Strukturvorhersage: Mit Mathematik und KI zum perfekten Kristall

Eine Handvoll chemischer Strukturformeln und ein Jahr Zeit: Das war alles, was die Teilnehmenden des jüngsten »Blind Test for Crystal Structure Prediction« bekamen. Nun war es ihre Aufgabe, für jedes der gegebenen Moleküle eine wahrscheinliche Kristallstruktur vorherzusagen. Dazu mussten sie die Atome virtuell in Position bringen und die streng geordneten Strukturen, welche die Moleküle im Kristall annehmen, simulieren. Also setzten sich theoretische Chemikerinnen und Chemiker weltweit hin, füllten ihre Kaffeetassen und begannen, an Hochleistungscomputern zu rechnen. Die experimentell ermittelten Strukturen der fraglichen Kristalle blieben bis zum Ende des Wettbewerbs streng unter Verschluss. Erst dann wurden die errechneten Ergebnisse mit ihnen verglichen.
Zahlreiche Forschende von Industrieunternehmen beteiligten sich an diesem »Blind Test«, der Wettbewerb ist alles andere als eine akademische Spielerei. Viele organische Materialien mit spezifischen Funktionen basieren auf Molekülkristallen, von Arzneimitteln bis hin zu Photovoltaikzellen. Etliche ihrer Eigenschaften, seien es Stabilität oder Bioverfügbarkeit, Farbe oder elektrische Leitfähigkeit, werden unter anderem durch die Anordnung der Moleküle im Kristall bestimmt.
Die siebte Auflage des »Blind Test«, zu Ende gegangen im Oktober 2024, war eine der bislang anspruchsvollsten. Gregory Beran, der als theoretischer Chemiker an der University of California Riverside zur Kristallstrukturvorhersage forscht, sagt dazu: »Mir hat sich ein Kommentar eines Experimentalchemikers eingebrannt. Er sagte, dies sei der erste Wettbewerb, bei dem die Zielmoleküle denjenigen ähneln, mit denen er tatsächlich arbeitet.« Doch würden die Kristallstrukturvorhersagen der Teilnehmenden den realen Strukturen auch wirklich nahekommen?
Im Labor ist es mitunter schwierig und langwierig, organische Moleküle zum Kristallisieren zu bringen. Zudem sind viele organische Stoffe polymorph: Sie können verschiedene kristalline Formen annehmen. Sogar in Verbindungen, die augenscheinlich gut zu handhaben sind, können sich unentdeckte Polymorphe verstecken. Wenn sie plötzlich auftauchen, kann das etwa den Markteintritt eines dringend benötigten Medikaments verzögern. Denn unterschiedliche Kristallstrukturen bedeuten meist unterschiedliche Eigenschaften.
Die Kristallstrukturvorhersage könnte ein theoretisches Werkzeug sein, mit dem man solche praktischen Anstrengungen begleitet: Mit ihr ließen sich im übertragenen Sinn Landkarten erstellen, die helfen, das weite Feld der Molekülkristalle zu erkunden. So könnten solche Karten etwa Kristallstrukturen und Eigenschaften in Bezug zueinander setzen – oder gar Gebiete aufzeigen, in denen sich vermutlich neue Materialien entdecken lassen.
Außergewöhnliche Materialien und wo man sie findet
Dabei galt es jahrzehntelang als unlösbares Problem, Kristallstrukturen im Voraus zu berechnen. 1988 brachte der damalige »Nature«-Redakteur John Maddox seinen Frust darüber zu Papier: »Es ist einer der anhaltenden Skandale der Naturwissenschaften, dass es grundsätzlich unmöglich ist, die Struktur auch nur der einfachsten kristallinen Festkörper anhand ihrer chemischen Zusammensetzung vorherzusagen.«
Beran sagt dazu: »Kristallstrukturvorhersage erscheint einfach, bis man ernsthaft über die Schwierigkeiten nachdenkt, die sich dabei stellen.« So muss man für jedes gegebene organische Molekül erst einmal zufällig eine breit gefächerte Menge an möglichen Kristallpackungsstrukturen erstellen. »Die erste Herausforderung dabei ist, dass es sehr viele Möglichkeiten gibt«, erklärt Beran. Bei so einer zufälligen Strukturerstellung können 105 bis 107 Strukturvorschläge herauskommen.
