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Evolution: Leben auf der Überholspur

Wärmehaushalt, schlechte Ernährungslage, das Leben in dichten Wäldern - es gibt eine ganze Reihe von verbreiteten Erklärungen für den niedrigen Wuchs von Pygmäenvölkern. Allerdings passen sie nicht überall. Neuer Vorschlag: Wer früher aufhört zu wachsen, kann schneller Kinder bekommen - und so bei hoher Sterblichkeit trotzdem den Bestand der Gemeinschaft sichern.
Aeta-Schamane
159,9 Zentimeter: So groß ist eine Frau durchschnittlich, wenn man über 400 ethnische Gruppen berücksichtigt. Männer bringen es – bei über 2500 einbezogenen Ethnien – auf gerade einmal vier Zentimeter mehr. Für Angehörige der Aeta, Batak, Aka, Efe oder Mbuti jedoch sind beides unerreichbare Maße: Bei ihnen als Pygmäen endet die mittlere Messlatte männlicherseits bei 155 Zentimetern, Frauen bleiben oft sogar unter 1,50 Metern.

Warum dieser geringe Wuchs? Die Thermoregulation wurde angeführt: Eine vergleichsweise große Oberfläche im Verhältnis zur Körpermasse erleichtert in den tropischen Lebensräumen der Pygmäen die Wärmeabgabe und verhindert so effektiver eine Überhitzung. Als weiteres Argument tauchen die dichten Wälder der Pygmäen-Heimat auf sowie Nahrungsmangel – doch regt sich hier sogleich Widerspruch. Denn manche Pygmäenvolker leben durchaus außerhalb dichter Bewaldung, in kühleren und trockenen Klimaten, und mit magerer Kost müssen beispielsweise auch die Massai auskommen – die nun wahrlich eher zu den hochgewachsenen Menschen zählen und die Pygmäen locker um dreißig Zentimeter überragen können.

Viele Ansätze, keiner überzeugend

Alles in allem also keine befriedigenden Erklärungen, zumindest wenn man nach einer These für alle global verteilten Pygmäenvölker sucht. Denn obwohl vor allem aus Afrika bekannt, leben zahlreiche Populationen außerhalb dieses Kontinent, so auf den Andamanen, in Malaysia, Thailand, Indonesien, Papua-Neuguinea sowie auch Brasilien und Bolivien. Und auf den Philippinen, wo sie einer langfristigen Bevölkerungsstudie unterzogen worden.

Diese Daten zu Wachstum, Fortpflanzung und Sterblichkeit der beiden Pygmäenvölker Aeta und Batak werteten Wissenschaftler um Andrea Bamberg Migliano von der Universität Cambridge nun aus und verglichen sie mit bereits bekannten Ergebnissen zu afrikanischen Pygmäen sowie auf Grund von Mangelernährung klein gebliebenen Frauen der US-Bevölkerung, die nur 1,40 Meter erreichten.

Der Vergleich der Wachstumskurven zeigte, dass die Pygmäen zwar langsamer wuchsen als der Durchschnitts-Europäer oder -Amerikaner. Trotzdem waren sie schneller als die untersuchten kleinen amerikanischen Frauen: Die Aeta und die afrikanischen Agta und Biaka erlangten bereits mit 12 bis 13 Jahren ihre endgültige Größe – wie extrem gut ernährte US-Bürger, die dann aber bereits dreißig Zentimeter mehr messen. Die schlecht versorgten kleinen Amerikanerinnen stellten ihr Wachstum dagegen erst drei Jahre später ein. Auch ostafrikanische Hirtenvölkeri, die mit einem ebenso schmalen Kalorienbudget leben wie die Pygmäen, wachsen nicht etwa schneller, sondern nur länger. Mangelernährung scheidet damit zumindest als alleinige Erklärung für den kleinen Wuchs also aus.

Ein neuer Aspekt: die Sterblichkeit

Ein Punkt aber stach den Forschern besonders ins Auge: die hohe Sterblichkeit der Pygmäen sowohl im Kindes- wie auch im Erwachsenenalter. Bei der Geburt liegt ihre Lebenserwartung unter 25, in einigen Völkern sogar deutlich unter 20 Jahren – anders als bei den ostafrikanischen Naturvölkern, bei denen sie zwischen 35 und 48 Jahren beträgt. Außerdem überleben nur ein Drittel bis die Hälfte der Pygmäen-Kinder bis zum 15. Lebensjahr, während dies bei den ostafrikanischen Hirtenvölkern von normal großen bis hochgewachsenen Turkana, Ache oder !Kung immerhin bis zu drei Viertel sind. Und auch im Erwachsenenalter klafft noch eine weite Spanne in der Lebenserwartung zwischen den Gruppen.

Das allerdings bedeutet, dass bei den Pygmäen im Vergleich weniger Frauen das gesamte gebärfähige Alter ausschöpfen. Bei den Aeta bekommen Frauen zwar im Schnitt Kinder, bis sie 37,4 Jahre zählen, doch wird nicht einmal ein Drittel überhaupt so alt. Bei den Turkana hingegen ist selbst Nachwuchs mit über 40 keine Ausnahme, und fast zwei Drittel der Frauen erleben auch diesen Geburtstag.

Aeta-Schamane | Die geringe Körpergröße von Pygmäen könnte damit erklärt werden, dass sie sich angesichts hoher Sterblichkeit im Laufe der Evolution auf eine frühe Fortpflanzung verlegt haben – und dafür entsprechend zeitiger das Wachstum stoppten. Da die Völker untereinander nicht näher verwandt sind, hat sich diese Strategie offenbar mehrfach unabhängig voneinander entwickelt.
Diese hohe Sterblichkeit, so argumentieren nun die Forscher um Bamberg Migliano, sei die eigentliche Erklärung für die geringe Körpergröße. Denn um den Fortbestand der Population trotzdem sichern zu können, müssten die Frauen entsprechend früh die ersten Kinder bekommen – und dafür das Wachstum zeitiger einstellen. Und tatsächlich zeigt sich genau diese Verschiebung sowohl in den Fertilitätskurven als auch in einem mathematischen Modell, das die Forscher auf der Basis ihrer Daten zum Fitnessoptimum der Pygmäenfrauen erstellten.

Früher Kindersegen gegen frühen Tod

Leben auf der Überholspur quasi, mit frühem Wachstumsstopp und zeitiger Fortpflanzung als Anpassung an stark verkürzte Lebenszeit und magere Ressourcen, sei damit die Evolutionsstrategie der Pygmäen. Die ostafrikanischen Massai und Co hätten dagegen das langsame Gegenextrem gewählt, erklären die Autoren, da sie bei gleicher schlechter Versorgungslage die Einschränkung des frühen Todes nicht umgehen mussten und so ihre Wachstumsphase schlicht ausdehnen konnten.

Bleibt nur die entscheidende Frage: Warum ist die Sterblichkeit bei den Pygmäen so hoch? Die Antwort der Wissenschaftler darauf fällt eher vage aus. Vielleicht spielten genau hier nun die Faktoren eine Rolle, die bislang als Ursache für den geringen Wuchs diskutiert wurden: der besondere Lebensraum, die Probleme der Thermoregulation in solchen Regionen, tropische Krankheiten und Mangelernährung könnten einzeln oder kombiniert zur global beobachtbaren niedrigen Lebenserwartung der miteinander nicht verwandten Völker beitragen. Die verkürzte Statur hätte sich unter diesen Einflüssen dann mehrfach unabhängig voneinander entwickelt.

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