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Jahresrückblick: Kritik erwünscht

Das Jahr der medizinisch-biologischen Forschung 2006 ist das erste nach dem Publikationsskandal des Vorjahres. Dass dieser unvergessen bleibt, stärkt gute Wissenschaft offenbar: Selten ist Fragwürdiges kritischer beleuchtet und häufiger enttarnt worden wie in den zurückliegenden zwölf Monaten. Zugleich kam dennoch viel Hoffungsvolles, Skurriles und allerlei Wunderliches aus dem Reich des Lebens ans Licht.
Vogelflug
Stammzellenskandal? Fälschungsvorwürfe? Was heute nach Schnee vom vorvorgestern klingt, ist tatsächlich gerade erst im Januar 2006 offiziell verlautbart worden. Hwang Woo Suk – der Stammzellforscher, der mehr schien, als er wirklich war –, hat noch im Februar bestritten, im März dann halb, im Juli fast ganz gestanden. Erst im November vor wenigen Wochen ist der Skandal von den Gremien des mitgeschädigten Fachjournals Science vorläufig resümierend ad acta gelegt worden. Tendenz des Abschlussberichtes: Wiederholung nicht ganz auszuschließen, auch bei den vorsichtigsten, sorgfältigsten Zeitschriften.

RNA-Interferenz: Arbeitsteilung verschiedener Enzyme | Der Nobelpreis für Physiologie oder Medizin des Jahres 2006 ging an die Amerikaner Andrew Fire und Craig Mello – sie hatten den wichtigen zellregulatorischen Prozess der RNA-Interferenz und die beteiligten biochemischen Mechanismen auseinandergedröselt. Bei der RNAi zerhäckselt die Endonuclease "dicer" zunächst doppelsträngige RNA in kleinere Stücke (siRNA). Der sequenzhomologe antisense-Abschnitt dieser kurzen RNA-Schnipsel wird dann vom "RISC-Komplex" aufgenommen und mit dem Ziel-Boten-RNA-Strang verpaart. Daraufhin schneidet RISC die Boten-RNA ab, sie wird anschließend abgebaut.
Damit ist nicht die falsche Behauptung des koreanischen Mediziners, menschliche Embryonen klonen zu können, Thema des Jahres – sondern die beunruhigende Tatsache, dass die vermeintliche Sensationsmeldung es trotz eingespielter Selbstkontroll-Mechanismen der Wissenschaftsgemeinde auf die renommierteste aller wissenschaftlichen Präsentationsplattformen schaffen kann. Das hat verunsichert – und offenbar schon jetzt einiges in der Wahrnehmung und Darstellung von Wissenschaft verändert. Als Beleg könnten gehäufte Berichte über medizinische Fehlschläge des Jahres 2006 herangezogen werden.

Ein Jahr der Skandale – oder der Sensibilität?

Jedenfalls ins Anno horribilis gehörte an erster Stelle der fatal verunglückte Medikamententest in London, der sechs britische Freiwillige Mitte März lebensgefährlich erkranken ließ. Ein gegen Autoimmunkrankheiten maßgeschneiderter monoklonaler Antikörper hatte nicht, wie im Tierversuch an Affen, regulierende T-Zellen des Immunsystems aktiviert, sondern einen Zytokinsturm, eine unkontrolliert-heftige Immunsystem-Generalattacke, ausgelöst – trotz einer völlig ordnungsgemäß durchgeführten Testreihe, richtiger Dosierung und vorschriftsmäßiger Reinheit der verwendeten Substanzen. Den sechs Patienten geht es mittlerweile besser – die Würzburger Pharmafirma, die Hoffnung und Ressourcen auf das Mittel gesetzt hatte, ist insolvent.

Dies war allerdings nur das öffentlichkeitswirksamste Aufflackern von der Spitze des globalen Lebenswissenschaften-Leuchturms, der in diesem Jahr plötzlich unerfreulich zu bröckeln schien. Im Frühjahr geriet etwa das viel verschriebene Medikament Glivec in den Verdacht, Herzversagen auszulösen; im April tauchten Berichte auf, ein zur Gentherapie eines Immundefektes angedachter DNA-Schnipsel führe bei Mäusen zu Leukämie. Nach der beschädigten Science bekam im August auch die Konkurrenz von Nature ihr Fett weg: Die Zeitschrift widersprach – für den Geschmack vieler Berichterstatter reichlich spät – mit einer ungewöhnlichen Klarstellung einer nicht selbst verantworteten, verfälschten Zusammenfassung. In dieser war zunächst die Bedeutung einer Nature-Stammzellstudie in allzu rosigen Farben herausposaunt und nahe gelegt worden, dass bald embryonale Stammzellen ohne die Zerstörung von Embryonen gewonnen werden könnten. Dies wäre in der Tat ein lang gesuchter eleganter Ausweg aus einem ethischen Dilemma gewesen – wäre. War es aber eben nicht, wie Nature präzisieren musste.