»Kristallstrukturvorhersage erscheint einfach, bis man ernsthaft über die Schwierigkeiten nachdenkt, die sich dabei stellen«Gregory Beran, Kristallstrukturexperte
Um zu prognostizieren, welche dieser unzähligen Strukturen vielleicht irgendwann in einem Chemielabor auftauchen könnte, wird als Nächstes die relative Energie jeder einzelnen Struktur berechnet und dadurch ermittelt, welche Molekülanordnungen am stabilsten sind. Graeme Day, Experte für Kristallstrukturvorhersage an der University of Southampton in Großbritannien, beschreibt das Vorgehen so: »Normalerweise geht man das Problem an, indem man in der Energielandschaft nach lokalen Minima sucht. Die energetische Landschaft ergibt sich aus den Freiheitsgraden, die eine Kristallstruktur definieren.«
Allerdings besitzt sogar die einfachste Kristallstruktur schon zwölf Freiheitsgrade – das macht zwölf Dimensionen (als Freiheitsgrade zählen etwa Rotationen, also Drehungen um eine Achse, oder Translationen, das heißt Bewegungen in eine der drei Raumrichtungen). »Lokale Minima in einer zwölfdimensionalen Energielandschaft zu finden, ist schon ein großes Problem. Und die meisten Dinge, die wir uns ansehen, haben noch mehr Dimensionen«, sagt Day. Zusätzliche Freiheitsgrade kommen etwa ins Spiel, wenn sich Molekülteile frei um eine Bindung drehen können oder wenn der Kristall aus mehr als nur einer Molekülsorte besteht.
Was das Ganze noch schwieriger macht: Die Computermodellierung muss extrem genau sein. Nur dann sortiert sie nämlich die einzelnen Strukturen korrekt nach ihren Energien. »Wenn man die lokalen Minima hat, muss man wissen, welches davon das niedrigste ist – das heißt, welches die geringste freie Energie besitzt«, erläutert Day. »Und sie liegen sehr dicht beieinander, manchmal unterscheiden sie sich nur um wenige Kilojoule pro Mol.« Die riesige Anzahl an möglichen Strukturen, die zu untersuchen sind, erschwert das Problem der richtigen Sortierung zusätzlich.
Seit seinem ersten Durchlauf im Jahr 1999 zeigt der CSP Blind Test, wo die Kristallstrukturvorhersage in Bezug auf diese verschachtelten Probleme steht und welche Fortschritte sie macht. Während der ersten Wettbewerbe war es die Methode der Wahl, mit Kraftfeldern zu arbeiten: Das sind Sammlungen mathematischer Gleichungen, die die stabilste Kristallstruktur vorhersagen, indem sie die Kräfte zwischen den einzelnen Atomen abschätzen.
Kristallstrukturen mit sehr ähnlichen Energien
Es ist eine enorme Herausforderung, Kristallstrukturen korrekt nach ihrem Energiegehalt zu sortieren, wenn sich diese nur sehr wenig unterscheiden und zahlreiche, fein ausbalancierte Kräfte am Werk sind. Beran erklärt: »Faktoren wie Wasserstoffbrückenbindungen, Dipol-Dipol-Wechselwirkungen oder Pi-Stapelkräfte stehen in einem sehr subtilen Wettbewerb miteinander und beeinflussen sich gegenseitig. Und oft konkurrieren sie noch mit der Anordnung der Atome innerhalb des Moleküls, der Konformation.« Mit all diesen Wechselwirkungen, die sich teils verstärken und teils aufheben, erhält man viele Strukturen, die am Ende fast dieselbe Energie haben.
Obwohl es in den ersten Jahren des Wettbewerbs nur um kleine, einfache, starre Moleküle ging, gab es ernüchternd wenige erfolgreiche Vorhersagen. Die Kraftfeld-Methode hatte ihre Schwierigkeiten, mit den vielen unterschiedlichen Arten von Wechselwirkungen und dem Nebeneinander von innermolekularen und zwischenmolekularen Kräften zurechtzukommen.
