstler zu plagiieren. Er ist darauf trainiert, innovativ zu sein«, sagt Elgammal.

Abstrakte KI-Kunst

Diese zwei lapidaren Sätze könnten ausreichen, um das größte Erdbeben in der Welt der Kunst seit 1837 auszulösen. Damals wurde die Fotografie erfunden und bildete bald die Realität genauer ab als jede Staffelei. Die Szene wandte sich dem Abstrakten zu, das Grenzen in Gedanken und Tabus durchbrach. In rascher Folge entstanden Impressionismus, Surrealismus und Kubismus.

»Unsere Algorithmen können diese Stile nicht nur kopieren, sondern analysieren, bewerten, transformieren und, letzten Endes, Gemälde mit neuem, eigenem Stil erschaffen«, sagt Elgammal. Sein Team hätte nichts weniger als eine kreative Maschine erschaffen. Doch damit ist es nicht allein. Andernorts komponieren KI-Bots Popsongs und eigene, kleine Essays. Maschinen stoßen vor in die Domänen der Kunst und Abstraktion. Fähigkeiten, die bislang nur dem Menschen vorbehalten waren. Wie nur sind an sich geistlose Maschinen auf einmal dazu in der Lage?

Neurologie im PC

Die Ursache hierfür – oder zumindest ihre Inspiration – ist äußerst biologisch: Es sind neuronale Netze. Schon in den 1940er Jahren entstand die Idee, die Strukturen der Nervenzellen im Gehirn, der Neuronen, nachzubilden. Warum sollte das, was in der Natur zu formidablen Lernfortschritten führt, nicht auch in der IT klappen? Die Antwort: fehlende Rechenpower und Daten. Beide Probleme sind heute in Zeiten von Internet und Serverfarmen überwunden.

Abstrakte KI-Kunst

Denn erst, wenn abertausende Datenstränge seine Algorithmen in akzeptabel kurzer Zeit wieder und wieder durchlaufen, entfaltet ein neuronales Netz sein wahres Potenzial: autogene Anpassung – in der IT-Welt auch »Training« genannt. Der sportliche Begriff ist durchaus passend, schließlich verhalten sich die Kodes ganz ähnlich wie Athleten auf der Suche nach perfekter Leistung.

Wenn beispielsweise ein Turner seine Kür meistert, schwingt er ein ums andere Mal ums Reck. Er konzentriert sich dabei auf wesentliche Details: die Stellung der Hand, den Hüftschwung, Ort und Zeit des Krafteinsatzes. Jede Runde werden diese Variablen Stück für Stück verändert, um das Optimum zu erreichen. Das geschieht nicht immer bewusst und auch nicht mit linear wachsendem Erfolg. Doch langfristig führt dieser Prozess der kleinen Schritte zu signifikanten Verbesserungen.

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Ein neuronales Netz in der IT funktioniert genauso. Anstatt dass physische Prozesse jedoch elektrochemische Konzentrationen in Nervenzellen und letztlich die Körperhaltung verändern, passen Algorithmen mathematische Variablen ihrer internen Rechenschritte an. Eine Rechenoperation wird so zum Neuron. Gekoppelt an andere Rechnungen entstehen neuronale Netze. Werden viele Schritte miteinander verschaltet, spricht man vom Deep Learning.

Die Artenvielfalt des Deep Learnings

Die Art des Zusammenschlusses bestimmt den Charakter eines Netzwerkes: Rekurrente Netze (RNNs) senden die Ergebnisse ihres Treibens zurück zum Anfang der Rechenketten, während Feedforwards nur eine Richtung kennen. Convolutionals (CNNs) reduzieren die Anzahl von benötigten Variablen per mathematischer Faltung ohne großen Informationsverlust drastisch. Und Long-Short-Term-Memories (LSTMs) filtern und speichern Ergebnisse einer Trainingsrunde für zukünftige Durchläufe. Sie verleihen dem Netzwerk damit ein Gedächtnis.

Training macht ein Netz zu einem äußerst mächtigen Werkzeug. Durch den Konsum abertausender digitaler Fotos lernt es, Gegenstände, Tiere und Personen auf unbekannten Bildern aufzuspüren. Mit dem Schmökern unzähliger, vielsprachiger Texte avanciert es zum Übersetzer. Die geballte Varianz mannigfaltiger Verbindungen und das stete Verändern der Variablen dechiffriert komplexe, nichtlineare Zusammenhänge: Sprachen und Ästhetik werden quantifizierbar. Ja, sogar Kreativität lässt sich berechnen.

Natürlich war der Weg dahin nicht gerade einfach. »Die bisher existierenden Netze entwickelten entweder bloße Stilkopien oder produzierten deformierte Skizzen: Sie waren für den Betrachter verstörend bis gruselig«, sagt Elgammal. Deswegen modifizierte sein Team ein bereits vorhandenes Generative Adversarial Network (GAN) und kreierte aus ihm ein Creative Adversarial Network (CAN). Dieses besteht aus zwei CNNs, die miteinander kooperieren.

