Zellbiologie: Lebenswichtige Molekülklumpen

Kaum jemand erkannte die ganze Tragweite, als ein Forschungsteam um Anthony Hyman vom Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden im Jahr 2009 über seine Untersuchung winziger körnchenähnlicher Strukturen in den Zellen bodenbewohnender Würmer berichtete. Diese Partikel, genannt P-Granula, bestehen aus Proteinen und RNA-Molekülen und sammeln sich ausschließlich an einem Ende der Zelle. Das stört die Symmetrie des Teilungsvorgangs; folglich unterscheiden sich die beiden Tochterzellen, die daraus hervorgehen. Das Forschungsteam wollte herausfinden, wie die Ungleichverteilung der P-Granula zu Stande kommt.
Wie die Fachleute entdeckten, bilden sich die P-Granula auf einer Seite der Zelle, ähnlich kondensierenden Wassertropfen auf einer kalten Fensterscheibe, und lösen sich auf der gegenüberliegenden Seite wieder auf. Anders gesagt: Die molekularen Komponenten der P-Granula durchlaufen Phasenübergänge, wie wir sie beispielsweise vom Wechsel flüssigen Wassers in gasförmiges auf der Herdplatte kennen.
Das war eine ziemlich ungewöhnliche Beobachtung. Trotzdem schenkten viele Zellbiologen dem Phänomen zunächst kaum Beachtung; sie hielten es für eine kuriose Randerscheinung. Doch dann bemerkte man die Körnchen – inzwischen bekannt als ۛ»biomolekulare Kondensate« oder auch »Blobs« – plötzlich überall in Zellen. Dort übernehmen sie offenbar unterschiedlichste Aufgaben.
Ohne Membran geht's auch
Biologinnen und Biologen wissen schon lange, dass membranumhüllte Zellkompartimente wie die Mitochondrien das intrazelluläre Geschehen ordnen und organisieren. Biomolekulare Kondensate besitzen dagegen keine Membran. Sie sind daher relativ wenig komplex und dienen als zelluläre Werkzeuge, die sich einfach und flexibel bereitstellen sowie an- und abschalten lassen. Viele lebenswichtige Prozesse laufen unter ihrer Mitwirkung, wie die Biophysikerin Petra Schwille vom Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried erklärt.
Die Blobs sind laut dem Biophysiker Clifford Brangwynne »an fast allen Vorgängen in Zellen beteiligt«. Brangwynne gehörte 2009 dem Team um Hyman an und leitet inzwischen ein eigenes Labor an der Princeton University in New Jersey. Biomolekulare Kondensate, davon ist er überzeugt, schützen Zellen vor zu hohen oder zu niedrigen Temperaturen, reparieren DNA-Schäden und kontrollieren die Proteinproduktion. Damit könnten sie aber auch zu krankhaften Prozessen beitragen, wenn sie fehlerhaft arbeiten.
Biomolekulare Kondensate formen molekulare »Teams«, deren Mitglieder gewissermaßen kollektive Entscheidungen treffen, von denen unsere Existenz abhängt. »In der Zellbiologie geht es darum, wie aus Milliarden von Teilen ein übergeordnetes, funktionierendes großes Ganzes entsteht«, sagt Brangwynne. Die Sicht darauf, wie das geschieht, habe sich durch die Entdeckung der Blobs vollkommen verändert, betont der Biophysiker Simon Alberti von der Technischen Universität Dresden. Die Herausforderung bestehe nun darin, zu verstehen, wie sich diese Molekülaggregate bilden, was genau sie tun – und ob man sie gezielt beeinflussen kann, um Krankheiten zu bekämpfen.
Biomolekulare Kondensate haben eine Konsistenz, die irgendwo zwischen Schleim und Wackelpudding liegt
Anfangs vermuteten Fachleute, dass biomolekulare Kondensate entstehen, wenn zwei Flüssigkeiten sich nicht vermischen – so wie Essigtropfen im Öl von Salatdressing. Doch die Sache ist komplizierter. 2012 demonstrierte der Biophysiker Michael Rosen vom Southwestern Medical Center der University of Texas in Dallas gemeinsam mit seinem Team, wie verschiedene Proteine und RNA-Moleküle in einer Lösung zunächst zu flüssigen Tröpfchen aggregierten, welche anschließend viskoelastische Eigenschaften annahmen, also zugleich elastisch und viskos waren. Silikon beispielsweise ist viskoelastisch. Die Blobs haben damit eine Konsistenz, die irgendwo zwischen der von Schleim und Wackelpudding liegt. Oder, wie es der Biophysiker Rohit Pappu von der Washington University in St. Louis ausdrückt: »Diese Kondensate sind wie Hüpfknete«; er meint damit eine spezielle Knetmasse für Kinder, die man wie einen Kaugummi ziehen oder wie einen Flummi springen lassen kann.