Mitte der 2000er-Jahre begann Day seine wissenschaftliche Karriere als Forschungsgruppenleiter – rund zwei Jahrzehnte, nachdem der »Nature«-Journalist Maddox sich über den ausbleibenden Fortschritt beschwert hatte. Manch einer stellte damals gar die ganze Strategie der Theoretiker infrage. »Die geringen Trefferquoten in den ersten Durchgängen des Wettbewerbs vermittelten Fachleuten außerhalb des Forschungsfelds den Eindruck, wir würden keine Fortschritte machen«, erzählt Day. Die Frage stand im Raum, ob sie vielleicht grundsätzlich einen falschen Ansatz verfolgten. Kam es am Ende gar nicht auf die relativen Energien der Kristallstrukturen an, sondern auf etwas anderes?
Genauere Kristallstrukturen mittels Dichtefunktionaltheorie
Der Durchbruch kam 2007. Ein Team, das am vierten »Blind Test« teilnahm, erweiterte seine Berechnungen um eine weitere Modellierungsebene. Mit im Team war der Forscher Marcus Neumann, Mitarbeiter beim deutschen CSP-Softwareexperten Avant-garde Materials Simulation. Das Team ordnete zunächst die infrage kommenden Strukturen grob mittels der Kraftfeld-Methode nach ihren relativen Energien an. Anschließend analysierten die Fachleute die besten Treffer nochmals mithilfe der Dichtefunktionaltheorie (DFT). Diese Methode ist deutlich rechenaufwendiger und basiert auf quantenmechanischen Modellierungen. Mit diesem kombinierten Ansatz sagte das Team jede einzelne Kristallstruktur korrekt vorher.
Das Ergebnis bestätigte, dass es richtig gewesen war, sich auf die Energiegehalte zu fokussieren, sagt Day. »Man sah: Wenn man es sich leisten kann, sehr genaue Modelle anzuwenden, dann klappt dieser Ansatz.« Doch die erste Welle mittels DFT vorausgesagter Molekülkristallstrukturen basierte auf sehr kleinen und einfachen Molekülen. Sie waren noch weit von jenen Fällen entfernt, die experimentelle Chemiker nachts um den Schlaf bringen.
Seither wurde die DFT-basierte Kristallstrukturvorhersage weiter verfeinert. Beran hat etwa eine Korrektur eingebaut, die berücksichtigt, dass DFT-Kalkulationen die Delokalisierung von Elektronen in organischen Molekülen häufig überschätzen (Delokalisierung bedeutet, dass sich Elektronen über mehrere Bindungen hinweg verteilen). »Es hat zwar ein oder zwei Jahrzehnte gedauert, aber wir kommen gerade an den Punkt, an dem wir selbst für komplexe pharmazeutische Wirkstoffmoleküle erfolgreiche Vorhersagen erwarten. Und immer öfter liefern die Berechnungen sinnvolle Informationen«, sagt Beran.
Polymorphe machen Medikamente unwirksam
Eine Branche heißt die Fortschritte der Kristallstrukturvorhersage besonders willkommen und treibt sie voran: die Pharmaindustrie. Denn mit der Methode lässt sich nach neuen Feststoffmedikamenten suchen. In der Vergangenheit stellte sich in einigen Fällen überraschend heraus, dass Wirkstoffe Polymorphe bildeten – teils waren die Medikamente zu diesem Zeitpunkt schon jahrelang in Apotheken verfügbar. Diese zusätzlichen Kristallformen können wichtige Eigenschaften wie die Löslichkeit oder die Stabilität eines Stoffs verändern. Das verzögerte die Markteinführung von Medikamenten und sorgte sogar dafür, dass Wirkstoffe zurückgezogen werden mussten, von HIV- bis zu Parkinsonmedikamenten. In Fachkreisen berühmt wurde der Fall des Anti-HIV-Wirkstoffs Ritonavir, bei dem man die Polymorphbildung zwei Jahre nach Markteinführung entdeckte. Heute nutzt man die Kristallstrukturvorhersage breit, um vor möglichen Pharma-Polymorphen zu warnen, die beim experimentellen Screening unentdeckt bleiben.
