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Langlebigkeit: Das Geheimnis der Methusalem-Tiere

Ob Schildkröten oder Fledermäuse, Nacktmulle oder Grönlandhaie: Einige Tiere führen nicht nur ein erstaunlich langes Leben, sondern bleiben auch bis ins hohe Alter gesund. Kann der Mensch von ihnen lernen?
Ein Grönlandhai schwimmt in den dunklen, eisigen Gewässern des Nordatlantiks. Er ist von bläulichem Licht umgeben, das von der Eisdecke reflektiert wird.
Der Grönlandhai (Somniosus microcephalus) hat die längste bekannte Lebensspanne aller Wirbeltiere. Er wird erst mit mehr als 100 Jahren geschlechtsreif und kann bis zu 400 Jahre alt werden.

1832. Es ist das Jahr, in dem Johann Wolfgang von Goethe stirbt und Charles Darwin mit der »H.M.S. Beagle« nach Südamerika reist. Geboren werden der französische Maler Édouard Manet, der deutsche Verleger Gustav Langenscheidt und der britische Schriftsteller Lewis Carroll. Und irgendwo auf den Seychellen schlüpft eine Riesenschildkröte aus dem Ei, die sich unter dem Namen Jonathan zu einem echten Promi entwickeln wird.

Jonathans Geburtsjahr ist zwar nur geschätzt, es gibt allerdings Fotos aus dem Jahr 1882. Damals wurde er auf die Atlantik-Insel St. Helena gebracht und war bereits voll ausgewachsen, muss also mindestens 50 Jahre alt gewesen sein. Seither wohnt er auf dem Gelände der Gouverneursresidenz von St. Helena – bis heute. Mit mehr als 190 Jahren ist Jonathan das älteste bekannte Reptil, das derzeit auf der Erde lebt. Vielleicht sogar der älteste Landbewohner überhaupt. Doch er ist keineswegs das einzige Tier mit Methusalem-Status. Zahlreiche Arten bringen es auf beeindruckend lange Lebensspannen und bleiben dabei sogar noch beneidenswert fit.

Diese Überlebenskünstler stoßen auf immer größeres wissenschaftliches Interesse. Zu gern würden Forscherinnen und Forscher deren Erfolgsrezept entschlüsseln, um eines Tages womöglich auch dem Menschen ein gesünderes Altwerden zu ermöglichen. Die damit verbundenen Prozesse sind allerdings so komplex, dass selbst Fachleute sie erst allmählich durchschauen. Dabei scheint es nicht nur einen einzigen Weg zu einem langen Leben zu geben. Die einzelnen Arten verfolgen zum Teil recht unterschiedliche Strategien, die sich nicht alle auf den Menschen übertragen lassen. Klar ist aber: Von den gesunden Greisen der Tierwelt lässt sich eine Menge lernen.

»Gerade Schildkröten können extrem alt werden, etliche sind auch nach ihrem 150. Geburtstag noch quicklebendig«Alexander Scheuerlein, Zoologe

Die großen Alten

»Gerade Schildkröten können extrem alt werden, etliche sind selbst nach ihrem 150. Geburtstag noch quicklebendig«, sagt Alexander Scheuerlein, der sich an der Universität Greifswald mit den Geheimnissen des Alterns beschäftigt. Eine Aldabra-Riesenschildkröte namens Adwaita, die im März 2006 im Zoo von Kalkutta starb, soll sogar ihren 256. Geburtstag erlebt haben. Doch nicht nur mit solchen Rekorden verblüffen Reptilien die Fachwelt. Einige setzen sich sogar über gängige Theorien der Alternsforschung hinweg. Laut Lehrbuch sollte nämlich im hohen Alter die Fruchtbarkeit abnehmen und das Sterberisiko ansteigen. Bei vielen Vögeln und Säugetieren stimmt das auch. Aber die Gopherschildkröten, die in Wüsten im Südwesten der USA und im Norden Mexikos leben, halten sich nicht an diese Regel: Je älter sie werden, desto mehr Eier legen sie und umso unwahrscheinlicher ist es, dass sie sterben.