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Nachdem sie mit gewaltigen Datenbanken aus Rembrandts, Monets oder Picassos trainiert wurden, wird ein CNN zum Malermeister, während das zweite den Richter und Plagiatjäger mimt. »Der Richter erlernt Merkmale für Stil und Stilentwicklung. Nähern sich die Bilder des Zeichners einem bekannten Stil zu sehr an, verwirft er sie«, sagt Elgammal. Gleichzeitig weiß der Richter, wie sich Kunst in den Jahrhunderten veränderte, da das CNN Verteilungsfunktionen geformt hat, die die Innovation von unbekannten Stilen bewerten können. Weicht ein Bild zu sehr davon ab, landet es auf der digitalen Abfallhalde für KI-Kunst.

Die KI mit dem Taktstock

Vorhersagefunktionen wie im CAN besitzen ein ungeheures Potenzial. Das Start-Up AIVA nutzt sie mittels RNNs, um klassische Musikstücke zu komponieren. Ein Team um Programmierer François Pachet erschuf die FlowMachines-Algorithmen, die das KI-Popalbum »Hello World« produzierten. Die Ergebnisse sind durchaus hörbar – doch sie sind nicht perfekt.

http://www.youtube.com/watch?v=OlxULxrPf0c
© SKYGGE MUSIC
Auszug aus dem KI-Pop-Album »Hello World«
Der Programmierer François Pachet und sein Team stehen mit ihren FlowMachines-Algorithmen hinter dem KI-Pop-Album »Hello World«. In die Resultate der KI kann dabei mehr oder weniger stark eingegriffen werden: Der hier gespielte Song »Mafia Love« etwa wurde kaum verändert.

Denn anders als Elgammals CAN kommen weder AIVA noch FlowMachines ohne menschliche Hilfe aus. Komponiert die KI allein, wird deutlich, dass ihr noch Verständnis für Struktur und Varianz fehlt. »Wie kann eine KI einen Song kreieren, der sehr lang, aber zugleich nicht äußerst langweilig ist? Das ist derzeit die interessante Frage«, sagt Pachet, Direktor des Spotify Creator Research Technology Lab. Der Quellkode, der beide Begriffe zufrieden stellend emuliert, ist in der KI-Branche derzeit so etwas wie der Stein der Weisen.

»Je weiter wir voranschreiten, auf desto mehr Probleme scheinen wir zu stoßen«, sagt Pachet. »Was ist die perfekte Orchestrierung, welches Tempo und welche Instrumente passen wann wie gut zusammen? Für neuronale Netze sind all diese Fragen neu.« Doch der Programmierer ist zuversichtlich, dass auch diese Probleme überwunden werden. In fünf Jahren spätestens sei es soweit. Schon jetzt beweisen digitale Maschinen, dass sie über kurze Distanzen in der Lage sind, sinnvolle und ansprechende Wort- und Tonsequenzen aufeinander folgen zu lassen. »Jedes Jahr gibt es eine neue Revolution im Deep Learning. Wir wissen nicht, was als Nächstes kommt«, sagt Pachet.

Kunst und Konzerne

Erst 2015 kam für sein Team der Durchbruch, der dem FlowMachines-Kode ein Gefühl für Rhythmus und Harmonie gab. Damals entwickelte es so genannte Markov Constraints, die die Varianz der Deep-Learning-Vorhersagen soweit beschränkten, dass melodische Sequenzen entstehen konnten – und eben kein wild gemischtes Ton-Tohuwabohu.

Abstrakte KI-Kunst

Die Fortschrittskurve der letzten Jahre ist steil, entsprechend groß ist die Euphorie. Nicht nur in Forschungszentren herrscht Aufbruchsstimmung, gerade Großkonzerne stellen massiv Ressourcen bereit, um die Kreativität der KI zu beflügeln. Das AIVA-Start-up wird beispielsweise vom Tech- und Grafikkonzern Nvidia unterstützt. François Pachets FlowMachines entstand bei Sony, ehe er und ein Gros des Teams zu Spotify – dem unangefochtenen Giganten des Musikstreaming – wechselten.

http://www.youtube.com/watch?v=ZqWE98Ubhek
© SKYGGE MUSIC
Track 9 aus »Hello World«: Paper Skin (Feat. JATA)
Track 9 gehört zu den Stücken, an denen KI und Co am meisten gefeilt haben.

Selbstverständlich mischt auch Google mit. Im Projekt Magenta stellt das Google-Brain-Team das mächtige TensorFlow-Tool zur Erstellung neuronaler Netze frei zur Verfügung. Natürlich nicht ganz uneigennützig. Der Fortschritt des Deep Learning fußt auf gewaltigen Datenbanken. Als größter Datenhub der Welt macht sich der Konzern aus Kalifornien für Programmierer so unverzichtbar.