Dass wirtschaftliche Zwänge dazu beitragen können, ein Ergebnis aufzuhübschen, belegte im Mai eine Metaanalyse: Die Ergebnisse medizinischer Publikationen, so deren Schlussfolgerung, hängt maßgeblich auch davon ab, wer die Untersuchung bezahlt und in Auftrag gegeben hat und am Resultat der Studie finanzielles Interesse haben muss.

Cuvier-Schnabelwal | In der Disziplin Tieftauchen der Säugetiere setzte Ziphius cavirostris ein Ausrufezeichen: Die Cuvier-Schnabelwale wurden vor der ligurischen Küste in 1900 Meter Tiefe erwischt und pulverisierten damit die alte Bestmarke der Pottwale. Die neu gekürten Tieftauch-Champs verbrachten zwischen dem Luftholen bis zu 85 Minuten unter Wasser.
Genauer betrachtet gedeiht im Kielwasser des Skandals allerdings gerade auch die Bereitschaft, Schwierigkeiten zu benennen und Fehlschläge einzugestehen – durchaus hilfreich für echten Fortschritt. Das Musterbeispiel des Jahres lieferte die so genannte RNA-Interferenz: Zwei unabhängige Studien an Fliegen und Ratten betonten recht ungeschminkt die Probleme, die eine praktische Anwendung der Technik in Versuchstieren haben könnte. Anfang Oktober erhielten – trotzdem völlig zu recht – Andrew Fire und Craig Mello den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin des Jahres dafür, dass sie den Mechanismus der RNA-Interferenz überhaupt entdeckt haben. Die RNAi ist ein derart nützlichen Kniff der Zelle, ihre genetische Aktivität zu kontrollieren, dass Mediziner ihn sicherlich auch einmal praktisch nutzen können – wenn gut Ding mehr Weile als Veröffentlichungsdruck und Finanzierungsprobleme hat.

Krankheiten im Rückzugsgefecht

Erste Anzeichen für Optimismus auf diesem Forschungsfeld gibt es durchaus: Bonner Wissenschaftler konnten zum Beispiel zeigen, dass die Prionen-Krankheit Scrapie bei Schafen mit RNA-Interferenz vielleicht zu bremsen ist. Insgesamt aber sind die Prionen-Erkrankungen 2006 von anderen Malaisen aus den Schlagzeilen gedrängt worden. Ergiebig war der Jahrgang besonders für Alzheimerdemenz-Forscher – pünktlich zum 100. Jahrestag des berühmt gewordenen Tagungsvortrages eines gewissen Alois Alzheimer. Neben nützlichen Kleinigkeiten – auch Katzen können an der Demenz leiden; Sport und strikte "Mittelmeerdiät" verringert, chronischer Sauerstoffmangel im Gehirn erhöht das Erkrankungsrisiko – kamen dabei auch unerwartete Erkenntnisse ans Licht, etwa über einen möglichen Zusammenhang zwischen Alzheimerdemenz und Krebs oder Depression.

Konkreter benannt werden konnte unter anderem die Rolle des Schnittenzyms Cathepsin B im Frühherbst. Offenbar ist dessen Rolle im Krankheitsbild bisher falsch eingeschätzt worden, denn die "CatB"-Sekretase sorgt nicht, wie erst gedacht, für die Bausteine der fatalen, krankmachenden Proteinaggregate zwischen den Nervenzellen, sondern kann im Gegenteil sogar den vor den Neuronen gestapelten Amyloid-Beta-Eiweißmüll abbauen helfen. Bis diese Erkenntnis in einem Medikament mündet, legen die Ergebnisse von Giulio Maria Pasinetti und Kollegen eine Ersatztherapie nahe: Bei ihren Versuchsmäusen beugte Cabernet-Sauvignon-Rotwein in mäßiger täglicher Dosis Alzheimer-Symptomen vor. Apfelsaft, sekundiert ein Team um Thomas Shea, könne aber auch nicht schaden – Geschmackssache.

