Krebsmedizin: Darmflora beeinflusst Therapieerfolg

Im Frühjahr 2022 sah Tim Story sich mit seinem nahen Tod konfrontiert. Die Ärzte teilten ihm mit, dass er nur noch wenige Monate zu leben habe. Der Football-Trainer war wegen einer Tumorerkrankung des Dünndarms mittels Operation, Chemo- und Immuntherapie behandelt worden, doch ohne Erfolg: Der Krebs hatte in andere Organe gestreut und galt als nicht mehr heilbar. Die letzte Hoffnung des 51-Jährigen war eine klinische Studie zu der Frage, ob eine Stuhltransplantation – also die Übertragung von Stuhl eines gesunden Spenders in den Darm einer erkrankten Person, um deren Darmflora zu beeinflussen – helfen könne, Krebs zurückzudrängen. Die Versuchsteilnehmer wurden daraufhin getestet, ob sie nach einer solchen Transplantation besser auf eine Immuntherapie mit Checkpoint-Inhibitoren ansprechen. Checkpoint-Inhibitoren sind Substanzen, die einen Tumor daran hindern, die gegen ihn gerichtete Immunreaktion des Körpers auszuschalten.
Tim Story bekam Stuhlproben einer Krebspatientin in seinen Darm eingeschleust, deren Erkrankung sich nach Behandlung mit Checkpoint-Inhibitoren vollständig zurückgebildet hatte. Anschließend starteten die Ärzte bei ihm eine neue Therapie mit diesen Substanzen. Und auch bei dem Football-Trainer verschwanden die Tumoren nach und nach: 18 Monate später zeigten die Bildgebungsverfahren bei ihm keine Anzeichen mehr vom Krebs. Am Ende konnte der Mann sogar wieder auf den Sportplatz zurückkehren, um dort Highschool-Schüler zu trainieren.
Die Studie, an der Tim Story gemeinsam mit 14 weiteren Krebskranken teilnahm, ist nicht die erste, die darauf abzielte, durch eine Stuhltransplantation (auch als fäkale Mikrobiota-Transplantation bezeichnet, abgekürzt FMT) die Wirkung von Immuntherapien zu verbessern. Immuntherapien haben die Krebsmedizin zwar enorm vorangebracht und in manchen Bereichen sogar zu Durchbrüchen geführt, sie schlagen aber nicht bei allen Patientinnen und Patienten an. Fachleute versuchen deshalb schon seit Langem, deren Wirkung zu steigern.
Nützliche Mikroorganismen
So nahm 2021 ein Forschungsteam um Erez Baruch von der Tel Aviv University eine FMT an Hautkrebspatienten vor, bei denen eine Checkpoint-Therapie zunächst gescheitert war. Als diese Personen mit Stuhl von geheilten Krebspatienten behandelt wurden, erhöhte sich die Zahl der klinisch erfolgreichen Checkpoint-Therapien auf rund ein Drittel. Weitere Studien, unter anderem mit Hautkrebspatienten sowie mit Personen, die am Nierenzellkarzinom erkrankt waren, bestätigten diese Ergebnisse. Auch in der Studie, an der Tim Story teilnahm, erhöhten Stuhltransplantationen bei mehreren Personen die Schlagkraft einer Immuntherapie. Zwar gelingt es nicht immer, eine Behandlung mit Checkpoint-Inhibitoren mittels FMT wirksamer zu machen. Die Tatsache jedoch, dass manche Erkrankten, bei denen die Therapie zunächst fehlgeschlagen ist, dank veränderter Darmflora wieder gesund werden können, zeigt, welch entscheidende Rolle das Mikrobiom spielt, wenn man versucht, das Immunsystem gegen eine Krebserkrankung zu lenken.