Auf den ersten Blick ziemlich chaotisch
Den Überbegriff »biomolekulare Kondensate« schlugen Wissenschaftler um Hyman und Rosen im Jahr 2017 vor. Damit wollten sie mit der anfänglichen Vorstellung aufräumen, dass es sich bei den Blobs ausschließlich um Flüssigkeiten handle.
Die molekularen Aggregate wirken auf den ersten Blick ziemlich chaotisch – vor allem im Vergleich zu den geordneten Strukturen, mit denen es Biochemiker und Molekularbiologen normalerweise zu tun haben. Statt fester Strukturen handelt es sich eher um lose Ansammlungen verschiedener molekularer Komponenten mit recht wechselhafter Zusammensetzung. Einige ihrer Bestandteile, so genannte Gerüstmoleküle, halten das Ganze in einem gelartigen Gefüge zusammen. Andere, die Client-Moleküle, lagern sich in die Struktur ein, ohne eine Gerüstfunktion zu besitzen. Moleküle beider Sorten können sich relativ ungehindert von dem Kondensat lösen, ohne dass es zerfällt.
Blobs enthalten typischerweise Proteine und RNA-Moleküle. Die Proteine haben meist keine definierte dreidimensionale Struktur, wie man sie beispielweise von Enzymen kennt. Häufig enthalten sie molekulare Abschnitte, die stark beweglich und veränderlich sind – etwa wie weiche Spaghetti in einem Topf mit sprudelnd kochendem Wasser. Fachleute sprechen von »intrinsisch ungeordneten Regionen« innerhalb dieser Eiweiße.
Viele Proteine, die an der Kondensatbildung mitwirken, haben »klebrige« Bereiche, in denen sich elektrisch geladene Abschnitte gegenseitig anziehen. Verbunden sind solche Regionen oft durch ungeordnete, flexible Zwischenstücke – so genannte Spacer. Anders als typische Enzyme gehen solche Proteine keine festen, selektiven Bindungen ein, sondern eher lockere und wahllose.
Rätselhafte Funktionen
Ein weiterer wichtiger Bestandteil vieler Blobs sind RNA-Moleküle, die meist recht lang sind und elektrische Ladungen tragen. Lange galt RNA vor allem als Botenmolekül, das genetische Informationen von der DNA an die Ribosomen (die zellulären Proteinfabriken) weitergibt, woraufhin dort entsprechende Eiweiße angefertigt werden. Doch die RNA, die in biomolekularen Kondensaten zu finden ist, gehört meist zu den nichtcodierenden RNAs. Diese fungieren nicht als Boten für die Proteinherstellung, sondern haben andere, vielfach noch unbekannte Aufgaben.
Einige Proteine in den Blobs binden sich offenbar bevorzugt an RNAs. Indem die Zelle die Strukturen und Bindungseigenschaften dieser Eiweiße sowie der RNA-Moleküle in den Kondensaten verändert, steuert sie, unter welchen Bedingungen die Molekülklumpen entstehen und welche Funktionen sie ausüben. Proteine lassen sich zum Beispiel in einen kondensatbildenden Zustand versetzen, wenn Enzyme sie mit bestimmten Anhängseln versehen, etwa elektrisch geladenen Phosphatgruppen. Dadurch verändern sich Form und »Klebrigkeit« der Eiweiße. Mitunter entsteht ein Blob auch schon allein dann, wenn die Zelle beginnt, eine bestimmte RNA-Sorte herzustellen. Genau das scheint zu passieren, wenn unsere Körperzellen eine nicht codierende RNA namens NEAT1 produzieren: Sie dient als Gerüstsubstanz für so genannte Paraspeckles – biomolekulare Kondensate, die an der Genregulation mitwirken.