Für Firmen ist der Nutzen der KI-Kreativität klar. Der Geschmack der Kunden kann individuell, schnell und kostengünstig bedient werden. Ziel: maßgeschneiderte Songs oder Zeitungsartikel auf Knopfdruck. »Die Netze werden erst so genannte 4-D-Tasks übernehmen: Aufgaben, die langweilig (dull), schmutzig (dirty), gefährlich (dangerous) oder teuer (dear) sind. In der Kreativwirtschaft sind das anspruchslose und arbeitsaufwändige Aufgaben wie generische Soundtracks oder Popsongs«, sagt Kevin Baum, Computerethiker der Universität Saarbrücken.

Raus aus dem Zentrum

Langfristig wird es aber nicht dabei bleiben. Schon Elgammals Gemälde stellt das kreative Schaffen der Menschen in Frage. »Wir erleben womöglich gerade die vierte Kränkung der Menschheit«, sagt Baum. Sie musste feststellen, dass sie weder kosmologisch, biologisch noch psychologisch das Zentrum der Welt ist. »Jetzt wird klar: Auch Kreativität ist nicht ureigen menschlich.«

Abstrakte KI-Kunst

Als das luxemburgische Sinfonieorchester einen KI-Song des AIVA-Start-Ups zum Nationalfeiertag einspielte, zeigten sich einige Hörer entsetzt, als sie vom KI-Komponisten erfuhren. »Neuartiges wird oft als ›Kränkung‹ verstanden. Es dauert, bis es breitere Akzeptanz findet. Ein solcher Paradigmenwechsel könnte uns mit KI-Kunst bevorstehen«, so Baums Kollege Stephan Schweitzer. Die meisten Menschen werden sich wohl auch an diese neue Kränkung gewöhnen, erklärt Baum. »Man stelle sich vor, der nächste Teil der Millennium-Reihe erscheint geschrieben von ›KI-Larsson‹ – und er ist gut. Die Leute würden ihn sich sicher kaufen.«

© Aiva
Sinfonieorchester spielt KI-Song
Das luxemburgische Sinfonieorchester sorgte am Nationalfeiertag mit einem KI-Song bei manchen Hörern für Entsetzen – nachdem sie erfuhren, wer das Stück komponiert hat.

Paradoxerweise werden damit Menschen KI-Kreativität zu Kunst machen – oder eben nicht. »Kunst ist dauernder Veränderung unterworfen. Mancher sieht deswegen für eine Kunstdefinition nicht die intrinsischen Eigenschaften eines Werkes als entscheidend an, sondern, wie wir mit ihm umgehen: Wenn also ein Kurator ein KI-Bild in ein Museum hängt, wird es Kunst. Spielt ein Orchester eine KI-Sinfonie, wird sie Musik«, sagt Schweitzer. Ähnlich sieht es auch François Pachet: »Erst die Künstler, die ihren Namen neben die gemeinsam mit FlowMachines produzierten Songs setzten, machten unsere Werke zu Musik. Das ist die beste Evaluation überhaupt.«

KI-Mensch-Kooperationen

Die Programmierer neuronaler Netze sind sich sogar sicher, dass ihre Algorithmen den Menschen nicht ersetzen werden. Im Gegenteil: »Als die Fotografie entstand, war das für die Kunst Einschnitt und Glücksfall zugleich. Neue Stile entstanden – und Künstler benutzten die neue Technik für nie dagewesene Werke. Dasselbe wird auch mit Deep Learning passieren«, sagt IT-Professor Elgammal. Die neuronalen Netze sollen es mehr Menschen als heute ermöglichen, kreativ zu sein.

Abstrakte KI-Kunst

Jeder hatte schließlich schon einmal eine gute Melodie im Kopf – aber eben nicht das Talent, sie auf einem Instrument zu spielen. Schnell zu beherrschende Deep-Learning-Programme könnten die Hemmschwelle für kreativen Output deutlich absenken. »Das birgt jedoch auch die Gefahr, dass der Mensch zur bloßen Wahlvorrichtung verkommt«, sagt Computerethiker Baum.

Chancen und Risiken liegen bei der KI-Kreativität also nah beieinander, gerade weil Algorithmen im Gegensatz zum Menschen ohne Selbsterkenntnis agieren. »Es gibt auch nichts, dass darauf hindeutet, dass Deep Learning irgendwann ein Bewusstsein für sein Tun aufbauen wird«, weiß François Pachet. Gerade das wird jedoch zu einem goldenen Kreativzeitalter führen. Denn gute Kunst bewegt, provoziert und fordert heraus – keine Kunst wird die Menschheit mehr herausfordern als geniale Werke, produziert von geistlosen Maschinen.

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