Auch andere Forschungsfelder beginnen die Technik anzunehmen. »In den frühen Tagen wandten wir DFT-Berechnungen auf Systeme mit bereits bekannten Kristallstrukturen an, um zu sehen, ob wir sie korrekt berechnen konnten. Das ist für die Methodenentwicklung zwar nützlich, aber es überzeugt nicht die große Masse«, sagt Day. »Dazu braucht es Fälle, bei denen man anhand von Vorhersagen entscheidet, welche Moleküle man herstellt, und dann eine neue Struktur findet, die vorhergesagt wurde.«
Solche Momente werden laut Day immer häufiger, etwa bei pharmazeutischen Wirkstoffen oder in der Materialentwicklung. So auch bei der Forschung an porösen Materialien, in die der Theoretiker involviert war.
Glossar: Kristalle
Kristallstruktur: regelmäßige dreidimensionale Anordnung von Atomen oder Molekülen in einem Kristall. Die Anordnung setzt sich in alle drei Raumrichtungen unendlich fort.
Kristallstrukturvorhersage: die theoretische Vorhersage, wie sich gegebene Moleküle dreidimensional zueinander anordnen, wenn sie einen kristallinen Feststoff bilden.
Polymorphe: zwei oder mehr mögliche Kristallstrukturen derselben Molekülsorte.
Co-Kristall: ein Kristall, bei dem mindestens zwei unterschiedliche Molekülsorten in das Kristallgitter eingebaut sind.
Während einer Zusammenarbeit mit dem Experimentalchemiker Andrew Cooper an der University of Liverpool sagten Day und sein Team die Struktur einer neuen Klasse von porösen Kristallen vorher. Außerdem ermittelten sie theoretisch, wie gut sich diese eignen sollten, um Methan zu speichern oder Mischungen von Kohlenwasserstoffen in ihren Poren selektiv voneinander zu trennen.
Für gewöhnlich sind organische Kristalle am stabilsten, wenn ihre Moleküle so dicht wie möglich zusammengepackt sind – was poröse Strukturen entsprechend instabil macht. Dennoch konnte das Team einige der vorgeschlagenen porösen Strukturen im Labor herstellen. Um sie zu stabilisieren, ließ es die Moleküle zusammen zunächst in Gegenwart von Lösungsmittelmolekülen kristallisieren, die als »Gastmoleküle« die Poren besetzten. Die experimentell ermittelten Eigenschaften dieser organischen Kristalle passten gut zu den vorausberechneten.
Fotomechanische Materialien: Gewichtheben dank Lichtreiz
Berans Team arbeitet daran, Kristalle mit starken fotomechanischen Eigenschaften vorherzusagen und herzustellen. »So, wie die Moleküle in diesen organischen Kristallen gepackt sind, können sie im festen Zustand eine fotochemische Reaktion durchlaufen«, erklärt Beran. Bestrahlt man den Kristall mit Licht, verändert er sich durch eine dadurch ausgelöste Reaktion physisch: Das Material biegt sich etwa, hüpft, wird länger oder zieht sich zusammen. Mit solchen Stoffen könnte man also nützliche physische Arbeit verrichten.
»Es gibt Beispiele dafür, dass wenige Milligramm eines fotomechanischen Materials Hunderte Gramm Gewicht heben«, sagt Beran. »Wir haben herausgefunden, dass Veränderungen der Kristallpackung eines gegebenen Moleküls einen enormen Einfluss darauf haben, wie er auf den Lichtreiz reagiert.«
In Polymorphen, in denen die Moleküle parallel zueinander angeordnet sind, ändert sich durch die Bestrahlung mit Licht die Form jedes Moleküls entlang derselben Achse. Solche Materialien zeigen die größten Verlagerungen im Gesamtkristall. Wie das Team um Beran gefunden hat, kann ein Polymorph eine 40-fach höhere Arbeitsdichte aufweisen als ein anderer Polymorph desselben Moleküls. Derart große Unterschiede lassen sich durch klassisches Kristalldesign nur erzeugen, indem man verschiedene fotochemische Reaktionen oder verschiedene Moleküle vergleicht – wenn überhaupt.
Solche Studien geben einen Vorgeschmack darauf, was die Kristallstrukturvorhersage zur Entdeckung neuer Materialien beitragen könnte. Momentan steht dem Ganzen noch der hohe Rechenaufwand der DFT-Analyse im Weg. Er macht die Technik nicht zugänglicher – im Gegenteil.