Schon im 19. Jahrhundert kamen Wissenschaftler den rätselhaften Blobs auf die Spur – sie konnten nur zunächst nichts mit ihnen anfangen
Schon im 19. Jahrhundert kamen Wissenschaftler den rätselhaften Blobs auf die Spur – sie konnten nur zunächst nichts mit ihnen anfangen. 1830 beobachteten frühe Mikroskopiker seltsame Pünktchen in Zellkernen. Sie bezeichneten sie als Nukleoli oder Kernkörperchen. Später stellte sich heraus: Dort, wo Nukleoli zu finden sind, entstehen Ribosomen. Doch erst 2011 konnten Clifford Brangwynne, Anthony Hyman und der Zellbiologe Tim Mitchison von der Harvard Medical School zeigen, worum es sich bei den Kernkörperchen eigentlich handelt – nämlich um flüssigkeitsähnliche Tröpfchen, die sich durch Phasentrennung bilden.
Nukleoli haben viele Aufgaben. Vermutlich sorgen sie dafür, dass der komplexe Prozess der Ribosomenherstellung, an dem zahlreiche Proteine und RNA-Moleküle mitwirken, geordnet abläuft. Brangwynne und anderen zufolge bestehen die flüssigkeitsähnlichen Körperchen aus mehreren konzentrischen Schichten, die jeweils unterschiedlich zusammengesetzt sind, ähnlich wie die Schale, das Eiklar und der Dotter eines Hühnereis. »Diese geschichtete Struktur ermöglicht es, unterschiedliche Produktionsschritte räumlich voneinander zu trennen«, erläutert der Biophysiker.
Sortierstation unter Stress
Biomolekulare Kondensate spielen nicht nur im Zellkern eine Rolle – sie stehen noch mit weiteren altbekannten Zellstrukturen in Verbindung. Eine davon ist der so genannte Golgi-Apparat, ein Stapel gefalteter Lipidmembranen nahe dem Zellkern, der als Sortierstation für Proteine und andere Moleküle dient. Yiyun Zhang und Joachim Seemann von der University of Texas in Dallas haben gezeigt: Eine Kondensat-Sorte, die ein Protein namens GM130 enthält, stabilisiert den Golgi-Apparat und hilft der Zelle, Stresssituationen zu überstehen.
GM130 bildet auf den Membranen des Golgi-Apparats eine Art Gerüst, das bestimmte RNA-Moleküle und RNA-bindende Proteine in eine flüssigkeitsähnliche Phase einbindet. Diese wirkt wie ein Klebstoff und verfestigt dadurch die Membranstapel. Gerät die Zelle unter Stress, trennt sich GM130 von der RNA. Das Kondensat zerfällt daraufhin, und der Membranstapel beginnt sich aufzulösen. Das losgelöste GM130 lagert sich mit weiteren RNA-Molekülen zu so genannten Stressgranula zusammen – Klümpchen, die gewissermaßen der Zwischenlagerung des Proteins dienen. Sobald die Stresssituation vorbei ist, hilft GM130 mit, die Membranstapel wieder aufzubauen.
Das ist nur ein Beispiel dafür, wie Kondensate es Zellen ermöglichen, schwierige Zeiten zu überstehen. Ein häufiger Stressfaktor ist Hitze, die dazu führt, dass zelluläre Proteine denaturieren, also ihre geordnete räumliche Struktur verlieren. Viele Zellen erzeugen bei gefährlicher Temperaturzunahme deshalb so genannte Hitzeschockproteine. Die helfen den Proteinen dabei, wieder in ihre ursprüngliche Form zurückfinden. Das ist nicht nur wichtig, um den weiteren Betrieb der Zelle sicherzustellen, sondern verhindert auch, dass denaturierte Proteine zu unlöslichen Klumpen aggregieren.
Sensoren für gefährliche Hitze
Dem Biochemiker Allan Drummond von der University of Chicago erschien dieses Bild allerdings nicht ganz schlüssig. Es legt nahe, dass Zellen erst dann mit der Produktion von Hitzeschockproteinen beginnen, wenn bereits Schäden durch Wärmeeinwirkung entstanden sind. »Das fühlt sich nicht richtig an«, meint Drummond. Er nimmt an, dass Zellen einen drohenden Wärmeschock und andere Stresssituationen mittels biomolekularer Kondensate bemerken. 2017 zeigte er gemeinsam mit seinem Team, dass Stressgranula in Hefezellen Kondensate mit dem RNA-bindenden Protein Pab1 enthalten. Sobald dieses Eiweiß dort gebunden ist, verliert es seine Fähigkeit, Boten-RNAs für Hitzeschockproteine aus dem Verkehr zu ziehen.
