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Coronavirus: Künstliche Intelligenz gegen Covid-19

Künstliche Intelligenz trägt das Wissen der Welt über Zusammenhänge rund um Covid-19 zusammen und soll auf diese Weise helfen, die Ausbreitung der Pandemie vorherzusagen und zu erkennen, welche Maßnahmen in welcher Region am wirksamsten sein werden.
Europa Afrika mit Glasfaserkabeln

Künstliche Intelligenz wird gerne als Wundermittel gegen und für alles Mögliche angepriesen, so natürlich auch im Kampf gegen Covid-19. Von der Impfstoff- und Medikamentenforschung über die Fragen, wo sich Menschen wie bewegen und ob sie sich an die Social-Distancing-Vorgaben halten, bis hin zur Auswertung von Röntgenaufnahmen der Lunge zur schnelleren Diagnose schwerer Verläufe: Bei all diesen Fragestellungen rund um die Pandemie helfen Computerprogramme des maschinellen Lernens, häufig als künstliche Intelligenz bezeichnet. Diese sind unter anderem gut darin, in großen Datenmengen Zusammenhänge zu erkennen, beispielsweise solche zwischen bisherigen Impfstoffen und bekannten Erregern. So entstehen dann Vorschläge darüber, welche Art von Wirkstoff gegen das neuartige Coronavirus helfen könnte. Mit genügend Trainingsdaten soll die KI künftig auch Lungenaufnahmen von gesunden und kranken Personen miteinander vergleichen und, im Idealfall, besser als der Arzt erkennen können, ob sie das Bild der Lunge eines infizierten Menschen vor sich hat. Das deutsche Start-up Audeering ist in das boomende Forschungsfeld der Stimmanalyse eingestiegen: Es entwickelt eine App, die an der Sprachaufnahme einer Person und ihrer Art zu husten erkennen können soll, ob diese mit dem Coronavirus infiziert ist oder nicht.

Es wird sich erst zeigen müssen, inwiefern diese Systeme des maschinellen Lernens tatsächlich halten, was sie, beziehungsweise ihre Entwickler, versprechen. Die so genannten Low-Hanging-Fruits im Bereich Covid-19 und Statistik sind schließlich schon geerntet. Google beispielsweise präsentierte schon wenige Tage nach den Lockdowns im März Statistiken darüber, wie sich Menschen an Social-Distancing-Vorgaben halten, inwiefern sich Bewegungsmuster angesichts der Pandemie und der ersten Lockdowns verändert haben und wer sich an die Empfehlung hält, möglichst daheimzubleiben oder zumindest keine weiteren Reisen anzutreten. Angesichts der Bewegungsdaten von Mobiltelefonen ist das einfach festzustellen – und im Gegensatz zu manchen Regierungen, die Einzelpersonen auf diese Weise tracken, hat Google seine Ergebnisse aggregiert auf bestimmte Städte oder gar US-Bundesstaaten bekannt gegeben.

Aber was hilft es, zu wissen, in welchem Radius sich Menschen bewegen, wenn unklar ist, ob oder wie genau das die Verbreitung des Virus beeinflusst? Inzwischen gibt es relativ viele Informationen darüber, was sich mit der Pandemie verändert hat, aber wenig Erkenntnis darüber, was bestimmte Maßnahmen genau bewirken und wie erfolgreich sie dazu beitragen, die Pandemie einzudämmen. »Wenn Politiker auf einer detaillierten Ebene wissen, welche Interventionen was bewirken, können sie zielgerichtete Maßnahmen einleiten«, sagt Aisha Walcott von IBM Research Africa in Kenia. Die Informatikerin erinnert sich noch gut an eine ähnliche Situation in ihrer Heimat, als es um die Frage ging, ob Moskitonetze oder Insektenspray besser gegen Malaria helfen – ein großes Thema in Regionen mit knappen Ressourcen. Auch hier gab es ein drängendes Problem, aber zu wenig Informationen über die genaue Wirkung möglicher Interventionen. »Wir haben damals gesehen, dass es enorm von den konkreten Bedingungen abhängt«, sagt Walcott. Geholfen habe ihr zu der Zeit die Statistik und eine große Menge an Daten zu verschiedensten Zusammenhängen.