Ganz ähnlich ist es bei Süßwasserkrokodilen in Australien. Alexander Scheuerlein hat einen Verdacht, woran das liegen könnte: »Mit steigendem Alter werden die Krokodile immer größer«, erklärt der Forscher. »Und je größer sie sind, desto besser kommen sie wohl mit stressigen Trockenzeiten zurecht.« Schließlich haben große Tiere im Verhältnis zu ihrem Volumen eine relativ kleine Körperoberfläche. Deshalb verlieren sie weniger Wasser als ihre kleineren Artgenossen.

Jonathan | Die Seychellen-Riesenschildkröte (Aldabrachelys gigantea hololissa) Jonathan lebt auf der Atlantikinsel St. Helena. Sie gilt als ältestes lebendes Reptil, vielleicht sogar als ältestes lebendes Landtier der Erde. Ihr Alter wird auf mehr als 190 Jahre geschätzt.

Bei Spezies, die nicht ihr Leben lang weiterwachsen, gibt es ebenfalls oft einen solchen Zusammenhang zwischen Statur und Lebenserwartung: Je größer ein Tier ist, umso älter wird es häufig. Das liegt unter anderem daran, dass der Stoffwechsel bei großen Arten in der Regel langsamer läuft als bei kleinen. Dadurch entstehen in ihrem Körper weniger Sauerstoffradikale. Diese Verbindungen sind Nebenprodukte der Zellatmung und damit der Energiegewinnung. Und sie sind äußerst aggressiv: Sehr leicht können sie mit Bestandteilen der DNA oder der Zellmembranen reagieren und so deren Funktion einschränken. Diesen »oxidativen Stress« bringen Fachleute mit Alterungsprozessen sowie mit verschiedenen Krankheiten in Verbindung. Je schneller der Stoffwechsel läuft, desto größere Mengen dieser Substanzen entstehen und umso schwieriger ist es für den Organismus, diese zu entschärfen. Ein Leben auf der Überholspur, wie es viele kleine Tiere führen, dauert demnach meist nicht lange.

Bei Säugetieren und Vögeln stimmt die Faustregel »größerer Körper gleich längeres Leben« besonders häufig. Doch etliche Amphibien scheinen sich ebenfalls daran zu halten, wie eine Studie israelischer Fachleute zeigt. Gavin Staark und Shai Meiri von der Universität in Tel Aviv haben Literaturdaten über das Höchstalter von 527 Arten dieser Tiere zusammengetragen. Mit statistischen Methoden haben sie nach Zusammenhängen mit der Größe und verschiedenen anderen Faktoren gesucht. Demnach leben große Amphibien oft tatsächlich länger. Afrikanische Ochsenfrösche etwa können 25 Zentimeter lang und 1,4 Kilogramm schwer werden, ­und angeblich hat es schon Exemplare gegeben, die ihren 45. Geburtstag erlebt haben.

Kälte und Köpfchen

Doch Größe ist nicht alles. Laut der Studie gibt es weitere Faktoren, die Fröschen und Co. zu einem langen Leben verhelfen können. Dazu gehört zum Beispiel eine kühle Umgebung. Denn einerseits bremsen niedrige Temperaturen den Stoffwechsel. Andererseits sind Amphibien in kälteren Regionen nicht das ganze Jahr über aktiv. Damit sinkt ihr Risiko, von Feinden erwischt zu werden. Und das kann entscheidend sein. Denn laut Evolutionstheorie werden Tierarten dann langlebiger, wenn aus der Umwelt nur wenig tödliche Gefahren drohen: Wer wegen seiner Größe, seines Lebensstils oder seiner Wehrhaftigkeit kaum Gegner fürchten muss, hat gute Chancen, zu einem Methusalem der Tierwelt zu werden. Entsprechend haben die beiden israelischen Forscher ein hohes Alter auch bei Amphibien gefunden, die sich mit Giften verteidigen können.

Es gibt aber noch mehr Möglichkeiten, mit den Herausforderungen der Umwelt fertigzuwerden. So hat ein Team um Dante Jiménez-Ortega von der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko bei einer Studie an 339 Vogelarten einen deutlichen Zusammenhang gefunden: Je größer das Gehirn im Vergleich zur Körpermasse ist, desto älter wird die jeweilige Art. Zu ähnlichen Ergebnissen sind Fachleute bei Säugetieren und Fröschen gekommen.

