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Zoologie: Lebendiger Start im Meer

Das Geschlecht des Nachwuchses können einige Reptilien selbst bestimmen - durch gezielte Eiablage ins Warme oder Kalte machen sie mal mehr Männchen, mal mehr Weibchen. An einem bestimmten Gabelpunkt der Evolution mussten die Kriechtiere diesen Trick aber wieder vergessen.
Mosasaurier <i>Platypterygius kiprjianovi</i>
Wenn es sein muss – und medizinisch geboten ist –, dann kann es ganz schnell gehen: Ein Gentest belegt, ob ein Ungeborenes gesund ist, und manchmal wird nebenbei auch noch gleich weitergesagt, ob es zwei X-Chromosomen hat. Ja? Herzlichen Glückwunsch, sie bekommen ein gesundes Mädchen, Frau Homo sapiens.

Zwei X machen eben Mädchen, ein X mit Y die Jungs: Wie Geschlechtschromosomen unser Geschlecht bestimmen, ist altbekannt und eindeutig. Bei anderen Wirbeltieren läuft das manchmal allerdings ganz anders. Und bei der schwangeren Frau Reptil wird es gleich richtig kompliziert: In vielen Kriechtierfamilien sind die Geschlechter an den Chromosomen kaum zu bestimmen. Nehmen wir, wahllos herausgepickt, einige Brückenechsen, viele Agamen oder den Mississippi-Alligator: Bei ihnen entscheiden die Umweltbedingungen – die Umgebungstemperatur, in die hinein sie ihre Eier legen – mit darüber, welches Geschlecht der schlüpfende Nachwuchs haben wird. Das kann sinnvoll sein – zum Beispiel, um ein Geschlecht, das mit kalten Temperaturen besser klar kommt, in kalter Umgebung nicht überzuproduzieren und damit ein unausgewogenes Geschlechterverhältnis entstehen zu lassen.

Dann aber gibt auf der anderen Seite, ebenso wahllos aufgezählt, auch noch den Gebänderten Wüstengecko, die Korallenrollschlange, alle Vögel (als moderne Reptilweiterentwicklung), die Braune Dachschildkröte oder die Boa constrictor: Alle bestimmen das Geschlecht anhand von Geschlechtschromosomen. Weibliche Seeschlangen, auch in dieser Reihe, haben zum Beispiel ein Z- und ein W-Chromosom, Männchen immer zwei Z.

Forscher um Chris Organ von der Harvard University fragten nun nach Gründen für das Geschlechterbestimmungsdurcheinander bei den Kriechtieren. Gibt es irgendwelche Regeln, die darüber entscheiden, wann und warum Geschlechter genetisch und wann durch äußere Umstände festgelegt werden?

Wunschkinder machen

Die Forscher nahmen sich 94 verschiedene Arten von derzeit lebenden Amnioten vor – also einen Querschnitt aller Wirbeltiere außer Fischen und Amphibien. Den Datensatz durchsuchten sie mit statistisch-mathematischen Methoden nach auffälligen Bezügen zwischen dem Modus der Fortpflanzung und der Geburt sowie dem Mechanismus der Geschlechtsbestimmung im Familienstammbaum.

Dabei fielen zunächst zwei Dinge ins Auge: Erstens, Eier legende Tiere können ihre Geschlechter sowohl genotypisch, als auch umgebungstemperaturabhängig bestimmen. Im Laufe der Evolution der Amniota entdeckten viele verschiedene Arten aber auch immer wieder einmal die Vorzüge einer Lebendgeburt, also den Verzicht auf Eier, die ja an sicherem Ort gelegt und womöglich noch ausgebrütet sein wollen. Und, zweitens, jedes Mal hatten die nun lebend gebärenden Wirbeltiere vorher eine genotypische Geschlechtsbestimmung erfunden, also die Festlegung des Geschlechtes über spezielle Chromosomen.

