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Tagebuch eines Ausgesetzten: Alleingelassen mitten im Atlantik

1726 fanden englische Seeleute auf Ascension Island ein verlassenes Lager und ein Tagebuch. Seite um Seite offenbarte sich das erschreckende Schicksal eines Ausgesetzten.
Ein dramatisches Seestück zeigt mehrere Segelschiffe auf einem stürmischen Meer unter einem bewölkten Himmel. Die Schiffe sind mit vollen Segeln unterwegs, während Wellen gegen die Rümpfe schlagen. Im Vordergrund ist ein kleines Boot zu sehen, das zwischen den größeren Schiffen manövriert. Die Wolkenformationen im Hintergrund verleihen der Szene eine dynamische und bedrohliche Atmosphäre.
Auf den Schiffen der Vereinigten Ostindien-Kompanie herrschten strenge Regeln. Wer dagegen verstieß, musste damit rechnen, auf einer einsamen Insel ausgesetzt zu werden – so wie Leendert Hasenbosch.

Als das Heck der »Prattenburg« an jenem 5. Mai 1725 endgültig hinter dem Horizont verschwand, war Leendert Hasenbosch allein. Nicht allein wie jemand, der einen Berggipfel erklimmt oder einen abgelegenen Hof bewirtschaftet. Hasenbosch war so allein, wie ein Mensch auf diesem Planeten nur sein konnte. Er stand auf einem schroffen Flecken Land mitten im Atlantik, trocken, braun, heiß – und mehr als 1000 Kilometer von der nächsten Küste entfernt: Ascension Island. Die Insel, die man an einem Tag überqueren kann, war sein Gefängnis und seine Strafe zugleich. So fühlte es sich also an, ausgesetzt zu werden.

Immerhin hatte ihm die Besatzung der »Prattenburg« das Nötigste überlassen, darunter ein volles Wasserfass, zwei Eimer, eine rostige Pfanne, ein wenig Reis, Erbsen und Zwiebeln, eine Bibel, Stift und Papier, eine Schrotflinte und – je nachdem, welcher Quelle man Glauben schenkt – wohl auch drei Patronen, dazu ein Messer, ein Beil, ein Zelt und ein Segeltuch. Nicht immer waren die Kapitäne so gnädig, manche Straftäter landeten auf Felsen, die kaum über die Wasseroberfläche ragten. Hasenbosch hatte eine echte Chance bekommen.

Doch der Niederländer war Buchhalter, kein Überlebenskünstler. Kaum stand sein Zelt, griff er zur Feder und begann, akribisch Tagebuch zu führen. Schon die ersten Einträge zeugen von Verzweiflung. »Ich wünsche mir aufrichtig, dass mich ein Unglück ereilt, um diesen elenden Tagen ein Ende zu setzen«, schrieb Hasenbosch nach etwa 48 Stunden in der Verbannung.

Wie er aussah, welche Kleider er am Leib trug, darüber ist nichts überliefert. Selbst sein richtiger Name ist erst bekannt, seit es dem niederländischen Autor Michiel Koolbergen um 2000 gelang, den Ausgesetzten zu identifizieren: In den Archiven der Vereinigten Ostindien-Kompanie (VOC) stieß er auf eine knappe Notiz, in der die Aussetzung vermerkt ist.

Ascension Island | Dank botanischer Experimente ist die Insel inzwischen etwas reicher bewachsen als zu Hasenboschs Zeiten. Sie gehört als Überseegebiet St. Helena, Ascension und Tristan da Cunha zum Vereinigten Königreich. Die rund 750 Einwohner sind überwiegend Militärangehörige.

Die Strafe für »Sodomie«?

Rekonstruieren lässt sich, dass Hasenbosch im Dienst der niederländischen VOC stand und im Oktober 1724 an Bord der »Prattenburg« gegangen war, eines Handelsschiffs, das als Teil einer größeren Flotte von Batavia (heute Jakarta) in Indonesien über Kapstadt zurück nach Europa segelte. Es war die Zeit, als niederländische Ostindienfahrer – Dreimaster mit hohem Rumpf und lang gezogenem Bugspriet – den Handel mit Asien beherrschten. Meist stachen sie im Auftrag der VOC in See, die in ihren Niederlassungen an den Küsten Indiens, Sri Lankas und Indonesiens als eine Art private Kolonialmacht auftrat.