Im 2024 zu Ende gegangenen Wettbewerb kamen die besten Teams aus Unternehmen mit ausgewiesenen Spezialisten in verschiedenen Gebieten: von Struktursuche über Quantenchemie bis zur Simulation freier Energien. »Jetzt, wo wir zu diesen komplexen Systemen vordringen, ist es zunehmend schwierig für Fachleute aus einem einzelnen Bereich, alles zu machen«, sagt Beran. Kristallstrukturvorhersage auf höchstem Niveau wird selbst für spezialisierte Akademiker schwieriger.
Lange Rechenzeiten, viel Energieaufwand
Eine weitere Herausforderung ist der Rechenaufwand, der für DFT nötig ist. Nur wenige außerhalb des Pharmasektors können ihn sich leisten. Energieberechnungen mittels DFT können um den Faktor 103 bis 105 rechenaufwendiger sein als die Berechnung von Kraftfeldern, sagt Day. Die damit verbundenen CO2-Emissionen durch Supercomputer sind nicht vernachlässigbar, und die Berechnungen dauern lange, was die Anzahl an durchführbaren Kristallstrukturvorhersagen beschränkt. »Wir brauchten einige Monate der uns zugeteilten Rechenzeit auf Archer, dem nationalen Hochleistungscomputer in Großbritannien, um die acht oder neun Moleküle für unsere erste Studie zu den porösen Materialien zu ermitteln«, erläutert Day.
Die Zeit, die es braucht, um die Zahlen durchzurechnen, schmälert den Nutzen der Technik, wie Day hinzufügt. »Wir treiben die Komplexität der Systeme, auf die wir die Kristallstrukturvorhersage anwenden können, an einen Punkt, an dem es manchmal länger dauert, die Vorhersagen zu machen, als die Experimente durchzuführen.«
»Wir trainieren Modelle darauf, die Energien von Kristallen ähnlich genau vorherzusagen wie mit DFT, aber zu einem Bruchteil der Rechenkosten«Graeme Day, theoretischer Chemiker
Man könnte den Flaschenhals der DFT-Rechnungen beispielsweise kappen, indem man die Vorhersage mittels künstlicher Intelligenz (KI) beschleunigt. Day untersucht diese Möglichkeit derzeit mit seinem Team. »Wir trainieren Modelle darauf, die Energien von Kristallen ähnlich genau vorherzusagen wie mit DFT, aber zu einem Bruchteil der Rechenkosten«, sagt er. »Erst im Jahr 2024 haben wir eine Arbeit veröffentlicht, in der wir 1000 Moleküle berechnet haben. Jetzt arbeiten wir schon mit mehreren Tausend.«
Dieses Maß an Beschleunigung erweitert die Bandbreite an Molekülen, die sich auf der Suche nach neuen organischen Materialien mit gezielten Eigenschaften erforschen lassen, erklärt Day. »In unserer DFT-basierten Arbeit an porösen Materialien mussten wir eine Vorstellung davon haben, wie die Moleküle aussehen, die wir suchen, da wir uns nur etwa zehn von ihnen genauer ansehen konnten«, sagt er. »Jetzt, wo wir KI zur Hilfe haben, können wir einen viel größeren chemischen Raum entdecken.«
Kann maschinelles Lernen helfen – und wenn ja, wie?
Day untersucht unter anderem die Frage, welche Maschinenlern-Methode für welches Szenario der Kristallstrukturvorhersage am nützlichsten ist. So könnte eine KI etwa direkt lernen, die Beziehung zwischen der Geometrie und der freien Energie einer Kristallstruktur zu modellieren. Oder aber man könnte die Vorhersage schneller und genauer machen, indem man maschinelles Lernen und die Kraftfeldtheorie zusammen anwendet. Diese Technik nennt sich Delta Machine Learning: Die eingesetzten KI-Modelle werden auf die Unterschiede zwischen den Energieberechnungen mittels Kraftfeldtheorie und denen mittels weiter entwickelter Ansätze wie DFT trainiert. Das so trainierte KI-Modell kann dann das Ergebnis einer weniger aufwendigen Kraftfeld-Modellierung rasch korrigieren. Damit ergibt sich ein Energie-Ranking, das annähernd so genau ist wie jenes einer DFT-Rechnung.