Schon 2015 stellte sich in Laborversuchen mit Mäusen heraus, dass die Wirkung von Checkpoint-Inhibitoren von der Darmflora der Tiere abhängt. Fehlte den Tieren das Darmmikrobiom komplett, etwa weil sie von Geburt an strikt steril gehalten oder mit diversen Antibiotika behandelt worden waren, blieb die Immuntherapie wirkungslos. Andere Studien, die rückblickende Erhebungen an menschlichen Patienten vornahmen, ergaben: Hatten Krebspatienten innerhalb von zwei Monaten vor Beginn einer Checkpoint-Therapie Breitbandantibiotika erhalten, die bekanntermaßen die Darmflora stark in Mitleidenschaft ziehen, sprachen sie deutlich schlechter auf die Behandlung an. In den darauffolgenden Jahren versuchten Fachleute, systematisch die Darmmikroben zweier Personengruppen zu vergleichen: solche, die auf die Therapie ansprachen (»Responder«), und solche, bei denen das nicht der Fall war (»Non-Responder«). Dafür untersuchten die Wissenschaftler tausende Stuhlproben mit metagenomischen Sequenzierungsmethoden – also mit Verfahren, die sämtliche in der Probe enthaltene DNA entschlüsseln. So wollten sie herausfinden, von welchen Mikroorganismen das Erbgut stammt, und damit, wie die Darmflora zusammengesetzt war.
Solche Daten zu interpretieren, erweist sich oft als schwierig, weil das Spektrum der uns besiedelnden Mikroben außer von unserer Ernährung von vielen weiteren Faktoren abhängt – darunter Alter, Umwelteinflüsse oder genetische Veranlagung. Allerdings kristallisierte sich heraus, dass die mikrobiellen Gemeinschaften der Responder durch eine größere Artenvielfalt sowie durch bestimmte Mikrobenstämme gekennzeichnet waren. Prominent vertreten waren beispielsweise Vertreter der Bakterienfamilien Lachnospiraceae und Oscillospiraceae. Vor allem die Arten Faecalibacterium prausnitzii (eines der häufigsten Bakterien in einer typischen menschlichen Darmflora) und Akkermansia muciniphila (manchmal auch »Wächter des Darms« genannt, weil diese Spezies zur Aufrechterhaltung der Darmschleimhaut beiträgt) schienen von Bedeutung zu sein. Alles in allem ähnelte das Mikrobiom der Responder stark jenem von gesunden Personen. Bei den Non-Respondern dagegen zeigte sich die Darmflora artenärmer, und die vorteilhaften Bakterienfamilien waren bei ihnen weniger zahlreich vertreten zu Gunsten anderer Spezies etwa aus der Gattung Enterocloster. Außerdem war das Bakterium Hungatella hathewayi, das in der Mikroflora von Darmkrebspatienten oft sehr zahlreich vorkommt, auffällig überrepräsentiert.
Heikle Balance zwischen Tolerieren und Bekämpfen
Dass die Mikrobengemeinschaft im Darm das dortige Immunsystem prägt, erscheint naheliegend. Schließlich muss die Körperabwehr diese Mikroorganismen tolerieren, gleichzeitig aber gefährliche Krankheitserreger oder toxische Substanzen aus der Nahrung schnell erkennen und neutralisieren. Doch wie ist es zu erklären, dass die Darmflora ebenso Immunreaktionen gegen Lungen-, Nieren- oder Hauttumoren beeinflusst? Das wird zurzeit intensiv erforscht – vor allem, weil es hochrelevant hinsichtlich der Wirksamkeit von Immuntherapien erscheint. Am häufigsten untersuchen Wissenschaftler hierbei verschiedene Stoffwechselprodukte, die Darmbakterien freisetzen. Dadurch, dass diese Substanzen zum Teil ins Blut gelangen, beeinflussen sie zahlreiche Aspekte unserer Gesundheit.