Auch an Bord der Schiffe setzten Bedienstete der VOC die Gesetze durch – und das niederländische Recht des frühen 18. Jahrhunderts war von der prüden Moral des Calvinismus geprägt. So mischten etwa die Köche der Handelsschiffe den Matrosen Salpeter ins Essen, in der Hoffnung, den Sexualtrieb der Männer zu dämpfen. »Sodomie«, so die damals übliche Bezeichnung für jeglichen Sex, der nicht der Fortpflanzung dient, war streng verboten. Insbesondere, wenn er zwischen Männern stattfand. Und Frauen waren auf den teils monatelangen Schiffsreisen ohnehin nicht geduldet.

Es war wohl dieses Verbot, gegen das der rund 30-jährige Offizier verstoßen hatte, vermutlich irgendwann zwischen dem 11. April, an dem das Schiff Kapstadt verließ, und dem 17. April, auf den die Aktennotiz, die Michiel Koolbergen aufspürte, die Verurteilung datiert. Was genau ihm vorgeworfen wurde, darüber lässt sich nur spekulieren, Logbücher der »Prattenburg« von dieser Reise sind nicht erhalten. In der Aktennotiz wird Hasenbosch als »Schurke« bezeichnet, deshalb sei er ausgesetzt worden. Das macht plausibel, dass der Vorwurf der Sodomie seine Verbannung auslöste – bei einem anderen Vergehen hätte die VOC vermutlich nicht so einen verhüllenden Ausdruck verwendet. Dass er allein ausgesetzt wurde, lässt vermuten, dass er Sex mit einem niederrangigen Besatzungsmitglied hatte, das zur Strafe schlicht über Bord geworfen worden war.

Das Aussetzen war in der rauen Seefahrt des 18. Jahrhunderts keine ungewöhnliche Strafe. Dutzende solcher Fälle sind überliefert. Zur Berühmtheit schaffte es der Schotte Alexander Selkirk, den sein Kapitän 1704 nach versuchter Meuterei auf eine Pazifikinsel verbannte. Nachdem Selkirk fünf Jahre dort überlebt hatte, rettete ihn ein englisches Schiff. Seine Geschichte wurde zur Vorlage für Daniel Defoes Roman »Robinson Crusoe«.

Warten auf den Tod – oder ein Schiff

Man konnte die Tortur in der Einsamkeit also überleben. Zumal Ascension, wie der Verbannte wusste, durchaus regelmäßig von anderen Handelsschiffen angesteuert wurde. Wann würden Segel am Horizont auftauchen? In ein paar Wochen? In einem Jahr? An manchen Tagen schaffte es Hasenbosch kaum, seinen Blick vom Meer loszureißen. Aus jeder Kleinigkeit mache seine Fantasie ein Segel, schrieb er. Er starre, starre, bis ihm alles vor Augen verschwimme.

Die Insel ist karg, aber nicht leblos. Größere Säugetiere konnte er nicht entdecken. Allerdings gab es zahlreiche Vögel und Schildkröten. Schon an Tag zwei war es ihm gelungen, mit seinen drei Patronen – womöglich sogar mit bloßen Händen – drei Tölpel zu jagen, die er häutete, salzte und in die Sonne legte, um sie haltbar zu machen. Kurz darauf erschlug er eine Schildkröte mit dem Gewehrkolben, legte einen kleinen Garten an, in dem er Zwiebeln und Erbsen einpflanzte. Er erklomm einen Hügel und richtete auf der Kuppe mit einem hellen Stück Stoff eine weiße Fahne auf. Sollte ein Schiff vorüberfahren, so seine Hoffnung, würde die Besatzung vielleicht auf ihn aufmerksam. Offenbar gehörten zu den Dingen, die ihm seine Richter zugestanden hatten, auch Feuerstein und Zunder, denn am Abend des sechsten Tages notierte Hasenbosch beiläufig, dass er sich ein wenig Reis kochte.