Als die Wissenschaftler das Gen für Pab1 künstlich veränderten, veränderte sich auch die Neigung des Proteins, Kondensate zu bilden. Die Zellen kamen dann mit Hitze deutlich schlechter zurecht, da Pab1 mehr Hitzeschockprotein-RNA blockierte. Drummond vermutet daher, dass die Kondensatbildung selbst – ein Phasenübergang, der bei einem bestimmten Schwellenwert einsetzt, beispielsweise dem Erreichen einer kritischen Temperatur – ein Stresssensor ist, über den die Zelle auf drohende Gefahren aufmerksam wird und entsprechend darauf reagiert.
Eine andere weit verbreitete Gefahr für Zellen ist die Zerstörung des Erbmoleküls DNA, etwa durch ultraviolettes Licht oder Umweltgifte. Das Forschungsteam um Simon Alberti hat herausgefunden, dass Kondensate wie Sekundenkleber wirken: Sie können beschädigte DNA-Stränge zusammenhalten, während Enzyme sie reparieren.
Zusammengeklebtes Erbgut
Schon lange ist bekannt, dass an der DNA-Reparatur ein Protein namens PARP1 mitwirkt. Anfang 2024 berichtete Albertis Gruppe, dass sich dieses Molekül entlang des DNA-Strangs bewegt, bis es auf einen Bruch stößt. Dort lagert es sich mit der DNA zu einem biomolekularen Kondensat zusammen, welches die Schadstelle von der Umgebung abschirmt. »Das Kondensat ähnelt einem sehr starken Klebstoff«, sagt Alberti. Ein Protein namens FUS kommt hinzu und weicht das Aggregat auf, so dass weitere Enzyme in den Blob eintreten und die losen DNA-Enden wieder verknüpfen können. Da Erbgutschäden oft tödliche Folgen für die betroffenen Zellen haben, könnten Arzneistoffe, die PARP1 erkennen und darüber das Aufweichen des »Klebstoffs« verhindern, die Strangreparatur blockieren – und so beispielsweise Krebszellen abtöten.
Komplexe biochemische Prozesse zu koordinieren und Stresssituationen bewältigen zu helfen, sind zwei verbreitete Funktionen biomolekularer Kondensate. Biophysiker Rohit Pappu, sein Kollege Yifan Dai und andere haben kürzlich eine weitere Funktion beschrieben: Kondensate können biochemische Reaktionen beschleunigen – selbst dann, wenn die in ihnen enthaltenen Proteine gar keine Enzyme sind. Denn die Blobs schaffen Grenzflächen zwischen verschiedenen Phasen, an denen Konzentrationsgefälle entstehen. Betrifft das Ionen, bildet sich ein elektrisches Feld, das chemische Reaktionen ankurbeln kann. Kondensate, die auf diese Weise katalytisch wirken, beschleunigen zahlreiche biochemische Reaktionen einschließlich hydrolytischer Vorgänge, bei denen Wassermoleküle andere chemische Verbindungen spalten.
Selbst an einem der wichtigsten Prozesse des Lebens beteiligen sich Blobs: der Genregulation, die darüber entscheidet, ob ein Erbfaktor aktiv ist oder nicht. Bei komplexen Organismen wie Menschen ist bereits der erste Schritt der Transkription (des Umschreibens der DNA-Sequenz in eine Boten-RNA) erstaunlich kompliziert. Zahlreiche Komponenten beteiligen sich daran, etwa DNA-Abschnitte namens Enhancer, welche die Aktivität des Gens verstärken und auf dem DNA-Strang oft weit entfernt von diesem liegen. Aber auch Transkriptionsfaktoren wirken mit, also Proteine, die an die DNA ankoppeln und das Umschreiben einleiten, sowie RNA-Polymerasen, welche die entstehende Boten-RNA zusammensetzen, und noch viele Molekülsorten mehr.