Es gibt mehrere Theorien dazu, wie dieser Effekt zustande kommt. Es könnte zum Beispiel sein, dass die Entwicklung eines großen Gehirns lange dauert und die Eltern so viel in ihren Nachwuchs investieren müssen, dass sich solche Arten ein Leben auf der Überholspur einfach nicht leisten können. Ein großes Denkorgan würde demnach zu einem langsameren Lebensrhythmus und einer entsprechend hohen Lebenserwartung führen.

Vielleicht gibt es aber noch einen viel direkteren Zusammenhang. Denn ein relativ großes Gehirn ermöglicht höhere geistige Leistungen – etwa, wenn es um das Lösen von Problemen geht. Kluge Köpfe können sich zum Beispiel besonders leicht neue Futterquellen erschließen, falls die alten versiegen. Und das ist in einer sich ändernden Umwelt eine sehr wichtige Fähigkeit. Es ist also vielleicht kein Zufall, dass Graupapageien nicht nur als gefiederte Einsteins gelten, sondern zum Teil auch mehr als 70 Jahre alt werden. Auf Flexibilität und Cleverness zu setzen, scheint sich also ebenfalls günstig auf die Lebenserwartung auszuwirken.

Greise vor Grönland

Das ist allerdings noch nichts im Vergleich zu den Altersrekorden des Grönlandhais, der die längste bekannte Lebensspanne aller Wirbeltiere hat. Der bis zu fünf Meter lange Fisch, der im kalten Wasser des Nordatlantiks und des Arktischen Ozeans lebt, wird erst mit mehr als 100 Jahren geschlechtsreif. Und er kann bis zu 400 Jahre alt werden. Lange hat die Fachwelt darüber gerätselt, wie so etwas überhaupt möglich ist. Ein internationales Team um Arne Sahm von der Ruhr-Universität Bochum und dem Leibniz-Institut für Umweltmedizinische Forschung in Düsseldorf hat das Erbgut des Methusalem-Fischs entschlüsselt und dabei mögliche Antworten gefunden.

Das war allerdings ein aufwändiges Unterfangen. Denn die Spezies verfügt über ein riesiges Genom, das mit 6,5 Milliarden Basenpaaren etwa doppelt so lang ist wie das des Menschen. Woher das kommt, zeigte ein genauerer Blick auf die Sequenzen der Erbgutbausteine. Offenbar tragen die Tiere zahlreiche Kopien verschiedener DNA-Abschnitte mit sich herum, die sich oft selbst vermehren und ihre Position im Genom verändern können. Diese sogenannten transponierbaren Elemente, auch als »springende Gene« bekannt, machen bei Grönlandhaien 70 Prozent des gesamten Genoms aus.

»Das ist erstaunlich, da ein hoher Anteil transponierbarer Elemente zumeist als schädlich angesehen wird«, sagt Arne Sahm. Schließlich werden die kopierten Abschnitte mitunter an ungünstigen Stellen in die DNA eingebaut – beispielsweise mitten in der Sequenz von anderen Genen, sodass diese nicht mehr richtig abgelesen werden können. Doch Grönlandhaie scheinen damit kein Problem zu haben. Die Forscherinnen und Forscher vermuten sogar, dass gerade die springenden Gene zur ungewöhnlich hohen Lebenserwartung der Art beigetragen haben.

»Dieses Protein ist der wichtigste Tumorsuppressor, den wir kennen«Steve Hoffmann, Bioinformatiker

So scheinen im Lauf der Evolution etliche Gene die Maschinerie der transponierbaren Elemente gekapert und sich auf diesem Weg selbst vermehrt zu haben. Zu diesen Erbgut-Piraten gehören offenbar solche, die an der Reparatur von DNA-Schäden beteiligt sind. Denn ein Vergleich hat ergeben, dass der Grönlandhai davon mehr Kopien besitzt als andere Haie. »Die Analyse der Daten legt nahe, dass eine verbesserte DNA-Reparatur eine wichtige Rolle für seine extreme Langlebigkeit spielen könnte«, erklärt Arne Sahm.

