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Krebs bei Kindern: Kleine Kämpfer

Andere Ursachen und Therapien, bessere Heilungschancen: Krebs bei Kindern unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von der Erkrankung bei Erwachsenen. Ein Überblick.
Junges Mädchen mit Krebs hält ihr Stofftier in der Hand
In Deutschland wird bei rund 2200 Kindern pro Jahr Krebs festgestellt. Ihre Heilungschancen sind doppelt so hoch wie bei Erwachsenen.

Dieses eine Mal hatte Anika kaum Freude an ihrem sonst so geliebten Schwimmkurs. Die damals Dreijährige sah blass aus, ihr war kalt. Noch auf der Toilette im Hallenbad entdeckte Sandra Becker Blut im Urin ihrer Tochter. Die Ultraschalluntersuchung beim Kinderarzt legte einen schlimmen Verdacht nahe, der sich wenig später bestätigen sollte: ein bösartiger Tumor an der linken Niere – Krebs. »Sie war ein quietschfideles Kind«, erinnert sich ihre Mutter an die Zeit vor der Schockdiagnose vor fünf Jahren. »Dass sie eine lebensbedrohliche Krankheit haben könnte, wäre uns nie in den Sinn gekommen.«

Anika ist laut Analysen des Deutschen Kinderkrebsregisters eines von rund 2200 Kindern in Deutschland, bei denen pro Jahr Krebs festgestellt wird. Statistisch gesehen tritt die bösartige Erkrankung bei etwa jedem 340. Neugeborenen bis zum 18. Geburtstag auf. »Krebs ist bei Kindern im Vergleich zu Erwachsenen sehr viel seltener«, sagt Professor Dirk Reinhardt, Geschäftsführer der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH) gGmbH sowie Direktor und Chefarzt an der Universitätskinderklinik Essen. Unter dem Dach der GPOH werden Leitlinien für die Diagnostik und Therapie von bösartigen Tumoren und systemischen Krebserkrankungen im Kindesalter entwickelt. »Bei Kindern lässt sich die Erkrankung meist viel besser behandeln als bei Erwachsenen«, setzt er den Vergleich fort. So leben aktuell rund 85 Prozent der Kinder noch mindestens zehn Jahre nach der Diagnose, bei Erwachsenen ist die Quote nur halb so hoch. Dennoch zählt Krebs zu den häufigsten Todesursachen in der Kindheit.

Auch sonst haben onkologische Erkrankungen bei Kindern wenig mit denen bei erwachsenen Männern und Frauen gemein. »Da gibt es grundlegende Unterschiede hinsichtlich der Krebsarten und der Gewebe, von denen die Tumoren ausgehen«, sagt Professor Andreas Kulozik, Direktor am Hopp-Kindertumorzentrum (KiTZ) Heidelberg und Ärztlicher Direktor der Kinderonkologie des dortigen Universitätsklinikums. Kinder erkranken am häufigsten an Leukämie, Tumoren im zentralen Nervensystem oder bestimmten Krebsarten des lymphatischen Systems, so genannten Lymphomen. Diese Diagnosen machen zusammen mehr als zwei Drittel der Fälle aus, bei Erwachsenen hingegen sind diese Krebsarten vergleichsweise selten. »Umgekehrt sehen wir die häufigen Karzinome der Erwachsenen, wie Brust-, Darm- oder Lungenkrebs, bei Kindern und Jugendlichen kaum oder nie«, sagt Kulozik.

Andere Auslöser für Mutationen

Sowohl im Kindes- als auch im Erwachsenenalter entsteht Krebs dann, wenn sich Zellen auf Grund von Veränderungen im Erbgut unkontrolliert vermehren. Allerdings seien die Auslöser für solche Mutationen bei Heranwachsenden andere als bei Erwachsenen, sagt der Heidelberger Mediziner. »Bei ihnen entwickelt sich Krebs nicht durch äußere Einflüsse wie einen ungesunden Lebensstil.« Auch lassen sich nur wenige Fälle durch vorausgegangene Strahlen- oder Chemotherapien erklären. Stattdessen gibt es Hinweise, dass die Krebserkrankung bei Kindern häufig schon vor der Geburt angelegt ist, Veränderungen in bestimmten Körperzellen also bereits im Embryo‎ stattgefunden haben. In diesem Zusammenhang sprechen Fachleute von embryonalen Tumoren, zu denen auch das Nephroblastom gehört, das bei Anika entdeckt wurde. Etwa zehn Prozent der Jungen und Mädchen, die an Krebs erkranken, haben ein so genanntes Krebsprädispositionssyndrom, eine genetische Veranlagung, die das Krebsrisiko erhöht. »Beim Großteil der Patienten kennen wir die Ursache aber nicht«, stellt Kulozik fest. Reinhardt betont in diesem Zusammenhang: »Gerade betroffene Eltern sollten wissen, dass bei Kindern niemand ›Schuld‹ an der Krebserkrankung hat und sie auch nicht hätte verhindert werden können.«