Apropos: Dass Essen und Trinken gesund machen kann, haben natürlich viele andere Forscherteams im Jahr 2006 gerne bestätigt, oft anhand recht kreativer statistischer Auswertungen. Willkürlich zusammenfassend ließe sich konstatieren, dass ein Gemisch aus Kirschsaft, Grünem Tee, Apfelsaft und braunem Seetang wohl gegen Muskelkater, Vergesslichkeit, Fettpolster und zu kurze Lebensdauer eingesetzt werden kann. Und, ach ja: Ziegenmilch, so hieß es im August, bremst Durchfall. Falls gegen die zu erwartenden Magenschmerzen nichts hilft, hilft vielleicht doch die gute alte Wärmflasche – deren bislang unerklärtes Wirkungsprinzip übrigens Brian King und Kollegen in diesem Jahr aufgedeckt haben, unerklärlicherweise im heißen Juli.

Tierische Tops

Wanderung des Dunklen Sturmtauchers | Beeindruckend sind die Wanderwege des Dunklen Sturmtauchers (Puffinus griseus) – die Vögel nisten im Südpazifik, versorgen sich sonst aber auch durchaus in dessen Nordhälfte. Insgesamt können sie dabei bis zu 65 000 Kilometer zurücklegen, stellten Forscher anhand von mit Sendern markierten Exemplaren fest. Unter der Wasseroberfläche fühlen die Tiere sich allerdings auch recht wohl: Auf der Jagd nach kleinen Tintenfischen, Fischen oder Garnelen tauchen sie auch schon einmal 68 Meter tief, belegten die Senderdaten.
Damit von den letzten Grenzen der Medizin zu denen der Biologie, und hier zu den im Jahr 2006 neu gekürten Weltrekordhaltern. In der Disziplin Tieftauchen der Säugetiere setzte Ziphius cavirostris ein Ausrufezeichen: Die Cuvier-Schnabelwale wurden vor der ligurischen Küste in 1900 Meter Tiefe erwischt und pulverisierten damit die alte Bestmarke der Pottwale. Die neu gekürten Tieftauch-Champs verbrachten zwischen dem Luftholen bis zu 85 Minuten unter Wasser. Ein anderer Taucher machte dagegen über Wasser von sich reden: Dunkle Sturmvögel (oder -taucher, Puffinus griseus) legen alljährlich bis zu 65 000 Kilometer zwischen Brutgebieten und Nahrungsgründen zurück, ein unbestätigter neuer Wanderrekord. An Land beherrschte die Kategorie Tagesstrecken-Greifvogelflug 2006 dagegen, unbestechlich gestoppt, die Wiesenweihe "Rudi". Der Vogel trug einen zwölf Gramm schweren Sender an einem Tag rund 1200 Kilometern weit – mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von etwa 50 Kilometern pro Stunde.

Einen Rekord anderer ganz Art holte sich – mit penibler Hilfe von basenzählenden Molekularbiologen aus Japan – das Bakterium Carsonella rudii, welches sich ausschließlich im Pflanzensaft saugenden Insekt Pachypsylla venusta wohl fühlt. Der Keim reduzierte im Laufe der Evolution sein Genom auf knapp 160 000 Basenpaare, die für gerade einmal 182 Gene ausreichen, und hält damit seit Oktober den aktuellen Rekord im Minigenom.

Tetrahymena thermophila | Tetrahymena thermophila, ein Süßwasser bewohnendes Wimperntierchen.
DNA-Basenzähler bereicherten die Welt auch noch mit dem vollständig sequenzierten Erbgut von Pappel (dem ersten bekannten Baumgenom), Biene, Maispilz, Seeigel und einem modelltypischen, potenziell plasteproduzierenden Bakterium. Die DNA des ebenfalls entzifferten Wimperntierchens Tetrahymena thermophila protzt mit etwa ebenso vielen Genen wie der Mensch (es enthält 27 000 genetische Bauanleitungen für Proteine), ist sonst aber doch sehr anders, weil auf 200 Chromosomen und mehrere Zellkerne verteilt.

Ein Gen für ...

Nicht nur der Vergleich von Wimperntier und Mensch belegt, dass es auf mehr als nur die Gene ankommt – was den Mensch zum Mensch macht, ist deutlich vielgestaltiger, meldeten Forscher im August. Zu den bereits bekannten "typisch menschlichen" Genen FOXP2, das eine wichtige Rolle bei der menschlichen Sprache spielen soll, oder ASPM, das bei der Hirnreifung mitmischt, gesellten sie nun 49 Erbgutabschnitte, die sich seit der Trennung von Mensch- und Affenentwicklungslinie besonders schnell auseinander entwickelt haben. Einer dieser so genannten HARs (human accelerated regions), "HAR1", enthält Abschnitte, die offenbar besonders intensiv in die embryonale Hirnentwicklung eingreifen.