Zudem haben er und sein Team eine spezielle Veränderung in einem Protein namens p53 gefunden, das auch als »Wächter des Genoms« bekannt ist. Beim Menschen und vielen weiteren Spezies kontrolliert es den Zellzyklus und löst bei DNA-Schäden eine Reparatur aus. Falls das nicht ausreicht, leitet p53 den programmierten Zelltod ein und spielt damit eine wichtige Rolle bei der Verhinderung von Krebs. »Dieses Protein ist der wichtigste Tumorsuppressor, den wir kennen«, sagt Steve Hoffmann vom Fritz-Lipmann-Institut für Alternsforschung (FLI) in Jena, der an der Hai-Studie mitgearbeitet hat. »Daher ist es essenziell für Langlebigkeit.«

Gute Werkzeuge für die Reparatur von DNA und das Verhindern von Krebs sind möglicherweise ein generelles Erfolgsrezept für ein langes Leben. Denn einige Säugetiere erzielen damit ebenfalls erstaunliche Erfolge. Viele Wale erreichen etwa ein ähnliches Alter wie der Mensch, manche übertreffen ihn sogar deutlich. Als Rekordhalter unter den Säugern gilt ein Nachbar des Grönlandhais, der ebenfalls in den kalten Gewässern des hohen Nordens schwimmt: Ein Grönlandwal kann problemlos seinen 200. Geburtstag erreichen.

In mancher Hinsicht altern er und seine Verwandtschaft zwar ganz ähnlich wie andere Säugetiere einschließlich des Menschen. Zum Beispiel nimmt nach einer gewissen Anzahl von Jahren die Fruchtbarkeit ab. Doch von vielen alterstypischen Problemen unserer Spezies bleiben sie weitgehend verschont. So leiden sie nur sehr selten unter Stoffwechselstörungen oder Krebs, einem zunehmend schwächer werdenden Immunsystem oder dem Verlust intakter Nervenzellen.

Wie sie all diese Kunststücke fertigbringen, weiß noch niemand so genau. Erbgutuntersuchungen zeigen aber, dass auch Wale verschiedene Gene verdoppelt haben, die mit der Kontrolle des Zellzyklus, der Reparatur von DNA und dem Schutz vor Krebs zu tun haben. Zumindest zum Teil dürften sie ihr langes Leben also diesen genetischen Anpassungen zu verdanken haben.

Kampf den Radikalen!

Fledermäuse setzen ebenfalls auf solche Mechanismen und erreichen ein erstaunlich hohes Alter. Viele von ihnen leben deutlich länger, als man angesichts ihrer geringen Größe vermuten würde. Die Große Bartfledermaus, die unter anderem in Deutschland durch feuchte Wälder flattert, kann mit 41 Jahren sogar fast zehnmal so alt werden wie ähnlich kleine Säugetiere. Um das zu erreichen, verlassen sich Fledermäuse allerdings nicht nur auf eine effiziente DNA-Reparatur, die ihr Leben lang erhalten bleibt. Beispielsweise wehrt ihr Immunsystem vor allem Viruserkrankungen sehr effizient ab, auch Entzündungen können die Tiere gut bekämpfen. Viele Arten schalten zudem ihren Organismus regelmäßig auf Sparflamme, wenn sie Winterschlaf halten. Das verringert den oxidativen Stress durch aggressive Sauerstoffverbindungen.

Selbst wenn sie wach sind und ihr Stoffwechsel auf Hochtouren läuft, haben die Fledertiere allerdings erstaunlich wenig mit diesem Problem zu kämpfen. Dabei pflegen sie im Gegensatz zu vielen weiteren Methusalems der Tierwelt keinen sehr gemütlichen Lebensstil. Die Mitochondrien in ihren Zellen müssen daher reichlich Energie gewinnen. Doch zum einen produzieren die kleinen Kraftwerke dabei relativ geringe Mengen Sauerstoffradikale. Zum anderen sind die Zellmembranen erstaunlich resistent gegen die Attacken dieser gefährlichen Verbindungen.