Für Sandra Becker war das damals nur ein schwacher Trost. Mit der niederschmetternden Diagnose geriet die Welt der fünfköpfigen Familie aus den Fugen. »Das normale Leben war erst einmal vorbei«, erinnert sie sich. Benedikt Geldmacher, Vorsitzender der Deutschen Kinderkrebsstiftung, kennt die Herausforderungen, vor denen die Eltern krebskranker Kinder stehen: Ängste, eine Flut an Informationen, der Spagat zwischen Kinderbetreuung und Arbeit und manchmal auch Geldsorgen durch Verdienstausfall müssen bewältigt werden. Die Stiftung berät und unterstützt Betroffene, gewährt finanzielle Hilfen und fördert unter anderem die Arbeit örtlicher Elternvereine. »Das größte Problem für die Familien ist das ›Herausgerissenwerden‹ aus dem Alltag«, sagt Geldmacher. »Das geschieht von heute auf morgen, ohne Vorwarnung. Dann beginnt meist sofort eine Therapie in einem der kinderonkologischen Zentren, die Wochen oder Monate dauert. Das ist eine große psychische Belastung.«

Umgang mit einem an Krebs erkrankten Kind

Es gibt nicht den einen richtigen Weg, aber ein paar Hinweise, die helfen können: Experten empfehlen Eltern, so früh wie möglich ehrlich und altersgerecht mit ihrem Kind über die Erkrankung zu sprechen, denn es spürt, dass etwas nicht in Ordnung ist. Je mehr es weiß, desto weniger Raum bleibt für Fantasien, Ängste oder Schuldgefühle. Erklärvideos, Informationsmaterial und kindgerechte Bücher finden sich bei der Deutschen Krebshilfe, dem Krebsinformationsdienst und der Deutschen Kinderkrebsstiftung. Eine Elterninitiative rät, dem Kind trotz der Erkrankung so viel Normalität wie möglich zu schenken, es liebevoll zu umsorgen, aber auch das Erziehen nicht zu vergessen.

Wie die Krebserkrankung behandelt wird, hängt von ihrer Art, Bösartigkeit und Ausbreitung sowie dem Alter des Patienten ab. »Bei Kindern hat man grundsätzlich dieselben Standardtherapieoptionen wie bei Erwachsenen, nämlich Operation, Chemo- und Strahlentherapie. Für jeden einzelnen Patienten werden sie zu einem optimalen Behandlungskonzept zusammengestellt«, erklärt Reinhardt. In bestimmten Fällen kann eine Stammzelltransplantation dazukommen. Auch wenn die Bausteine gleich sind, setzen Ärzte sie bei Kindern und Erwachsenen unterschiedlich ein. »Da sind Nebenwirkungen und mögliche Langzeitfolgen zu berücksichtigen«, sagt der Mediziner. So habe die Strahlentherapie für Kinder mehr Risiken als für Erwachsene hinsichtlich Zweittumoren und Wachstumsstörungen. Kulozik ergänzt: »Andererseits vertragen Kinder eine intensivere Chemotherapie in der Regel sehr viel besser als ältere Menschen. Deshalb können die Medikamente anders dosiert und zusammengesetzt werden, was die Therapie wirkungsvoller macht.«

Mittwochs war immer Chemotag

Anika bekam zunächst eine Chemotherapie, um den Nierentumor vor der Operation zu verkleinern. »Wir waren dafür sechs Wochen stationär in der Klinik«, sagt Becker, die ihre Tochter rund um die Uhr begleitete. Zwei Krankenhausbetten hatten sie zum Kuscheln aneinandergeschoben. »Das war in dieser Zeit unser Leben, auf ein paar Quadratmetern.« Nach einer komplizierten Operation folgten weitere neun Monate Chemotherapie, ein Teil stationär, ein anderer ambulant. »Mittwochs war immer Chemotag«, erinnert sich die Mutter.

Bei Anika scheint der Krebs inzwischen besiegt. Doch was ist mit Kindern, die einen Rückfall erleiden? Für diese werden aktuell zielgerichtete Medikamente und Immuntherapien erprobt. Um mögliche Angriffspunkte für die Behandlungen zu finden, untersuchen Forschende im Detail die molekularen Veränderungen in den Tumorzellen, etwa in einem Genomsequenzierungsprogramm am KiTZ Heidelberg. Mit bestimmten Wirkstoffen lassen sich dann zum Beispiel molekulare Signalwege hemmen, die das Wachstum der Krebszellen fördern. Bei zuvor therapieresistenten Formen der Leukämie habe sich laut Kulozik inzwischen die so genannte CAR-T-Zell-Therapie etabliert. Dabei werden T-Zellen des Patienten außerhalb des Körpers genetisch so verändert, dass sie zurück im Blut Leukämiezellen erkennen und zerstören.

