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Ausbreitung des Menschen: Lebten Neandertaler in Amerika?

Eine Knochenfundstelle in Südkalifornien liefert Hinweise, dass eine bislang unbekannte Art Mensch den Kontinent 100 000 Jahre früher besiedelt hatte als bisher gedacht. Kritiker glauben kein Wort.
Mastodonknochen

Wer waren die ersten Amerikaner – und wie schafften sie es auf den Kontinent? Archäologen dachten jahrzehntelang, diese Fragen wären abgehakt: Alle verfügbaren Belege deuteten darauf hin, dass sich Großwildjäger aus Asien – die unter dem Namen »Clovis« bekannt wurden – als Erste vor etwa 13 000 Jahren auf die Reise in die Neue Welt begeben hatten, auf einer Route durch die heute vom Meer bedeckten Beringia-Landbrücke.

Dann aber, seit Beginn der 2000er Jahre, tauchten immer mehr Indizien auf, die eine frühere Besiedlung des amerikanischen Kontinents nahelegten – und das »Clovis-zuerst«-Modell ad acta. Allmählich nahm eine neue Lehrmeinung Gestalt an: Homo sapiens kam per Boot entlang der Westküste vor mindestens 15 000 Jahren.

Nun möchten ein Team von Forschern mit einer gerade in »Nature« publizierten Studie die Geschichte erneut umschreiben – und zwar drastisch und radikal. Die Wissenschaftler beschreiben darin die gebrochenen Skelettknochen eines Mastodons (eines ausgestorbenen Verwandten des Elefanten) sowie abgenutzte und zerbrochene Steinbrocken, die in Südkalifornien ausgegraben wurden. Zusammen würden die Funde belegen, dass Menschen bereits vor 130 000 Jahren, also im frühen Pleistozän, in Amerika gelebt haben, meinen die Forscher. Sollte das tatsächlich stimmen, wäre die lange Zeit unbestrittene Überzeugung widerlegt, dass der Homo sapiens die erste und einzige der Menschenarten war, die einen Fuß auf den amerikanischen Kontinent gesetzt hat: Schließlich lebten zu dieser Zeit noch mehrere menschliche Spezies parallel nebeneinander, etwa der Neandertaler. Zudem würde die Studie belegen, dass in der archäologischen Forschung Paläoamerikas eine rund 100 000 Jahre große Lücke klafft, aus der keinerlei Fundstücke vorliegen. An heftiger Kritik an der neuen Studie mangelt es nicht: Andere Forscher weisen darauf hin, dass die vorgestellten Funde eben nicht die Anwesenheit des Menschen beweisen – oder dass sie nicht mit Sicherheit so alt sind wie behauptet.

Die nun fragliche Fundstelle in Kalifornien wird schon seit den 1990er Jahren ausgegraben. Man stieß damals bei Straßenbauarbeiten für die Staatsstraße 54 im San-Diego-County darauf. Die Forscher sammelten aus verschiedenen Bodenschichten Knochen von allerlei Eiszeit-Spezies; Steven Holen vom San Diego Natural History Museum und seine Kollegen konzentrierten sich für die aktuelle Studie nun aber auf die Knochen des vor Ort gefundenen männlichen Mastodons, dessen genaue Fundstelle nach dem Erstentdecker Richard Cerutti benannt worden war, einem Mitarbeiter des gleichen Museums.

Die Gliedmaßenknochen dieses Cerutti-Mastodons zeigen nun kaum übersehbare charakteristische Bruchspuren: typische Spiralfrakturen, die sich entlang der Knochenachse fortsetzen. Solche Knochenbrüche treten typischerweise auf, wenn mit großer Wucht Druck auf einen lebenden Knochen ausgeübt wird. Zudem sind auch die Knochenenden abgebrochen, und in der Nähe finden sich mehrere große, deutlich angeschlagene Steinbrocken. Tatsächlich konnte das Team in Experimenten zeigen, dass ein Muster ebensolcher Knochenbruchspuren und -schäden auftritt, wenn man frische Säugetierknochen mit Hammersteinen auf Ambossen zerstört – und auch die Steine zerbrechen dabei gelegentlich ganz analog. Zusammengenommen könnten die typischen Spuren an den Skelettknochen und die gleich daneben gefundenen Steinabschläge wohl am ehesten auf eine Art interpretiert werden: Ein Mensch hämmert mit Steinen auf den Knochen herum, um an das nahrhafte Knochenmark zu kommen oder um Material für Knochenwerkzeuge herzustellen.