Einem Mechanismus, der hinter dieser ungewöhnlichen Eigenschaft steckt, ist ein internationales Forschungsteam um Thomas Hildebrandt und Susanne Holtze vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) in Berlin auf die Spur gekommen. Demnach sind Mitochondrien in der Lage, die Bildung der aggressiven Sauerstoffverbindungen zu drosseln. Mithilfe bestimmter Enzyme verringern sie dazu an ihrer inneren Membran die Ladungsunterschiede zwischen innen und außen. Das führt zwar dazu, dass die kleinen Zellkraftwerke etwas weniger Energie gewinnen. »Dafür verlangsamt es aber die Alterungsprozesse in den Zellen«, erklärt Susanne Holtze.

In ihrer Studie haben sie und ihre Kollegen einen solchen Schutz auch bei Mäusen nachgewiesen, die nur wenige Jahre leben. Allerdings ließ dieser schon nach einem Jahr deutlich nach, nach zwei Jahren war er kaum noch vorhanden. Bei Brillenblattnasen, einer Fledermausart aus Mittel- und Südamerika, funktionierte der Anti-Aging-Trick an der Mitochondrienmembran dagegen selbst im hohen Alter noch tadellos.

Das Gleiche galt für eine dritte Tierart, die das Team in dieser Hinsicht untersucht hat: Nacktmulle, die in großen Kolonien in den Halbwüsten Ostafrikas leben, können sich sogar nach ihrem 20. Geburtstag noch voll und ganz auf diesen Schutz verlassen. »Im Vergleich zu vielen anderen Tieren haben sie offenbar vielfältige und bessere Mechanismen zur Verfügung, um Schäden durch aggressive Sauerstoffverbindungen zu vermeiden oder zu reparieren«, sagt Susanne Holtze.

Gesund im Untergrund

Überhaupt gehören diese Nagetiere mit der faltigen rosa Haut und dem insgesamt skurrilen Aussehen zu den spannendsten Kandidaten der Alternsforschung. Denn sie sind die langlebigsten Vertreter ihrer Verwandtschaft. Obwohl sie nur etwas mehr als 30 Gramm auf die Waage bringen, können sie mehr als 30 Jahre alt werden. Sie leben damit nicht nur zehnmal so lange wie die ähnlich schweren Mäuse, sondern bleiben auch bis ins hohe Alter gesund: Kein Muskelschwund, kein Abbau von Nervenzellen, selbst mit der Fortpflanzung klappt es noch. Und bisher sind gerade einmal fünf Nacktmulle bekannt, die an Krebs erkrankt sind. »Ich selbst habe Hunderte dieser Tiere begleitet und bisher erst einen solchen Fall erlebt«, berichtet Susanne Holtze.

Da wüsste man schon gerne, wie das körpereigene Fitnessprogramm der kleinen Überlebenskünstler funktioniert. Doch sie haben noch längst nicht alle ihre Geheimnisse preisgegeben. Um ihnen zumindest ein paar davon zu entlocken, hält das Team am IZW derzeit ungefähr 400 der geselligen Nager in zwölf Kolonien.

»Fast alle Aspekte, die man an Nacktmullen untersucht, sind ungewöhnlich und bergen Überraschungen«Susanne Holtze, Biologin

»Diese Tiere sind relativ aufwändig in der Pflege«, sagt Susanne Holtze. Sie verlangen eine hohe Umgebungstemperatur und Luftfeuchtigkeit, regelmäßige Mahlzeiten aus frischem Wurzelgemüse und eine häufige Reinigung der zahlreichen Boxen, von denen sie eine als gemeinsames Nest und andere als Toiletten nutzen. Zudem vermehrt sich die Art vergleichsweise langsam und hat ein sehr komplexes Sozialsystem: Fortpflanzen dürfen sich nur die Königin der Kolonie und ein oder mehrere Paschas. Die übrigen Tiere sind fürs Arbeiten zuständig. Wenn aber die Königin stirbt, kann das zu langen Phasen sozialer Instabilität führen. Dann wird nicht nur kein Nachwuchs geboren, manchmal kommen auch viele Tiere bei Kämpfen um die Nachfolge ums Leben.