»Gute« Darmmikroben aus den Familien Lachnospiraceae und Oscillospiraceae beispielsweise setzen Ballaststoffe in kurzkettige Fettsäuren um. Dabei entstehen unter anderem Propion- und Buttersäure, welche die Aktivität von Immunzellen namens CD8-T-Lymphozyten fördern. Akkermansia muciniphila wiederum produziert Spermidin – eine organische Verbindung, die Immunreaktionen aufrechterhält. Andere Mikrobenarten setzen Indole oder die Vitamine B3, B5 oder B12 frei, die allesamt direkt oder indirekt die Immunfunktion unterstützen. All diese Mechanismen kommen einer funktionierenden Körperabwehr zugute, verstärken aber auch die Wirkung von Checkpoint-Inhibitoren. »Schlechte« Bakterienarten wiederum dämpfen Immunreaktionen und sind bei Immuntherapien daher von Nachteil. Zu ihnen gehören Enterocloster-Vertreter, die durch Produktion von sekundärer Gallensäure verschiedene Abwehrreaktionen gegen Tumoren unterdrücken.
Manche Bakterien nutzen Immunzellen als trojanische Pferde, um zu Tumoren hinzugelangen
Andere klinische Effekte, die mit dem Mikrobiom zusammenhängen, entstehen offenbar erst durch die Behandlung mit Checkpoint-Inhibitoren. Fachleute des University of Texas Southwestern Medical Center in Dallas fanden 2023 heraus, dass manche Bakterien während einer Checkpoint-Blockade bestimmte Immunzellen als trojanische Pferde nutzen, um zu den Tumoren zu gelangen. Diese »dendritischen Zellen« nehmen die Mikroorganismen dabei aus dem Darm in sich auf und transportieren sie zu Lymphknoten der Bauchhöhle, von wo aus die Bakterien über das Lymphsystem zu den Krebsherden wandern. Dort triggern sie dann Immunreaktionen, die sich gegen die Tumorzellen richten.
Darmflora trainiert Immunsystem
Einen noch erstaunlicheren Mechanismus haben Forscherinnen und Forscher um Laurence Zitvogel vom Institut Gustave Roussy in Villejuif entdeckt. Ihren Erkenntnissen zufolge erkennen manche T-Lymphozyten bakterielle Merkmale, die Krebsantigenen ähneln – also Strukturen auf der Oberfläche von Tumorzellen, die Immunantworten auslösen. Normalerweise verschonen die T-Lymphozyten die entsprechenden Bakterien im Darm; werden sie aber durch die Checkpoint-Blockade entfesselt, greifen sie Zellen mit passenden Zielstrukturen an – einschließlich solcher in Tumoren. Denn T-Lymphozyten sind kreuzreaktiv: Sie erkennen und bekämpfen jeweils mehrere verschiedene Antigensorten, sofern diese sich untereinander hinreichend stark ähneln. Es erscheint daher vorstellbar, dass manche Bakterienarten das Immunsystem derart »trainieren«, dass es unter Einwirkung von Checkpoint-Inhibitoren bestimmte Tumormerkmale attackiert.
Wahrscheinlich wirke das Mikrobiom noch auf vielerlei andere, bisher unerforschte Weisen, vermuten die Fachleute. Zum einen kennen wir nur einen kleinen Teil der Darmflora-Bakterien, deren Artenzahl geschätzt in die Tausende geht. Ganz abgesehen von den zahllosen unbekannten Viren, Hefen und anderen Pilzen, die ebenfalls zu unseren Untermietern zählen. Zum anderen verträgt die große Mehrheit der mikrobiellen Darmbewohner keinen Sauerstoff, weshalb man sie unter normalen Kulturbedingungen nicht studieren kann und folglich wenig über sie weiß. Erschwerend kommt hinzu, dass der Krebs selbst das Mikrobiom verändern kann.
Immerhin ist klar geworden, dass manche uns besiedelnde Bakterien sich als vorteilhaft bei einer Immuntherapie erweisen und andere nicht. »Es gibt offensichtlich gute und schlechte Mikroben«, sagt Jennifer Wargo, die am MD Anderson Cancer Center eine Arbeitsgruppe zur Erforschung der Resistenzmechanismen bei Checkpoint-Therapien leitet. Im Sinne einer wirksameren Therapie müsse man gezielt die nützlichen Bakterien fördern und die schädlichen zurückdrängen. Der Stuhl- beziehungsweise Darmmikrobiota-Transfer ist dabei eine naheliegende Methode. Allerdings hat das Verfahren seine Grenzen: »Stuhlproben spiegeln die Zusammensetzung des Darmmikrobioms nur ungefähr wider«, schreiben Zitvogel und ihr Team in einem Fachartikel. Vor jedem Transfer muss das Material gereinigt, aufbereitet und auf Anwendungssicherheit geprüft werden – ein Verfahren, das als standardisierter Prozess schwer auf Mengen skalierbar ist, wie man sie für große Studien mit hunderten Teilnehmern benötigt.