Tatsächlich wäre das für sich allein keine Sensation: Weltweit dokumentieren archäologischen Spuren solche Vorgehensweisen. Der Fundort und das vermeintliche Alter sind allerdings mehr als bemerkenswert: Die Mastodon-Knochen sind einer Uran-Datierung des Teams zufolge 130 000 plus/minus 9000 Jahre alt – und somit mehr als 100 000 Jahre älter als die ältesten allgemein anerkannten archäologischen Stätten in Amerika.

San Diego, 110 000 v. Chr.

Die Cerutti-Mastodon-Fundstelle liegt heute in einem typischen Vorort. Vor 130 000 Jahren, während der letzten Zwischeneiszeit, mäanderte hier aber ein Strom von der küstennahen Hochebene zum Pazifik, wo Kamele, Wölfe und Capybaras entlangwanderten. »Ein sehr schöner Ort zum Leben«, meint Holen auf einer Pressekonferenz am 25. April 2017.

Wenn denn wirklich stimmt, was Holen und seine Kollegen vermuten, zwingen sie die Forschergemeinde, alles zu überdenken, was sie bisher über die Besiedlung der neuen Welt gedacht hat – inklusive der Tatsache, ein Homo sapiens sei der erste Siedler gewesen. Die meisten Forscher waren sich einig, dass die Menschen aus Nordostasien nach Amerika kamen; Holen und Co. argumentieren nun aber, dass vor 130 000 Jahren H. sapiens, H. erectus, die Neandertaler und die Denisovaner (die man bisher nur anhand einer in der Höhle von Denisova in Sibirien gewonnenen DNA-Spur postuliert) schon in Amerika gewesen sein könnten. Sie hätten Beringia vor 135 000 Jahren zu Fuß überqueren können, als der Meeresspiegel hinreichend niedrig war; oder mit dem Boot entlang der Küsten von Asien, Beringia und Nordamerika gereist sein, um schließlich den Lebensraum des Cerutti-Mastodons zu erreichen.

Der Fund, meinte Holen auf einer Telefon-Pressekonferenz, sollte andere Archäologen ermutigen, in ähnlich alten Bodenschichten und Fundorten auf Spurensuche zu gehen – denn das sei bisher vor allem deshalb nicht geschehen, weil sich niemand vorstellen konnte, dass Amerika derart früh besiedelt worden ist.

Rekonstruktion des Mastodon-Fundes | Das Mastodonskelett im Schema: So wird deutlich, wo die Knochen und Zähne des Tiers am Fundort lagen. Eine vollständige Rekonstruktion der Lage ist allerdings nicht gelungen – Anlass für Kritiker, die Schlussfolgerungen in Frage zu stellen.

Nicht an der Studie beteiligte Experten zeigen sich indes extrem skeptisch – vor allem gegenüber der Behauptung von Holens Team, die Knochenfrakturen und Steinbruchstücke wären auf menschliche Aktivität zurückzuführen. »Man kann doch die Menschheitsgeschichte in der Neuen Welt nicht mehr als 100 000 Jahre nach hinten datieren, wenn man als Beweis nur so inhärent mehrdeutige Belege zu bieten hat wie gebrochene Knochen und unscheinbare Steine. ​​Nicht, wenn sie aus einer Rettungsgrabung nahe der Autobahn vor 25 Jahren stammen, und ohne detaillierte taphonomische Beweise, die eine derart umwälzende Behauptung verlangt«, findet etwa David Meltzer von der Southern Methodist University, eine anerkannte Autorität der Besiedlungsgeschichte Amerikas.

Der Mangel an taphonomischen Beweisen – an Informationen darüber, was mit den Funden zwischen dem Zeitpunkt ihrer Ablagerung im Boden und ihrer Entdeckung geschah – legt den Finger auf »Unterschiede zwischen einer paläontologischen und einer archäologischen Ausgrabung«, erklärt der Archäologe Andy Hemmings von der Florida Atlantic University: Diese verschiedenen Ansätze nutzen Wissenschaftler, um einerseits Fossilien und andererseits Hinterlassenschaften einer Kultur und von menschlichem Einfluss aufzudecken, die einen deutlich sorgfältigeren Herkunftsnachweis im Detail erfordern. »Sie haben nicht jedes darstellbare Objekt der Fundstelle abgebildet und deren Beziehungen nicht beachtet. Lagen die Stücke 15 Meter oder 15 Zentimeter auseinander?«, fragt er. Diese Informationen sind entscheidend für die Rekonstruktion des Geschehens, also der Entstehung der Frakturen oder des möglichen Kontakts von Knochen und Steinwerkzeug – wenn es diesen denn überhaupt gegeben hat.