Scheint ja auch klar auf den ersten Blick: Ein lebend geborenes Junges muss doch schon ein festgelegtes Geschlecht haben, anstatt es in der ersten Lebensphase durch Wärme oder Kälte antrainiert zu bekommen, oder nicht? Immerhin, die Glattechse Eulamprus heatwolei macht auch das anders: Sie besitzt keine Geschlechtschromosomen, ist aber lebendgebärend (und bestimmt das Geschlecht temperaturabhängig im Mutterleib).

Eine Ausnahme, finden Organ und Kollegen, und fragen sich, welche der Tiere mit genotypischer Geschlechtsbestimmung die Lebendgeburt erfunden haben, welche nicht – und warum. Ihre Antwort erlaubt es den Wissenschaftlern nun sogar, Aussagen über die Chromosomenausstattung von längst ausgestorbenen und höchsten noch als Fossilien existierende Reptilien zu treffen: Amniota mit genotypischer Geschlechtsbestimmung seien immer nur dann lebend gebärend, wenn sie den Großteil ihres Lebens im Wasserkörper des offenen Meers verbringen.

Das trifft eindeutig zu auf die einzigen heute noch lebenden völlig marinen Reptilien – die 60 Arten der lebendgebärenden Seeschlangen. Nur ihre Untergruppe der Plattschwanz-Seeschlangen legt noch Eier – sie leben aber auch nicht ständig auf See. Alle anderen marine Reptilien – etwa Schildkröten oder Salzwasserkrokodile – kennen dagegen keine genotypische Geschlechtsbestimmung.

Es steckt in den Genen

Demnach müssen einige der imposantesten der ausgestorbenen Seeungeheuer aus dem saurierdominierten Erdmittelalter ihren Nachwuchs auch genotypisch bestimmt haben, schlussfolgern die Forscher – die riesigen Mosasaurier und Ichtyosaurier hatten als lebend gebärende Arten Geschlechtschromosomen. Die Vorteile der Lebendgeburt im Wasser liegen dabei auf der Hand: Weil eine Eiablage im Ozean nicht möglich ist (ein Embryo im Ei wird über die Schale nicht mit genug Atemsauerstoff aus dem Meerwasser versorgt), muss die Eiablage an Land erfolgen.

Daher kann sich der Körper der Tiere nie vollständig zum Meeresorganismus entwickeln: Er bleibt, wie der Körper der marinen Schildkröten, ein semiaquatischer Kompromiss. Nur von des Fesseln des gelegentlichen, durch Eiablage erzwungenen Landgangs befreit, konnten die Körper der Mosa- und Ichthyosaurier dagegen die Extremitäten ganz zu Flossen und den Körper torpedoförmig und am Rücken befinnt gestalten, so Organ. Erst das erlaubte überhaupt eine adaptive Radiation der Reptilien im weiten Meer – also die Entstehung unterschiedlicher Arten, die viele ökologische Nischen besetzen.

Bleibt eine letzte Frage: Warum muss bei der Lebendgeburt im Meer das Geschlecht des Nachwuchses unbedingt genetisch festgelegt sein? Wahrscheinlich einfach deshalb, weil die Alternative ausfällt, spekulieren die Wissenschaftler: Denn im ausgleichenden Milieu des Meers wechseln die Temperaturbedingungen einfach nicht dramatisch, und damit fällt auch ein Vorteil der per Umwelttemperatur gesteuerten Geschlechterbestimmung weg, die bessere Anpassung eines der Geschlechter an höhere oder niedrigere Extremtemperaturen. Das Geschlechtschromosom, so rechnen Organ und Co, erfanden Wirbeltiere wohl schon vor rund 300 Millionen Jahren – und damit haben dann schon die gerade erst an Land gekrochenen Tetrapoden die Grundlage dafür gelegt, dass ihre Nachfahren lebenden Nachwuchs bekommen und wieder ins Meer zurückkehren konnten.
  • Quellen
Organ, C. et al.: Genotypic sex determination enabled adaptive radiations of extinct marine reptiles. In: Nature 10.1038/nature08350, 2009.

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