Wie bei der Frage nach der besten Strategie gegen Malaria soll nun maschinelles Lernen auch beim Thema Covid-19 und der Eindämmung der Pandemie helfen. Mit Blick auf die verschiedenen nichtmedikamentösen Interventionen gegen Covid-19 geraten aber noch mehr Unbekannte in die Gleichung: Wie gut schützen Masken vor einer Ansteckung? Wen schützen sie besonders? Und welchen Effekt haben Schulschließungen oder kleinere Unterrichtsgruppen an Schulen? Macht es einen Unterschied, ob Grundschulen oder weiterführende Schulen geschlossen werden? Hilft es mehr, wenn Veranstaltungen prinzipiell auf eine gewisse Teilnehmerzahl begrenzt sind (und wenn ja: welche?) oder wenn sie nur noch draußen stattfinden dürfen, dafür mit mehr Teilnehmern? Wie sehr unterscheidet sich das von Ort zu Ort? Welche Rolle spielt eine dichte Bebauung in der Stadt? Ist es hilfreicher, Flugreisen einzuschränken oder öffentlichen Transport?

Noch ist das Wissen über solche Zusammenhänge sehr begrenzt. Doch: »Das ist die Schönheit von KI«, schwärmt Walcott, »sie kann uns helfen, mehr über eine Krankheit zu lernen, über die noch so wenig bekannt ist.« Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen hat Walcott den Worldwide Non-pharmaceutical Interventions Tracker for Covid-19 entwickelt. In dieser Datenbank sollen im Idealfall alle bekannten Maßnahmen vermerkt sein, die aktuell an verschiedenen Orten eingesetzt werden, um die Pandemie einzudämmen: Vom Maskentragen über verschiedenste Ausprägungen von Quarantäne bis hin zu unterschiedlichen Beschränkungen der Obergrenzen von Gruppengrößen im öffentlichen Raum. Derzeit finden sich in der Datenbank mehr als 6000 solcher »nichtpharmazeutischer Maßnahmen«, eingeordnet in 15 verschiedene Kategorien (wie Schulschließungen, Bewegungseinschränkungen, Reiserestriktionen, Lockdowns).

Die Daten stammen aus 261 Ländern, und der Datensatz wächst automatisch: Eine künstliche Intelligenz sammelt täglich ein, was die Menschheit über diese Maßnahmen an Wissen neu angehäuft hat. Das System wertet dazu mittels Natural Language Processing (NLP) – zu deutsch etwa Verarbeitung natürlicher Sprache – Wikipedia-Artikel, Regierungsanweisungen und Newsseiten im Netz aus. Dabei versucht die KI zu »verstehen«, von welchen Maßnahmen die Rede ist und an welchem Ort sie wann in Kraft traten, und bringt sie schließlich in eine maschinenverwertbare Form, in der diese Daten als Grundlage für verschiedene Visualisierungen genutzt werden können. Es gibt keinen weltweiten einheitlichen Katalog von Maßnahmen gegen Covid-19, glücklicherweise aber sind alle nahezu vollständig im Internet vorhanden – wenn auch in unterschiedlichsten Formaten und Textformen, und in einer Masse, die eine Auswertung durch den Menschen unmöglich macht. Dafür ist die Hilfe der KI notwendig.

»Politiker und Forscher können diese Informationen nun nutzen, um herauszufinden, welche Maßnahmen in einer bestimmten Region zu welchem Ergebnis führen«, sagt Walcott. Auf der Website werden Covid-Fälle auf einer Landkarte farbig markiert, und Nutzer können in einem Zeitstrahl verschiedene Länder und Regionen auswählen und sehen, welche Maßnahmen diese wann eingeführt haben. Das Tool soll zudem helfen, in die Zukunft zu schauen, um abzuschätzen, welche Maßnahmen sich in welcher Form auf die Coronazahlen auswirken – basierend auf den Erfahrungen der Vergangenheit, die in der Datenbank gesammelt sind. »Wir sind mitten drin in einem weltweiten Wissenschaftsexperiments«, sagt Walcott, »und maschinelles Lernen kann uns helfen, unser eigenes Handeln besser zu verstehen.« Denn allein Wikipedia ist seit Beginn der Pandemie enorm gewachsen: So sind laut IBM seit März mehr als 5000 neue Wikipedia-Artikel erschienen. »Für Menschen ist es unmöglich, den Überblick zu behalten«, sagt Walcott – zumal sich vieles täglich ändert.

Aber liefert das Tool am Ende nicht doch nur Korrelationen? Wie sollen Forscher herausbekommen, welche Maßnahmen tatsächlich kausal mit einem Rückgang der Zahlen zusammenhängen? Schließlich könnten diese ja auch aus anderen Gründen zurückgegangen sein, sei es, weil sich das Wetter verändert oder weil Menschen mehr lüften? »Dafür gibt es Methoden der Kausal-Effekt-Analyse«, erklärt Walcott: statistische Methoden, mittels derer sich mathematisch die Wahrscheinlichkeit eines kausalen Zusammenhangs berechnen lässt.