Das alles macht die Nager nicht gerade zu idealen Kandidaten für wissenschaftliche Studien. Ein paar Mäuse zu halten, wäre deutlich einfacher. Doch der Aufwand lohnt sich: »Fast alle Aspekte, die man an Nacktmullen untersucht, sind ungewöhnlich und bergen Überraschungen«, sagt Susanne Holtze. 

Die Tiere kommen nicht nur ungewöhnlich gut mit Sauerstoffradikalen zurecht und können ihre DNA effektiv reparieren. Ihre Enzyme machen zudem weniger Fehler beim Ablesen der Erbinformationen und beim Übersetzen der Gene in Proteine. Krankhaft veränderte Zellen treibt ihr Organismus äußerst wirksam in den Selbstmord – ein Prozess, der eine wichtige Rolle beim Verhindern von Krebs spielt. Zudem scheint ihr Immunsystem sehr effizient zu arbeiten. Und nicht zuletzt haben sie eine niedrige Körpertemperatur und Herzfrequenz: Während das Herz einer Maus im Ruhezustand rund 400-mal pro Minute schlägt, begnügen sich Nacktmulle im gleichen Zeitraum mit 160 bis 180 Schlägen. »Es gibt wohl keinen einzelnen Faktor, dem diese Nagetiere ihr langes Leben allein verdanken«, resümiert Susanne Holtze. Das Nacktmull-Rezept für gesundes Altern scheint vielmehr aus etlichen Zutaten zu bestehen, die auf noch nicht genau bekannte Weise zusammenwirken.

Aus der Verwandtschaft der haarlosen Nager kommt noch eine weitere Devise, die das Leben verlängern könnte: bloß nicht zu viel Stress! Dieser Tipp lässt sich jedenfalls aus den Ergebnissen ableiten, die Arne Sahm zusammen mit Kolleginnen und Kollegen vom Leibniz-Institut für Alternsforschung in Jena, von der Universität Duisburg und vom Universitätsklinikum Essen bei Untersuchungen an Graumullen gewonnen hat.

Faltiger Überlebenskünstler | Nacktmulle (Heterocephalus glaber) gehören zu den spannendsten Kandidaten der Alternsforschung. Um ihrem Geheimnis auf die Spur zu kommen, hält das Team am IZW ungefähr 400 der Nager in zwölf Kolonien.

Auch bei diesen sozialen Nagetieren, die in großen Gruppen im Untergrund etlicher Regionen südlich der Sahara leben, pflanzt sich in der Regel nur das Paar an der Spitze der Gesellschaft fort. Und das wirkt sich bei Arten wie dem Riesengraumull auf die Lebenserwartung aus: Während Königin und König durchaus mehr als 20 Jahre alt werden können, leben die übrigen Tiere im Schnitt nur halb so lange. An der Ernährung, am Verhalten oder an einer unterschiedlichen genetischen Ausstattung liegt das offenbar nicht.

»Wir vermuten vielmehr, dass bei den Angehörigen der royalen Kaste das gleiche Genom anders interpretiert wird«, erklärt Arne Sahm. Er und sein Team haben daher untersucht, welche Gene beim Königspaar und bei gleichaltrigen Arbeiterinnen und Arbeitern besonders häufig abgelesen werden. Einer der auffälligsten Unterschiede fand sich dabei in der Hormonproduktion: Graumull-Royals kurbeln vor allem die Ausschüttung von Sexualhormonen an, alle übrigen die von Stresshormonen. »Dies ist ein Hinweis darauf, dass die Graumulle der Arbeiterkaste unter Dauerstress stehen und dadurch früher altern«, so Arne Sahm. Sie zeigen sogar ein Phänomen, das auch bei Menschen und vielen anderen Säugetieren als Stresssymptom bekannt ist: Sie lagern jede Menge Körperfett ein und nehmen deutlich zu.

Lernen von Methusalems

Graumulle könnten damit ein gutes Modell sein, um Rückschlüsse für unsere eigene Art zu ziehen. Schließlich ist schon länger bekannt, dass Menschen unter Stress schneller altern – egal, ob dieser durch chronische Überlastung, ein Trauma oder einen niedrigen sozialen Status zustande kommt. Von welchen Arten aber könnte die Menschheit sonst noch etwas lernen?