Es ist sogar möglich, das Delta-Lernen iterativ durchzuführen: Ein zweites Modell vergleicht dabei das Ergebnis des ersten Modells mit echten DFT-Berechnungen und lernt so, eine zweite Korrekturrunde zu machen. Jeder iterative Schritt ist für KI-Modelle einfach zu lernen. »Delta-Lernen wird sich weiter auszahlen, denn wir werden künftig weniger Trainingsdaten benötigen, um eine Referenzenergie zu korrigieren«, prognostiziert Day.
Beran zufolge ist KI zwar vielversprechend, befindet sich aber noch im Anfangsstadium. Seiner Ansicht nach gibt es bislang noch keine klaren Erfolge, bei denen KI einen wegweisenden Einfluss hatte. »Aber ich denke, das kommt.« Inzwischen experimentieren Forschende auch mit generativen KI-Modellen und nutzen sie unter anderem dafür, neue Moleküle vorzuschlagen, die sich per Kristallstrukturvorhersage untersuchen lassen.
Der Gegenentwurf: Keine KI, kein Rechnen, nur reine Logik
Neben KI-Methoden gibt es eine weitere Strategie, um die Rechenkosten der Kristallstrukturvorhersage zu senken. Sie basiert auf Quellen wie der Cambridge Structural Database (CSD), in denen riesige Mengen an experimentell ermittelten Kristallstrukturdaten lagern. Diese Bestände kann man durchforsten, um bislang unentdeckte Regeln auszumachen – mit menschlicher Intelligenz, wie Mark Tuckermann von der New York University in den USA gezeigt hat.
Im November 2024 veröffentlichte Tuckermann ein Rechenprotokoll, das er CrystalMath taufte. Es sagt Kristallstrukturen vorher, indem es einen Satz einfacher topologischer Regeln anwendet, abgeleitet aus der Cambridge-Strukturdatenbank. Das Team um Tuckermann wandte die Methode auf eine der schwierigeren Strukturen aus dem sechsten »Blind Test« an. 14 Forschungsgruppen hatten sich an einer Strukturvorhersage für die Substanz versucht. Die erfolgreichsten Teams sagten mittels DFT-gestützter Verfahren nur einen Teil der bekannten Polymorphe voraus und benötigten dafür so viel Rechenleistung, dass ein durchschnittlicher Laptop dazu mehrere Hunderttausend Stunden gebraucht hätte. CrystalMath sagte in bloß 32 Stunden alle fünf bekannten Polymorphe vorher; das Programm lief dabei auf einem gewöhnlichen Laptop.
Tuckermann wurde während seiner Forschung davon angespornt, dass konventionelle quantenmechanische Modellierungsansätze so quälend lange brauchten. »Manchmal funktioniert es, manchmal nicht. In der Zwischenzeit sind dir deine experimentellen Kollegen schon zwei Jahre voraus«, fasst der Forscher die frustrierende Situation zusammen.
Inspiriert wurde sein neuer Ansatz von einer Veröffentlichung des Mathematikers und Kristallografen Johann Jakob Burckhardt aus dem Jahr 1967. Der Forscher hatte darin die Entdeckung der 230 kristallografischen Raumgruppen aufgearbeitet. Die Raumgruppen beschreiben die möglichen Symmetrien, die ein dreidimensionaler Kristall aufweisen kann.