Gleiche Chance auf Heilung

Fast alle krebskranken Kinder in Deutschland werden heute in Therapieoptimierungsstudien nach einheitlichen Protokollen und aktuellstem Wissen behandelt. So soll jedes Kind unabhängig vom Behandlungsort die gleiche Chance auf Heilung haben. An diesen Studien, die ihren Ursprung in den 1970er Jahren haben, beteiligen sich aktuell 60 kinderonkologische Zentren, koordiniert durch die Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie. So ist es trotz der Seltenheit von Krebs im Kindesalter möglich, genügend Daten zu gewinnen, mit denen die Therapien stetig weiterentwickelt werden können. Die Behandlungsqualität hat sich dadurch spürbar verbessert, was sich an der deutlichen Steigerung der Fünf-Jahres-Überlebensquote von unter 20 Prozent vor dem Jahr 1950 auf heute 86 Prozent zeigt.

Insgesamt stehen für Kinder aber weniger spezifische Krebsmedikamente zur Verfügung, weil die Therapien in der Regel für Erwachsene entwickelt werden. Laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte sind mehr als die Hälfte aller bei Kindern eingesetzten Mittel nicht für diese Patientengruppe zugelassen. Zwar sind Pharmaunternehmen seit 2007 grundsätzlich dazu verpflichtet, neue Medikamente auch auf einen Einsatz bei Kindern zu prüfen, in der Kinderonkologie hat das jedoch kaum einen Effekt. Schuld daran sind unter anderem die kleinen Fallzahlen bei Kindern, die das Durchführen von Studien erschweren. Hinzu komme, dass sich aus Sicht der Pharmaunternehmen eine Neuentwicklung für die relativ wenigen krebskranken Kinder wirtschaftlich nicht rechne, sagt Reinhardt. Ist für eine bestimmte Therapiesituation kein zugelassenes Mittel verfügbar, werden die Kinder »off-label« mit Medikamenten für Erwachsene behandelt. »Die genauen Wirkungen und Nebenwirkungen sind dann zwar nicht bekannt, allerdings lässt die lebensbedrohende Erkrankung auch keine Alternative zu«, erklärt der GPOH-Geschäftsführer.

Doch nicht immer sind die Behandlungsmethoden aus der Erwachsenenmedizin für Heranwachsende sinnvoll. »Bei Kindern ist das Ziel der Therapie in nahezu allen Fällen die Heilung, sowohl bei der Erstdiagnose als auch bei einem Rückfall«, erläutert Reinhardt. Mit den neuen, molekular wirksamen Therapien erreiche man aber meist nur eine Kontrolle der Erkrankung. »Wenn man den Krebs auf diese Weise zehn Jahre lang bei guter Lebensqualität im Griff hat, ist das ein großer Fortschritt für den typischen erwachsenen Patienten, der mit durchschnittlich 70 Jahren erkrankt. Bei einem Fünfjährigen reicht das aber nicht.«

Überwinden Kinder ihre Krebserkrankung, leiden sie oftmals unter Langzeit- oder Spätfolgen. Denn die Therapien vernichten nicht nur Tumorzellen, sondern greifen auch gesundes Gewebe an. Das können Schäden an Herz, Nieren oder Gehör sein, Minderwuchs, Schilddrüsenunterfunktion, Unfruchtbarkeit oder kognitive Leistungsstörungen. Wie stark die Beschwerden ausfallen, hänge von der Krebserkrankung sowie der Art und Intensität der Therapie ab, sagt Kulozik. Bisher sind die Zahlen ernüchternd: In der Childhood Cancer Survivor Study zeigte sich bei ehemaligen Patienten im Vergleich zu deren Geschwistern ein 15-fach erhöhtes Risiko für eine Herzinsuffizienz oder eine erneute Krebserkrankung. Insgesamt wiesen etwa zwei Drittel der Langzeitüberlebenden chronische Gesundheitsbeschwerden auf. Mit verbesserten Therapien soll das Risiko künftig verringert werden. »Wir ersetzen zum Beispiel einzelne hoch dosierte Zytostatika durch eine Kombination verschiedener Medikamente mit weniger Nebenwirkungen«, erklärt der Heidelberger Mediziner, »oder bestrahlen Tumoren mit der Protonentherapie präziser und damit schonender für das umliegende Gewebe.«

Bei Anika sind bisher keine schwer wiegenden Folgen der Therapie aufgefallen. »Es geht ihr sehr gut«, sagt ihre Mutter. »Wer Anika sieht, würde nicht denken, dass sie so etwas hinter sich hat.« Die lange Narbe auf dem Bauch der heute Achtjährigen ist gut verheilt, nur beim Klettern fehle ihr etwas Kraft im Oberkörper. Inzwischen sind die Abstände der Nachsorgeuntersuchungen größer geworden. Aber die Angst, dass die Krankheit eines Tages wiederkommt, wird die Familie wohl noch lange begleiten.

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