Verführerisch wäre es ja, sich die Süßwasserpolypen der Gattung Hydra zum Vorbild zu nehmen. Denn die haben Exemplare in ihren Reihen, die über sehr lange Zeiträume praktisch gar nicht altern. Studien haben gezeigt, dass mindestens fünf Prozent einer Population mehr als 1000 Jahre alt werden können. Einige Fachleute halten die kleinen Wasserbewohner sogar für potenziell unsterblich.

Dieses extrem lange Leben hängt wahrscheinlich mit einem ungewöhnlichen Talent zur Selbstregeneration zusammen: Wenn er verletzt ist, kann ein solcher Polyp innerhalb von ein paar Tagen jeden beliebigen Teil seines Körpers wiederherstellen. Selbst aus einem winzigen Gewebestückchen kann wieder ein ganzes Tier heranwachsen. Das ist möglich, weil diese Überlebenskünstler einen hohen Anteil von Stammzellen besitzen, aus denen sie sich alle ein bis vier Tage komplett selbst erneuern können.

Ob das als Vorbild für den Menschen taugt, ist allerdings fraglich. Und an der Übertragbarkeit vieler anderer Ergebnisse aus der Alternsforschung an Tieren gibt es ebenfalls Zweifel. Denn bisher hat sich diese vor allem auf Arten wie Mäuse und Ratten, Taufliegen und Fadenwürmer konzentriert, die sich schnell vermehren und leicht zu halten sind. Nur sind das eben Arten, die nicht alt werden. Es ist in Experimenten zwar durchaus gelungen, das Leben solcher Tiere mit verschiedenen Methoden zu verlängern. Das muss aber nicht heißen, dass dieselben Rezepte bei langlebigen Arten wie dem Menschen ebenfalls funktionieren. Zudem dürften die Methusalems der Tierwelt ihr Leben auch mit Maßnahmen verlängern, die kurzlebige Spezies gar nicht im Repertoire haben.

In einem Review plädieren Susanne Holtze, Arne Sahm und etliche andere Fachleute daher dafür, den Katalog der Modellarten deutlich zu erweitern. Es sei zwar sinnvoll gewesen, die zellulären und molekularen Grundlagen des Alterns erst einmal an den üblichen Kandidaten wie Mäusen und Taufliegen zu untersuchen. Nun jedoch sei es an der Zeit, einen Schritt weiterzugehen und vor allem die langlebigen Spezies verstärkt in den Blick zu nehmen. Wenn man diese dann mit kurzlebigen Tieren vergleiche, könne man die Mechanismen des Alterns besser verstehen. Dabei geht es den Experten ausdrücklich nicht darum, ein Rezept für Unsterblichkeit zu finden. Gesünder alt zu werden, ist ja auch schon ein großes Ziel.

»Es wäre zum Beispiel sehr hilfreich, wenn man die Krebsresistenz von Nacktmullen, Elefanten und Menschenaffen auf den Menschen übertragen könnte«, erläutert Susanne Holtze. Doch auch zahlreiche weitere Tiere kämen als potenzielle Vorbilder infrage. »Aus meiner Sicht lässt sich unmöglich vorhersagen, bei welcher Art wir einen großen Durchbruch für die menschliche Therapie erleben werden«, betont die Forscherin. Für sie ist das auch ein Argument für den Schutz der biologischen Vielfalt. Denn gerade langlebige Arten reagieren oft besonders empfindlich auf Umweltveränderungen. Und mit jedem aussterbenden Methusalem kann theoretisch ein wertvoller Anti-Aging-Trick für immer verlorengehen.

  • Quellen

Holtze, S. et al., Frontiers in Molecular Biosciences 10.3389/fmolb.2021.660959, 2021

Li, S. et al., Trends in Genetics 10.1016/j.tig.2023.08.005, 2023

Sahm, A. et al., eLife 10.7554/eLife.57843, 2021

Stark, G., Meiri, S., Global Ecology and Biogeography 10.1111/geb.12804, 2018

Vyssokikh, M. et al., PNAS 10.1073/pnas.1916414117, 2020

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