© Kathleen Holen
Experimentelles Elefantenknochenschlagen
Chef Steve Holen und Student Adam Thomas experimentieren in Tansania mit Eifer, wie Knochen unter Druck brechen – hier exemplarisch am Beinknochen eines Elefanten (der, ergänzen die Forscher, eines natürlichen Todes gestorben ist).

Denn es ist den Forschern zwar gelungen, die Spuren an den Überresten experimentell zu reproduzieren, als sie frische Knochen mit Steinwerkzeugen bearbeiteten – irgendeine alternative Ursache aber hat das Team gar nicht erst angesprochen, monieren die Kritiker. »Es ist eine Sache, wie Holen und seine Kollegen zu zeigen, dass gebrochene Knochen und Schlagsteine von menschlicher Hand entstehen können. Etwas ganz anderes ist aber der Nachweis, dass Menschen – und nur Menschen! – dafür verantwortlich sind. Diesen Nachweis haben Holen [und Co] sicher nicht geführt – und so ist ihre Behauptung eben auch problemlos zurückweisbar«, erklärt der Archäologe Donald Grayson von der University of Washington. Andere Kommentatoren meinen, das Team sollte noch viele weitere fossile Ansammlungen großer Säugetierknochen analysieren, um zu erkennen, ob die am Cerutti-Mastodon aufgefallenen Bruchmuster auch natürliche Ursachen haben könnten.

Zu primitiv für das Alter?

Dazu kommt: Die simple Kombination von Hammerstein und Amboss ist nicht eben das, was Experten an einem 130 000 Jahre alten Schlachtplatz erwarten würden. James Adovasio von der Florida Atlantic University weist etwa darauf hin, dass an Fundstellen vergleichbaren Alters in anderen Teilen der Welt Jäger beim Zerlegen von Tieren deutlicher zweckoptimiertere Werkzeuge benutzten. Zu dieser Zeit waren Menschen schon meisterhafte Steinwerkzeugmacher und, so Adovasio, durchaus in der Lage, vielfältige, anspruchsvolle und scharfkantige Werkzeuge zum Schneiden und Schneiden herzustellen. »Die völlige Abwesenheit von derlei Werkzeugen ist … nun, sagen wir mal vorsichtig, verwirrend«, kommentiert er. Adovasio leitet die Ausgrabungen an der kontrovers beurteilten Stätte von Meadowcroft in Pennsylvania, die vielleicht 16 000 Jahre alt ist.

Auch dass es archaische Menschen überhaupt in die Neue Welt geschafft haben sollen, ist für manche Kritiker schwer zu schlucken. Denn die Beringstraße versank vor 130 000 Jahren im Meer, bemerkt Jon Erlandson von der University of Oregon, ein prominenter Befürworter des Küstenwegmodells. »Es gibt einige Beweise dafür, dass Homo erectus in der Lage war, ein paar kleine Gewässer zu überqueren, aber keinerlei Beleg dafür, dass er oder der Neandertaler eine weite Bootsreise machen konnte oder dass sie über ähnliche anspruchsvolle Fahrzeuge verfügt hätten wie etwa modernen Menschen, die zuerst Australien kolonisierten.«