Zudem sei es natürlich sinnvoll, alle weiteren Informationen, die sich möglicherweise auf die Ansteckungszahlen auswirken, in Modelle zu integrieren, die die Entwicklung vorhersagen. In der Tat gebe es ein großes Interesse von Wissenschaftlern an dem Datensatz, und ebenso von Regierungen. In einer Kooperation mit der Gauteng-Provinz in Johannesburg wird das Tool gerade auf seine Praxistauglichkeit getestet. »Dort leben die Menschen teilweise sehr eng zusammen, so dass Social Distancing schwierig ist«, sagt Walcott. Deshalb sei es für die Lokalregierung wichtig zu wissen, welche anderen Maßnahmen das Geschehen beeinflussen können.

»Für Menschen ist es unmöglich, den Überblick zu behalten«Aisha Walcott, Informatikerin

Zentrales Hilfsmittel der Politiker könnte dann das Dashboard der Datenbank sein: Hier werden die Entwicklungen visualisiert, die als Folge von Maßnahmen mutmaßlich eintreten. Wie das funktionieren kann, wird in einer virtuellen Pressekonferenz der Provinz Gauteng in Johannesburg deutlich, auf der IBM-Vertreter sowie lokale Behörden ihre Kooperation vorstellen. Mduduzi Mbada, Head of Policy im Büro des Premierministers von Gauteng, zeigt anhand der Visualisierung verschiedene Zukunftsszenarien abhängig von unterschiedlichen Maßnahmen – vom strengen Lockdown bis hin zum völligen Verzicht auf Gegenmaßnahmen. »Es ist wichtig für uns, dass wir solche Dynamiken verstehen«, sagt er.

Auf der virtuellen Konferenz wird auch der Einfluss weiterer relevanter Faktoren deutlich, nachdem Ashley Gritzman von IBM zusätzliche Datensätze in die Visualisierung einspeist: Haben Menschen Zugang zu Wasser? Wie eng leben sie zusammen? Wie viele Menschen leben in einer Nachbarschaft? Müssen sie sich eine Toilette mit anderen teilen? Wie weit entfernt ist das nächste Krankenhaus? »Je mehr Daten wir miteinander verknüpfen können, umso besser werden solche Vorhersagen«, erklärt Forscherin Walcott.

Auch Google hat kürzlich einen neuen Datensatz veröffentlicht, der möglicherweise eine sinnvolle Ergänzung darstellt: Die Trends in Internetsuchen in den USA, die mit Covid-19-Symptomen verbunden sind. Die Hypothese dahinter: Dort, wo vermehrt Menschen nach entsprechenden Symptomen wie Fieber und Kurzatmigkeit suchen, baut sich womöglich die nächste Welle auf. Solche Daten können also zur Vorhersage des nächsten Peaks genutzt werden. Der Datensatz enthält 400 Symptome, nach denen Google-Nutzer suchen. Zudem gehe er über drei Jahre zurück, um Behörden zu helfen, saisonale Effekte zu erkennen, die nichts mit Covid-19 zu tun haben, so Google im Blogbeitrag, der die Initiative vorstellt. Nicht zuletzt könne die Breite der Symptome, zu denen auch Stress oder Diabetes gehören, helfen, die Nebenwirkungen der Quarantänemaßnahmen zu verstehen. Dazu können beispielsweise Probleme gehören, die aus dem schlechteren Zugang zu Gesundheitsversorgung resultieren.

Google hatte etwas Ähnliches erstmals 2009 mit Google Flu Trends versucht, einem Tool, mit dem lokale Ausbrüche der saisonalen Grippe vorhergesagt werden sollten. Das klappte eine Zeit lang relativ gut und deckte sich in der Tat oft mit späteren epidemiologischen Datenerhebungen. Doch dass man sich auf den rein statistisch basierten Ansatz nicht zu sehr verlassen sollte, zeigte sich 2013, als eine besonders schwere Influenzawelle die USA traf: Hier sagte Google Flu Trends auf einmal große Ausbrüche voraus, die dann nicht eintraten. Das kann insbesondere dann problematisch sein, wenn sich Expertinnen und Experten angesichts der bisherigen Zuverlässigkeit auf die Vorhersage verlassen und beispielsweise Ressourcen des Gesundheitssystems in dieser Region verstärken – die dann möglicherweise anderswo fehlen, wo der Ausbruch nicht vorhergesagt wurde, dann aber eintritt.

Aisha Walcott würde sich nie allein auf Daten verlassen. »Der Mensch muss immer Teil des Systems sein«, sagt sie über ihren Ansatz. Sie selbst überprüft beim IBM Tracker für nichtpharmazeutische Interventionen, welche Sätze aus Wikipedia beispielsweise die künstliche Intelligenz welchen Maßnahmen zugeordnet hat und ob das richtig interpretiert ist. Denn klar ist: Systeme des maschinellen Lernens können immer auch mal danebenliegen.

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