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Neonatologie: Kühlen hilft nicht allen Babys mit Sauerstoffmangel

Bekommen Kinder unter der Geburt zu wenig Sauerstoff, kann ihnen eine Kältebehandlung helfen. Doch in einkommensschwachen Ländern scheint die Sterblichkeit dadurch zu steigen.
Baby

In manchen Fällen werden Säuglinge vor oder während der Geburt nicht mit ausreichend Sauerstoff versorgt. Eine künstlich herbeigeführte Abkühlung kann in solchen Situationen helfen, Hirnschäden und andere gesundheitliche Beeinträchtigungen zu verhindern. Das haben zumindest Untersuchungen in einkommensstarken Ländern gezeigt. In Ländern mit mittlerem oder niedrigem Einkommen sieht das aber eventuell anders aus: Einer aktuellen Studie zufolge versagt die Methode dort in vielen Fällen. Stattdessen steht sie sogar mit einer erhöhten Sterblichkeit bei Neugeborenen mit Sauerstoffmangel in Zusammenhang.

Die Ergebnisse, die Anfang August 2021 in der Zeitschrift »The Lancet Global Health« veröffentlicht wurden, kommen laut Joanne Davidson von der University of Auckland in Neuseeland überraschend. Die Forscherinnen und Forscher hätten die Versuche in sieben Krankenhäusern mit einer »anständigen Ausstattung« durchgeführt. »Unter diesen Umständen hätten wir erwartet, dass die Behandlung besser abschneidet und sich vor allem nicht als schädlich herausstellt.«

Ein gezieltes Absenken der Körpertemperatur, auch induzierte Hypothermie genannt, kommt bei Säuglingen zum Einsatz, die einigermaßen termingerecht auf die Welt kommen, unter der Geburt aber kaum mit Sauerstoff versorgt werden. Dieses lebensbedrohliche Szenario ist weltweit jedes Jahr für fast eine Million Todesfälle verantwortlich – die meisten davon treten in Ländern mit mittlerem oder niedrigem Einkommen auf. In der Vergangenheit legten Studien nahe, dass eine Kältebehandlung eine dramatische Verschlechterung des Gesundheitszustands verhindern kann. Vermutlich sterben dadurch weniger Zellen durch den Sauerstoffmangel ab.

Internationale Richtlinien empfehlen deshalb seit 2015, dass Säuglinge nach Sauerstoffmangel in ärmeren Ländern unter strengen Vorgaben gekühlt werden sollen, auch wenn die Evidenz bislang noch dünn ist. In vielen Ländern – beispielsweise Indien – ist die Behandlung inzwischen weit verbreitet. Dort arbeiten rund die Hälfte aller fortschrittlichen neonatologischen Intensivstationen mit der Methode, erklärt Sudhin Thayyil, Neurowissenschaftler am Imperial College London und Leiter der Studie.

Um zu testen, wie erfolgreich die induzierte Hypothermie vor Ort ist, teilte die Arbeitsgruppe gut 400 Säuglinge mit Verdacht auf Hirnschäden aus Sri Lanka, Indien und Bangladesch nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen ein: 202 Neugeborene erhielten direkt nach der Geburt für drei Tage die Kältebehandlung, 206 weitere Kinder eine Standardbehandlung ohne Kühlung. Thayyil und seine Kollegen fanden heraus, dass innerhalb von 18 Monaten 31 Prozent der ungekühlten Babys starben, aber 42 Prozent der gekühlten.

Das widerspricht den Ergebnissen einer Studie von 2009 mit 325 im Vereinigten Königreich geborenen Säuglingen. Hier starben in beiden Gruppen etwa ein Viertel der Kinder innerhalb von 18 Monaten, doch diejenigen, die eine Kältebehandlung erhalten hatten, zeigten später seltener motorische Beeinträchtigungen oder andere Behinderungen.

Neugeborene aus ärmeren Ländern sind womöglich stärker vorbelastet

Doch warum ist der Ansatz in manchen Ländern offenbar erfolgreicher als in anderen? Eine plausible Erklärung sei, dass leichte Infektionen noch während der Schwangerschaft das Gehirn der Babys vor oder während der Geburt beeinträchtigt haben könnten, sagt der Neonatologe David Edwards vom King's College London, der an der britischen Studie mitgewirkt hat. Solche Infektionen kommen in Ländern mit niedrigem Einkommen häufiger vor. Oft bleiben sie unentdeckt. Zudem zeigten Hirnscans, dass alle Neugeborenen in der Untersuchung mehr Schäden in der weißen Hirnsubstanz aufwiesen als Säuglinge aus Studien, die in reicheren Ländern durchgeführt worden waren. Demzufolge hätten die Babys möglicherweise länger keinen Sauerstoff erhalten. »Die Kinder weisen nicht die gleichen Schädigungsmuster auf wie Säuglinge aus der ersten Welt, und wir müssen verstehen, warum das so ist«, sagt Davidson.

Sudhin Thayyil plädiert angesichts der Ergebnisse dafür, die Kühlung von Neugeborenen mit Sauerstoffmangel in Mittel- und Niedriglohnländern erst einmal auszusetzen, bis weitere Untersuchungen zeigen, warum die Behandlung offenbar sogar mit mehr Todesfällen einhergeht.

Marianne Thoresen, Neurowissenschaftlerin an der University of Bristol, sieht das anders und warnt vor voreiligen Schlüssen. Denn die höhere Sterblichkeitsrate sei vielleicht nicht direkt auf die Kühlung zurückzuführen, sondern hänge vielmehr mit der Betreuung der einzelnen Babys zusammen, glaubt die Expertin. So kümmerte sich in der aktuellen Studie eine Krankenschwester um zwei bis vier Neugeborene gleichzeitig. In Ländern mit hohem Einkommen sei hingegen in solchen Fällen eine Eins-zu-eins-Betreuung üblich – was Todesfällen vorbeuge und dabei helfe, Spätfolgen abzumildern. »Diese Babys brauchen eine sehr hochwertige Intensivpflege, denn durch das Absenken der Körpertemperatur wird ein großer Teil der Physiologie beeinträchtigt«, sagt Thoresen.

Edwards glaubt, dass die Studie neue Anreize liefern wird, nach Behandlungsmethoden zu suchen, die keine Kühlung beinhalten, und enger mit Forscherinnen und Forschern aus Mittel- und Niedriglohnländern zusammenzuarbeiten. »Die Ergebnisse sollten uns nicht entmutigen«, sagt die Pädiaterin Samanmali Sumanasena von der Universität Kelaniya in Sri Lanka. »Wir müssen weitermachen und untersuchen, welche Faktoren zur Sterblichkeit beitragen und wie wir sie minimieren können.«

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