»Burckhardt verfolgte die Idee, dass sich Kristallstrukturen möglicherweise rein mathematisch vorhersagen lassen«, erklärt Tuckermann. »Da es diese schöne Theorie der Raumgruppen gibt, existieren vielleicht noch weitere mathematische Regeln, die bestimmen, wie sich Moleküle zu Kristallen anordnen. Wir haben also die Cambridge-Datenbank heruntergeladen und haben uns dazu Fragen überlegt.«
Eine Datenbank und 230 Raumgruppen
Der Prozess dauerte fünf Jahre. »Wenn man beginnt, die richtigen Fragen zu stellen, erkennt man Muster, die recht einfachen Regeln folgen«, sagt Tuckermann. »Daraus konnten wir ein Schema entwickeln, um Kristallstrukturen an unserem eigenen Laptop vorherzusagen.«
Eine dieser Regeln bezieht sich auf bestimmte Drehachsen, die vorhersagen, wo sich der Großteil der Molekülmasse befindet. »Kristalle mit sehr hoher Dichte, also solche, in denen die Moleküle möglichst effizient zusammengepackt sind, sind oft die energetisch günstigsten. Die Moleküle können sich also nur wenig darin bewegen«, erläutert Tuckermann. »Das bedeutet umgekehrt: In stabilen Kristallen haben Moleküle nicht viel Rotationsspielraum. Wenn man so vorgeht, kann man also schon eine der Regeln entdecken, die in der Datenbank gut abgebildet ist.«
»Wenn man beginnt, die richtigen Fragen zu stellen, erkennt man Muster, die recht einfachen Regeln folgen«Mark Tuckermann, CrystalMath-Erfinder
Wie das Team herausfand, sind in stabilen Strukturen die drei Hauptrotationsachsen des Moleküls orthogonal zu bestimmten Merkmalen der Kristallstruktur ausgerichtet, die man kristallografische Ebenen nennt. In dicht gepackten stabilen Kristallen, in denen die Moleküle kaum Rotationsfreiheit haben, sollten diese Hauptrotationsachsen gute Indikatoren dafür sein, wo sich die Masse des Moleküls (hauptsächlich) befindet, sagt Tuckermann. »Es ergibt Sinn, dass um diese Achse keine Drehung stattfinden kann, da das Molekül sonst an zu viele andere Atome stößt.«
Die Technik ist nicht nur schnell, sondern auch selektiv. Sie sagt lediglich eine kleine Anzahl an Polymorphen voraus und umgeht dadurch ein Problem, das sich bei der Kraftfeld-Methode und der DFT-Berechnung stellt: Beide Methoden sagen eine große Menge an Strukturen voraus, von denen jedoch viele niemals experimentell beobachtet werden. »Die bessere Trefferquote liegt meines Erachtens daran, dass unsere Regeln von bekannten Kristallstrukturen inspiriert sind – also erhält man experimentell realisierbare Strukturen, falls die Regeln stimmen«, erklärt Tuckermann.
CrystalMath: Weniger ist mehr
Beran und Tuckermann wollen künftig untersuchen, ob sich die Vorhersagen von CrystalMath mit Hochleistungscomputern kombinieren lassen, um der Mathematik noch eine Vorhersage der Energien hinzuzufügen. Und da CrystalMath nur wenige mögliche Strukturen vorschlägt, könnte man dabei über DFT-Rechnungen hinausgehen und sogar ausgefeiltere Theorien anwenden. So will Beran »eine wirklich hochwertige Kristallstrukturvorhersage« ermöglichen, in einem Tausendstel der benötigten Rechenzeit.
Es wäre aber auch möglich, hypothetische Strukturen ganz ohne aufwendige quantentheoretische Berechnungen vorauszusagen, postuliert Tuckermann. Man müsse schlicht beurteilen, wie gut jede Struktur den topologischen Regeln folgt. »Ich glaube, es gibt noch mehr Regeln zu entdecken.« So hat sein Team erst kürzlich herausgefunden, dass Bindungen zwischen schweren Atomen innerhalb eines Moleküls vorzugsweise in bestimmten, vorhersagbaren Ebenen liegen – auch das ergab sich aus der Analyse der Datenbank. Ebenso untersucht der Theoretiker, wie gut sich mit der Methode schwierige Strukturen vorhersagen lassen, etwa sehr flexible Moleküle, Co-Kristalle, Salze oder Hydrate.
»Falls CrystalMath sein Eingangsversprechen hält, besteht meines Erachtens viel Potenzial, die Kristallstrukturvorhersage grundlegend zu verändern und zu einem Werkzeug zu machen, das nicht nur Unternehmen mit enormen Budgets wie Pharmaunternehmen nutzen können«, urteilt Beran. Momentan sei die Kristallstrukturvorhersage noch eine Nischenanwendung, weil bloß wenige Menschen auf der Welt sie gut beherrschten. Das könnte sich jedoch bald ändern. »Wenn wir sie für jedermann verfügbar machen, dann könnte dieses Feld einen viel, viel größeren Einfluss haben als heute.«
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