Legt man solche Zweifel an einer Kolonialisten-Spezies einmal beiseite und akzeptiert, dass sie wirklich so früh einwanderte, wie Holen postuliert – so bleibt doch die Frage, warum eine derart gähnende Lücke fehlender archäologischer Belege zwischen den Cerutti-Mastodon-Resten und den ältesten anerkannten menschlichen Siedlungsspuren in Amerika klafft. »Wenn es vor 130 000 Jahren Leute in San Diego gab, sollte man erklären können, warum sie dann plötzlich 115 000 Jahre lang wieder überall verschwunden waren«, findet Erlandson. Er stört sich an der Vermutung der Autoren, man hätte bisher einfach nicht gut genug in alten Schichten gesucht: Im Gegenteil hätten er und andere Archäologen seit einiger Zeit ebendas getan, wenn sie etwa zu ganz ähnlichen Bauvorhaben gerufen wurden wie dem, bei dem das Cerutti-Mastodon damals aufgetaucht ist. »Ich habe in der Gegend von Santa Barbara durchaus etwas Erfahrung bei Bauüberwachungen, und wir haben sorgfältig Ausgrabungen bis hin zu Sedimenten im gleichen Alter durchgeführt und nach Artefakten gesucht. Gefunden haben wir nichts«, sagt er. »Es will mir nicht in den Kopf, dass über Jahrzehnte geologischer Überwachung niemand irgendetwas gefunden hat.« Erlandson erinnert an die lange Tradition von später sämtlich widerlegten angeblichen Spuren der frühen menschlichen Besiedlung Amerikas – etwa an Fundstellen wie den Calico Hills in Kalifornien, die der berühmte kenianische Paläoanthropologe Louis Leakey für womöglich 200 000 Jahre alt gehalten hat.

Es fehlt aber nicht nur jede Spur von Menschen in Amerika, die auch nur annähernd 130 000 Jahre alt sind. Es gibt auch keinerlei Anzeichen menschlicher Aktivität dort, wo Einwanderer in Richtung Neue Welt losgezogen sein dürften: In Nordostasien »weht nicht einmal ein Hauch von derart alten Fundstücken«, erklärt Archäologe Robin Dennell von der University of Exeter in England, der die Ausbreitung von menschlichen Vorfahren in Asien, Australien und Amerika untersucht. Dennell stört sich persönlich dabei nicht etwa an der Interpretation der Knochen und Steine ​​ als Zeichen menschlicher Aktivität. Die Datierung aber lässt ihn zweifeln: »Der Beleg, das die Fundstelle 130 000 Jahre alt ist, scheint auf nur drei Uran-Serien-Daten zu ruhen«, bemerkt er – und ruft in einem (ins Deutsche unübersetzbaren) Wortspiel nach deutlich mehr Daten für den Nachweis einer pleistozänen Herkunft: »I'd want to see Cerutti Mastodon covered in more dates than a [date] palm tree before claiming it was in the last interglacial!«

Bei archäologischen Datierungsexperten sorgte die Studie im Übrigen für gemischte Reaktionen: »Ich denke, die zeitliche Einordnung passt schon«, meint zum Beispiel der Geochronologe Rainer Grün von der Griffith University in Australien. Die Geochemikerin Bonnie Blackwell vom Williams College ist dagegen der Meinung, das Team könnte seine Argumentation noch stärker unterfüttern. Schließlich könne schwammiges Knochengewebe Uran aufnehmen oder auch schneller auswaschen, was die Genauigkeit der Datierung beeinflussen dürfte. Blackwell hätte die Mastodon-Stoßzähne vom Fundort eher mit Elektronenspinresonanz (ESR) untersucht, eine Technik, die das Alter anhand der Elektronen im Zahnschmelz abschätzt. Mit einer Kombination aus Uran-Datierung und ESR hatte Blackwell bereits erfolgreich Mastodon-Überreste datiert, die am Fundort Hopwood Farm in Illinois ausgegraben wurden.

Bei all dem »sollten wir trotzdem offen bleiben. Ich bewundere die Kollegen dafür, sich derart zu exponieren – etwas, wofür sie Anerkennung verdienen«, meint der Archäologe Tom Dillehay von der Vanderbilt University, der seit Jahren mit der archäologischen Gemeinschaft darüber gestritten hat, ob die Fundstelle von Monte Verde in Chile älter ist als die Clovis-Kultur. Heute haben die meisten Experten akzeptiert, dass Monte Verde rund 15 000 Jahre ist, vielleicht sogar, wie Dillehay meint, 18 000 bis 20 000 Jahre. Allerdings: Zur Studie nach menschlicher Aktivität an der Cerutti-Mastodon-Fundstelle befragt, meint Dillehey, für einen so frühen Besiedlungszeitpunkt seien »sicher noch mehr Beweise notwendig«.

Das findet auch Hemmings. »Ich bin grundsätzlich Fan der Idee von Hominiden in Amerika vor 130 000 Jahren – nicht allerdings auf der Basis der vorliegenden Beweise. Die reichen noch nicht, um den Champagner zu köpfen.«



Der Artikel ist im Original unter dem Titel »Ancient Bones Spark Fresh Debate over First Humans in the Americas« in »Scientific American« erschienen.

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