Umstrittene Probiotika
Deshalb versuchen Mediziner, Kombinationen von Bakterienstämmen zu finden, die man den Patienten ergänzend zu einer Immuntherapie als »Probiotika« verabreichen könnte. Allerdings gibt es bis jetzt noch kein entsprechendes Produkt, das zugelassen ist. »Am relevantesten ist wahrscheinlich nicht die Individuenzahl eines bestimmten Mikrobenstamms, sondern ob das verabreichte Artenspektrum als Ganzes funktional ist«, warnt Zitvogel. Es sei fraglich, inwieweit einem Menschen zugeführte Bakterien dazu in der Lage sind, ihn zu besiedeln und eine Lebensgemeinschaft mit dem bereits vorhandenen Mikrobiom zu bilden. Außerdem verhalten sich manche Mikrobenspezies je nach Kontext unterschiedlich. Akkermansia muciniphila beispielsweise ist bei der Behandlung des nicht kleinzelligen Lungenkarzinoms (NSCLC) nur bis zu einer gewissen Menge vorteilhaft: Überschreitet die Zahl dieser Mikroben im Darm einen bestimmten Schwellenwert, geht das mit einer schlechteren Prognose einher.
Den Einsatz von Probiotika zu medizinischen Zwecken sehen manche Fachleute deshalb kritisch. Rückblickende Studien haben gezeigt: Patienten, die Probiotika vor einer Behandlung mit Checkpoint-Inhibitoren eingenommen hatten, sprachen auf die Therapie schlechter an. In Tierexperimenten wuchsen die Tumoren bei Probiotikazufuhr sogar schneller als ohne sie. Ärzte am MD Anderson Cancer Center raten ihren Patienten mittlerweile davon ab, frei verkäufliche Probiotika vor einer solchen Therapie einzunehmen.
Ärzte am MD Anderson Cancer Center raten ihren Patienten mittlerweile davon ab, frei verkäufliche Probiotika vor einer Krebsimmuntherapie einzunehmen
Eine bessere Methode könnte sein, das körpereigene Mikrobiom durch Diäten zu verändern. Dabei fördert man mit ausgesuchten Nahrungsbestandteilen wie Ballaststoffen, Omega-3-Fettsäuren oder Polyphenolen das Wachstum von vorteilhaften Bakterien. So wird derzeit an der University of Montreal ein Polyphenol, das man in der brasilianischen Beerensorte »Camu Camu« findet und das bestimmte Bakterien aus der Familie Oscillospiraceae fördern soll, als Nahrungsergänzung in Vorbereitung auf eine Checkpoint-Blockade erprobt. Und im Jahr 2020 startete am MD Anderson Cancer Center die »DIET-Study«, bei der Patienten mit fortgeschrittenem Melanom parallel zur Immuntherapie eine tägliche Mindestmenge von 50 Gramm Ballaststoffen erhalten – das ist ungefähr das Zweifache der allgemein empfohlenen Dosis. Dadurch sollen sich vorteilhafte Bakterien auf Kosten von ungünstigen Mikroben vermehren. Die Mahlzeiten werden durch speziell ausgebildete Köche zubereitet und den stationären Patienten gebracht sowie den ambulanten nach Hause geliefert.
Je weiter die Erforschung von Immuntherapien voranschreitet und je besser Fachleute den Einfluss des Mikrobioms verstehen, umso gezielter können sie den Behandlungserfolg durch eine geeignete Ernährung unterstützen. Laut Wargo ist es vorstellbar, dass die Beeinflussung des Mikrobioms in den kommenden Jahren zur festen Säule der Krebsmedizin wird.
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