Was einen »guten« von einem »schlechten« Blob unterscheidet, gehört heute zu den wichtigsten Forschungsfragen
Wie all diese Beteiligten miteinander wechselwirken und gemeinsam bestimmen, ob ein Gen aktiv wird oder nicht, ist bis heute nur teilweise verstanden. »Als ich mich als Physiker in die Biologie einarbeitete«, berichtet Rohit Pappu, »saß ich in Fachkonferenzen und hörte mir all die Vorträge zur Genregulation an: Dieser Faktor aktiviert jenen, Stoff A rekrutiert Stoff B und so weiter. Und ich dachte die ganze Zeit: Telefonieren die Moleküle miteinander? Was zum Teufel passiert da eigentlich?«
Vermutlich sind es Blobs, die alle molekularen Akteure der Transkription im dichten DNA-Gewirr des Zellkerns zusammenbringen. Womöglich wirkt der DNA-Strang wie ein Kristallisationskeim, an dem sich die Kondensate bilden – ähnlich wie Staubteilchen in der Atmosphäre die Wolkenbildung auslösen. Der Blob könnte dann entfernt liegende Enhancer-Regionen heranziehen und sämtliche für das Umschreiben benötigten Moleküle beieinanderhalten.
Alltagsphänomen und zugleich Gefahr
Die Molekülaggregate, die bei der Transkription in Erscheinung treten, sind deutlich kleiner als Blobs an anderen Orten der Zelle – und im Innern des Zellkerns nur schwer sichtbar zu machen. Deshalb ist unklar, welche Konsistenz sie haben, ob ihre Entstehung wirklich essenziell für das Umschreiben von DNA- in RNA-Sequenzen ist oder nur ein Nebeneffekt dieses Prozesses. Es könnte sein, dass die beteiligten Moleküle, sobald sie sich räumlich treffen, sowohl zu geordneten Transkriptionsmaschinen zusammenfinden als auch zu biomolekularen Kondensaten verklumpen.
Dass sich Proteine zu Blobs zusammenlagern, gehört offenbar zu den alltäglichen molekularen Mechanismen im Innern von Zellen. Doch es liegt eine Gefahr darin. Verklumpte Eiweiße stehen schon lange unter Verdacht, zu neurodegenerativen Erkrankungen wie Parkinson oder Alzheimer beizutragen. Sie wirken offenbar toxisch auf Nervenzellen und -gewebe. Manche Fachleute vermuten, die schwer löslichen, pathologischen Proteinablagerungen, die etwa für die Alzheimerkrankheit typisch sind, könnten aus biomolekularen Kondensaten hervorgehen – beispielsweise, wenn die beteiligten Proteine auf Grund von Mutationen so verändert sind, dass sie zu irreversibler Verklumpung neigen.
Früher galt in der Molekularbiologie die Faustregel: »Flüssig ist gut, fest ist schlecht.« Doch so einfach ist es nicht. Kondensate, die im ganz normalen Zellstoffwechsel auftreten, können durchaus Eigenschaften von Festkörpern haben. Forscherinnen und Forscher fragen sich deshalb mehr denn je, was einen »guten« von einem »schlechten« Blob unterscheidet. Mittlerweile stehen mögliche Zusammenhänge zwischen biomolekularen Kondensaten und pathologischen Proteinablagerungen im Fokus – was mit der Hoffnung verbunden ist, neue Therapien gegen neurodegenerative Erkrankungen zu entwickeln. Antisense-Oligonukleotide beispielsweise (kurze Nukleinsäurestücke, die an RNA koppeln) könnten helfen, die Bildung schädlicher Proteinverklumpungen zu hemmen. Etwa indem sie RNA-Moleküle daran hindern, als Kristallisationspunkte von Blobs zu dienen.
Start-ups für Kondensate
Der Umstand, dass biomolekulare Kondensate wie Paraspeckles maßgeblich an der Genregulation mitwirken, lässt vermuten, dass sie an zahlreichen Krankheiten beteiligt sind – einschließlich Krebs. Deshalb versuchen verschiedene Start-up-Unternehmen, so genannte Kondensat-Therapien zu entwickeln. Zu ihnen gehören Firmen wie Dewpoint Therapeutics, mitbegründet von Anthony Hyman, sowie Nereid Therapeutics, das sich auf die Arbeiten von Clifford Brangwynne stützt. Beide Unternehmen sitzen in Boston und entwickeln gezielt Medikamente, die auf Blobs einwirken.
