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News: Künstlicher Muskel

Es klingt dämonisch: Zwei glibberige Gelmassen in eine energiereiche Lösung eingetaucht, bewegen sich übereinander weg. Doch woher kommt die künstliche Muskelkraft?
Wer bei heißem Wetter seinen Durst löschen und dafür einen vollen Wasserkasten die Treppe hochschleppen will, kommt ohne Bizeps nicht weit. Bei dieser Gelegenheit arbeiten die muskulären Fasern im Oberarm auf Höchsttouren: Ständig docken kleine knubbelige Proteinköpfe der langen Myosinfäden an dem zweiten wichtigen Muskelbauteil – das in der Mitte der Faser aufgehängte Aktin – an. Mit einem kurzen Ruck klappen die Myosinköpfchen dann um und ziehen sich entlang der Aktin-Leitschienen Bruchteile eines Millimeters weiter. Als Resultat verkürzt sich der Muskel schrittweise, der Wasserkasten kann hochgestemmt und die Treppe hinaufgetragen werden.

Ein japanisches Wissenschaftlerteam hat sich nun ein Bild dieser muskulären Arbeit gemacht. Denn dem Team um Yoshihito Osada von der Hokkaido University in Sapporo gelang es, das komplizierte und filigrane Wechselspiel von Aktin und Myosin außerhalb des Körpers nachzuspielen. Hierzu extrahierten sie sowohl Aktin als auch Myosin aus der Kammmuschel und vernetzten die Proteine zunächst mithilfe chemischer Reaktionen separat zu großen Komplexen. Den Proteinen kam dies entgegen, verknüpfen sie sich doch gern miteinander.

Dadurch schufen die Forscher zwei glibberige Gele, bestehend entweder nur aus Aktin- oder nur aus Myosinmolekülen. Brachten sie nun beide Gele zusammen und tauchten sie in eine Lösung mit dem Energieträger Adenosintriphosphat (ATP), kam bald Bewegung in das Aktin-Gel: Mit einer Geschwindigkeit von einem Tausendstel Millimeter pro Sekunde kroch die Aktinplatte auf die Myosinstränge zu.

Selbst für die Forscher kam diese Bewegung des kompletten Gels überraschend. Denn im Gegensatz zu den natürlichen Muskeln können im Fall der künstlichen Pendants nur die an der Geloberfläche gelegenen Proteine in Aktion treten und müssen dann mit ihrer "Muskelkraft" das ganze Gel vorwärts ziehen.

Kontrahierende Gele kennt die Fachwelt bereits. So dienen sie unter anderem dazu, Roboterarme zum Leben zu erwecken und in deren Hände Bewegung zu bringen. Keines dieser Systeme nutzte allerdings die Ingredienzen und molekularen Mechanismen realer Muskeln.

Ein möglicher Anwendungsbereich für die künstlichen Muskeln könnte sich nach Angaben der Forscher bei künstlichen Gliedmaßen eröffnen. Ein großer Vorteil der künstlich geschaffenen Muskelmasse wäre eine geringere Alarmbereitschaft des Immunsystems. Denn wenn die Implantate von im Labor gezüchteten menschlichen Muskeln stammen, dann sollte das Immunsystems geneigt sein, die neuen Gliedmaßen anzunehmen. Allerdings müsste dazu jeder Patient seinen eigenen Muskel heranzüchten lassen.

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