Bald ein edler Shiraz-Tropfen | Der Rotwein und sein Inhalt war in diesem Jahr offenbar wieder eines der beliebtesten Forschungsobjekte. Seine gesundheitsfördernde Wirkung – wenn in Maßen genossen – ist dabei eigentlich nichts neues und auch nicht, dass diese unter anderem mit dem Inhaltstoff Resveratrol zusammenhängt. Forscher aus Harvard konnten im November präzisieren, dass die Substanz auch mehr als gut gefütterten Mäusen ein längeres Leben beschert, ihre Lebensqualität hebt und ihre motorischen Leistunge verbessert.

Kurz zuvor hatten auch Forscher aus Mainz konstatieren müssen, dass mehr noch als deutsche Produkte französische Weine Arterienverkalkungen vorbeugen. Besonders gesundheitsbewusst trinken offenbar Weinliebhaber, die traditionell ausgebaute und gekelterte Gewächse bevorzugen. Nach im Dezember bekannt gewordenen Erkenntnissen ist dafür die darin vergleichsweise hohe Konzentration von Procyanidinen verantwortlich, welche im Laborversuch die Entstehung eines gefäßverengenden Eiweißes, des Endothelin-1, verhindert.

Besonders viele Procyanidine sind in Traubenkernen enthalten. Werden, wie nach alter Weintradition, die Trauben zusammen mit den Kernen und den Schalen für drei bis vier Wochen vergoren, dann ließe dies genug Zeit für eine vollständigere Extraktion der Procyanidine. Moderne Weine hingegen vergärten höchstens eine Woche. Gerade die in Südfrankreich vorrangig verwendete Tannat-Traube ist sehr reich an den gesundheitsfördernden Substanzen.
Was Mensch zu Mensch und nicht zum Wimperntier oder Schimpanse macht, ist dabei noch weit offensichtlicher, als die Unterschiede zwischen einzelnen Homo-sapiens-Individuen – zu 99,9 Prozent tragen wir ja alle identisch die gleichen knapp drei Milliarden DNA-Bausteine. Seit dem Projekt HapMap im Jahr 2005 steht fest, dass in diesem einen Zehntelprozent etwa zehn Millionen individualtypische Ein-Buchstaben-Variationen stecken, die häufig gekoppelt vererbt werden. Im vergangenen November erkannten Forscher um Matthew Hurles nun aber, dass noch viel häufiger – in bis zu zwölf Prozent des menschlichen Erbguts – individuelle Variationen durch die unterschiedlichste Vervielfältigungen einzelner Gene anfallen können. Diese Quelle der Verschiedenheit war bislang völlig unterschätzt worden und wird nun weiter untersucht. "Jeder von uns", staunt Hurles, "ist einzigartig."

Ein Gen alleine macht also noch keine Krankheit – auch wenn es auch im Jahr 2006 noch als unbestreitbarer Fortschritt galt, bestimmte Genvarianten mit bestimmten Krankheiten und Symptomen assoziieren zu können. In diesem Jahr gelang es Forschern zum Beispiel die typischen "Gene für" das Risiko von Herztod, Autismus und Fettleibigkeit, Wundheilung, Taubheit und die Fettpölsterchenverteilung um die Hüfte festzunageln. Das zunächst von einigen ausgerufene "Gen für Treue" war allerdings – Stichwort Skandale – etwas übertrieben dargestellt und – Stichwort Sensibilität – beerdigt worden.

"Jeder von uns ist einzigartig"
(Matthew Hurles)
Womit sich zum Ende der Kreis in den eher bizarren Ecken der biologischen Feldforschung schließt, in der sich in den vergangen zwölf Monaten natürlich mehr angesammelt hat, als auf Ihrer Bildschirmseite Platz findet. Etwa über das Sexualprestige, welches männliche Löwen mit ihrer Mähne sammeln; die Hygienik von Langusten, die erkrankte Artgenossen aus der Sozialgemeinschaft ausschließen; den Organen, die Gazellen in Mangelzeiten einfach verkleinern, oder dem ausgeklügelten Mechanismus, mit dem Wanzen per Ausgasung ihre Tauchtiefe regulieren.

Sex und das Drumherum war nicht nur bei Löwen Thema, sondern auch bei Hyänen, deren dominante Weibchen ihrem Nachwuchs beste Karrierechancen per Hormon einimpfen; sowie bei Spitzmaulnashörnern, die bei Stress mehr männlichen Nachwuchs produzieren. Bestens unterhalten hat uns in diesem Jahr auch noch dass Schwertwale Fremdsprachen beherrschen und Kühe lokale Dialekte. Wobei, halt: Letzteres konnte der unzutreffend wiedergegebene Forscher bei unseren Nachrecherchen nur dementieren – noch eine dieser skandalösen Jahres-Falschdarstellungen. Wenn im nächsten Jahr nichts schlimmeres passiert, können wir uns auf 2007 wirklich freuen.

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