Bisher liegt der Fokus vor allem auf Therapien gegen neurodegenerative Erkrankungen und Tumorleiden. Doch auch gegen Virusinfektionen könnte der neue Ansatz helfen. Manche Viren vermehren sich offenbar, indem sie zelluläre Proteine »missbrauchen«, die Kondensate bilden. Das eröffnet die Möglichkeit, die Viren zu bekämpfen, indem man die entsprechenden Molekülaggregate gezielt blockiert. So hat ein Forschungsteam aus Frankreich und China 2021 gezeigt: Ein Wirkstoff, der Blobs verfestigt, die unter Mitwirkung von Viren entstehen, kann Infektionen mit dem Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV) eindämmen. RSV löst zahlreiche Atemwegserkrankungen aus.
Biomolekulare Kondensate könnten für die Entstehung des Lebens maßgeblich gewesen sein
2023 erhielten Clifford Brangwynne und Anthony Hyman den mit drei Millionen Dollar dotierten Breakthrough Prize – ein klarer Hinweis auf die Bedeutung, die biomolekularen Kondensaten mittlerweile beigemessen wird. Rückblickend erscheint es erstaunlich, dass es so lange gedauert hat, ihre Bedeutung zu erkennen. Ein Grund hierfür könnte sein, dass sie nur schlecht in die klassischen Vorstellungen der Molekularbiologie passen. Jahrzehntelang redeten die Fachleute über Moleküle mit definierter Struktur, die Informationen über selektive Wechselwirkungen weitergeben. Blobs stellen dieses Modell in Frage. Sie sind von unspezifischer und flüchtiger Gestalt – und ihre Erforschung hat deutlich gemacht, dass an zentralen Vorgängen der Zellmaschinerie oft viele hundert Moleküle mitwirken.
Keimpunkte des Lebens?
Petra Schwille vermutet sogar, biomolekulare Kondensate könnten für die Entstehung des Lebens maßgeblich gewesen sein – lange bevor Nukleinsäuren und Proteine ihre heutigen Strukturen entwickelt hatten. Denn diese Aggregate demonstrieren, wie sich zellähnliche Mikromilieus spontan bilden können: durch schlichte Phasentrennung, ganz ohne Zellmembranen.
Tatsächlich sind Blobs bereits 1929 von zwei niederländischen Chemikern beschrieben und als »Koazervate« bezeichnet worden. Wenige Jahre später bezeichnete der russische Biochemiker Alexander Oparin sie als primitive »Protozellen«. Wie Schwille vermutet, könnten biomolekulare Kondensate es frühen Lebensformen ermöglicht haben, die nötigen stofflichen Ungleichgewichte aufrechtzuerhalten, indem sie bestimmte Moleküle von anderen abgrenzten.
Biophysiker Rohit Pappu spekuliert, katalytisch aktive Kondensate könnten biochemische Vorgänge angetrieben haben, bevor Enzyme diese Aufgabe übernahmen. Simon Alberti wiederum hält es für eine der interessantesten Fragen, wie die Evolution mit der Blob-Bildung zusammenhängt. Wie wirkt die natürliche Selektion auf Eigenschaften der beteiligten Moleküle ein, die für die Kondensatbildung relevant sind? »Das wird wahnsinnig spannend zu erforschen«, sagt Alberti. »Man muss hierfür Evolutionsbiologie und Physik zusammenbringen.«
Was in Zellen wirklich passiert
Fest steht: Kondensate markieren einen Wendepunkt in unserem Verständnis davon, wie Leben auf molekularer Ebene funktioniert. »Wir merken zunehmend, dass die klassischen Vorstellungen der Biochemie und Strukturbiologie nicht ausreichen, um zu beschreiben, was in Zellen wirklich vorgeht – insbesondere, wenn viele Komponenten involviert sind«, sagt Alberti. Ein tieferes Verständnis des Lebens setze voraus, das komplexe Zusammenspiel zu begreifen und zu verstehen, wie daraus die Zelle als Einheit hervorgeht.
Hinsichtlich der Größenskala, auf der sie wirken, liegen Blobs irgendwo zwischen Molekülkomplexen wie Chromosomen und kompletten Zellen. Hier verhalten sich Molekülansammlungen nicht mehr wie präzise operierende Maschinen, sondern wie Materialklumpen, die kollektiven physikalischen Prinzipien wie Phasenübergängen unterliegen, zugleich aber noch von Merkmalen ihrer molekularen Bestandteile abhängen. Noch kennen wir die Regeln nicht, die dieses Geschehen steuern. Doch es ist klarer denn je, dass das Leben entscheidend von ihnen abhängt.
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