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News: Künftig Töchter als Wunschkinder bevorzugt?

Wird es ein Mädchen oder ein Junge? In vielen Ländern Asiens und Afrikas hängt das Glück junger Eltern vom "richtigen" Geschlecht des Kindes ab. Im Gegensatz dazu scheint in reichen Ländern, in denen Risiken wie Krankheit oder Alter beispielsweise durch staatliche Versorgungssysteme abgesichert sind, das Geschlecht des Nachwuchses nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Wer allerdings glaubt, dass in modernen Gesellschaften künftig das Geschlecht des Nachwuchses überhaupt nicht mehr wichtig sein wird, liegt falsch. Das zeigt eine Studie von Dr. Hilke Brockmann am Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock. Demnach könnte in der Bundesrepublik Deutschland der Trend zur Familie mit nur einer Tochter gehen.
"Töchter sind nicht mehr wert als verschüttetes Wasser", sagt ein altes chinesisches Sprichwort. Es umreisst eine in vielen Ländern Asiens und Afrikas weit verbreitete Einstellung, nach der nur männlicher Nachwuchs den Fortbestand einer Familie sichern kann. So ist der Wunsch nach einem Sohn im wahrsten Sinne des Wortes oft der Vater vieler Töchter. Erst wenn schon genügend Stammhalter geboren worden sind, ist das Familienglück vollkommen.

Staatliche Massnahmen zur Einschränkung des Bevölkerungswachstums scheinen die Bevorzugung von Knaben in asiatischen Ländern nicht wesentlich beeinflussen zu können. Während zum Beispiel in China und Südkorea die Geburtenrate sinkt, steigt gleichzeitig die Rate von Abtreibungen ungeborener Mädchen.

In Europa (siehe auch Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung) und Nordamerika, in denen seit Jahrzehnten ebenfalls die Zahl der Geburten abnimmt, lieferten bisher durchgeführte Untersuchungen zum Kinderwunsch ein weniger eindeutiges Bild. Einige Untersuchungen aus den USA zeigen zum Beispiel, dass Frauen, die zum ersten Mal schwanger sind, sich häufiger ein Töchterchen wünschen. Aus anderen Studien ziehen die Forscher den Schluss, dass in amerikanischen "Einkind-Ehen" eher ein Junge bevorzugt wird. Schwedische und norwegische Wissenschaftler fanden heraus, dass die Wahrscheinlichkeit, zum dritten Mal eigenen Nachwuchs zu bekommen, dann besonders groß ist, wenn die ersten beiden Kinder gleichen Geschlechts sind.

"Weil sich die Daten widersprechen, neigen viele Forscher zur Ansicht, dass in entwickelten Ländern die Unterschiede verschwinden", erläutert Hilke Brockmann vom Max-Planck Institut für demografische Forschung in Rostock. Diese Argumentationen ihrer Kollegen überzeugten die Wissenschaftlerin allerdings nicht. Solche Ungereimtheiten veranlassten sie vielmehr zu einer eigenen Studie mit dem Ziel, herauszufinden, wie sich die Einstellungen der Mütter zum Geschlecht ihrer Kinder seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland verändert haben.

Die Demografin des Rostocker Max-Planck-Instituts suchte dabei nach möglichen Einflüssen der wohlfahrtsstaatlichen Versorgung auf die Kinderwünsche von Frauen zu Zeiten der deutschen Monarchie, der Weimarer Republik, des 3. Deutschen Reichs und in den beiden deutschen Staaten nach Kriegsende. Bei ihren Analysen ging Dr. Brockmann davon aus, dass die Aufgabe der Söhne, sich eines Tages finanziell auch um ihre Eltern kümmern zu müssen, um so mehr an Bedeutung verliert, je mehr finanzielle Sicherheiten die Gesellschaft ihren Bürgern bieten kann. Gleichzeitig garantieren Staatssysteme, die öffentliche Dienstleistungen wie Kindergarten, Kranken- und Altenbetreuung gewährleisten, Frauen bessere Berufschancen und höhere Einkommen. Diese Abwertung der männlichen und Aufwertung der weiblichen Rolle sollte sich in den Einstellungen der Mütter zu Söhnen und Töchtern widerspiegeln.

Um objektive Aussagen treffen zu können, wertete die Demografin des Max-Planck-Instituts u.a. Daten zu den Geburtsjahren und dem Geschlecht der Kinder von 5854 Müttern aus, die in den vergangenen hundert Jahren in Deutschland geboren wurden. An diesem repräsentativen Datensatz überprüfte die Wissenschaftlerin ihre Hypothese. Dabei zeigte sich: In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wünschten sich die meisten Frauen lieber einen Sohn als eine Tochter.

Ablesen lässt sich das an der Zeit, die zwischen der Geburt von Geschwistern verging. War das erste Kind eine Tochter, dauerte es durchschnittlich nur vier Jahre, bis ein Sohn geboren wurde. Kam aber als erstes ein Sohn zur Welt, ließen sich die Mütter sechs und mehr Jahre Zeit für den weiteren Nachwuchs.

Nach dem Ende des 2. Weltkrieges ist eine Vorliebe für Söhne weder in West- noch in Ostdeutschland zu erkennen. Mit dem Auf- und Ausbau des Sozialnetzes in den alten Bundesländern sank die wirtschaftliche Abhängigkeit der Eltern von ihren Kindern. Mädchen waren deshalb gleichermaßen wie Jungen willkommen.

In der DDR zeigte sich ein gegenteiliger Trend: Über 65 Prozent der nach dem Jahr 1950 geborenen Frauen, die als erstes Kind einen Jungen zur Welt gebracht hatten, wurden innerhalb von fünf Jahren erneut schwanger. Frauen mit einem erstgeborenen Mädchen hatten es mit einem zweiten Kind weniger eilig. Sie ließen sich für eine erneute Schwangerschaft durchschnittlich sechs Jahre Zeit.

Eine Erklärung dafür könnte nach Ansicht von Dr. Brockmann im sozial-ökonomischen Status der Frauen in der DDR liegen. Sie waren viel häufiger berufstätig als ihre Geschlechtsgenossinnen im westlichen Teil Deutschlands. Von Töchtern, die wirtschaftlich selbständig sind, können sich Eltern im Alter sowohl emotionale als auch finanzielle Unterstützung erwarten.

Nach den Untersuchungen des Rostocker Max-Planck-Instituts ist nicht davon auszugehen, dass in Zukunft das Geschlecht der Zöglinge für die Eltern unbedeutend sein wird. "Ob das Wunschkind künftig öfter ein Mädchen oder ein Junge sein wird, hängt in starkem Maß von der Entwicklung der gesellschaftlichen Fürsorgesysteme ab," erklärt Hilke Brockmann. "Die zu erwartende, zunehmende Zahl berufstätiger Frauen und das steigende Lebensalter der Bevölkerung Deutschlands könnten dazu führen, dass in Zukunft der Wert der Töchter steigt." Die Ergebnisse ihrer Untersuchung wird Brockmann demnächst im European Sociological Review veröffentlichen.

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