Doch bald ereilte ihn das Pech: Beim Versuch, sein Fass anzustechen, lief ein großer Teil des kostbaren Wassers aus. Hasenboschs Suche nach frischen Quellen blieb zunächst erfolglos – wohl auch, weil er oft zu schnell aufgab und sich stattdessen in schier endlosen Gebeten erging. Am 22. Mai angelte er stundenlang, ohne dass ein Fisch anbiss. Dann vergaß er glimmenden Zunder in seinem Lager. Als er zurückkam, quoll dicker Rauch aus dem Zelt. Zu seinem Glück beschädigte das Feuer seinen wenigen Besitz kaum.

In der Nacht suchen ihn Gespenster heim

Am 8. Juni blieben ihm nur noch wenige Liter Wasser. Die Flüssigkeit war zudem »so trübe geworden, dass ich gezwungen war, sie durch ein Taschentuch zu seihen«. Wie besessen begann er, metertiefe Löcher in den Sand zu graben, fand jedoch nichts als Schlamm. Die 88 Quadratkilometer große Insel liegt zwar in den Tropen, aber es regnet nur selten, stattdessen herrscht Wüstenklima. Lediglich auf der höchsten Erhebung, dem 859 Meter hohen Green Mountain, ist es etwas freundlicher. »Es ist unmöglich, meine Sorge auszudrücken, zuerst, weil ich keine Schiffe sehe, die mich von dieser Insel geleiten, und dann, weil ich darauf kein Auskommen finde«, notierte er.

Zwei Tage darauf, die letzten Tropfen aus seinem Fass hatte er bereits verbraucht, schleppte er sich stundenlang unter der brennenden Sonne über die Insel. Als er die Hoffnung beinahe aufgegeben hatte, stieß er auf einen Felsen, aus dem klares Wasser sprudelte. Er habe getrunken, bis er beinahe platzte, notierte Hasenbosch. Doch kaum schien die Gefahr zu verdursten gebannt, drohte dem Verstoßenen neues Übel – zumindest laut der englischen Übersetzung seiner Notizen.

»Sodomie bestraft« (1726) | Mit der Übersetzung von Hasenboschs Tagebuch stillte der Verleger das Verlangen des Publikums nach neuen Robinson-Geschichten und machte zugleich ein Lehrstück daraus. Wie viel hinzugedichtet wurde, ist unklar, denn das Original ist verschollen.

Als sich Hasenbosch am 16. Juni zum Schlafen in sein Zelt legte, vernahm er demnach »Flüche und Beleidigungen und die blasphemischsten Gespräche, die ich jemals gehört habe«. Der Eintrag zu dieser Nacht ist einer der längsten in seinem Tagebuch, zudem besonders sorgfältig, geradezu literarisch ausformuliert. »Ich war sicher, dass außer mir kein menschliches Wesen auf der Insel war […], und so viel lüsterne Rede konnte unmöglich von jemand anderem geäußert werden als von Teufeln.«

Zum ersten Mal in anderthalb Monaten deutete der Verstoßene die Ursache seiner Strafe zumindest an. Über eine der folgenden Nächte berichtet er, ihn suche ein Mann heim, den er »vollauf gekannt« habe. Er hielt die Hoffnung fest, seine Qualen auf der Insel genügten als Strafe für »das Schlimmste meiner Verbrechen, mein Mitgeschöpf benutzt zu haben, um eine Lust zu stillen, für die der Allmächtige Schöpfer ein anderes Geschlecht vorgesehen hat«, wie es in der Tagebuchausgabe von 1728 heißt.

Stoff für eine lehrreiche Fabel

Und dennoch bestehen gerade an diesen Ausführungen Zweifel, schrieb der 2023 verstorbene niederländische Autor und Hasenbosch-Experte Alex Ritsema in seinem Buch »A Dutch Castaway on Ascension Island in 1725«. Denn das auf Niederländisch verfasste Original von Hasenboschs Tagebuch ist verschollen. Sämtliche Forschung, sämtliche Literatur über seine Verbannung beruhen auf einer anonymen zeitgenössischen Übersetzung ins Englische. Der Stil, in dem der Autor von den nächtlichen Heimsuchungen berichtet, erinnert jedenfalls stellenweise an Defoes »Robinson Crusoe«, der acht Jahre vor Hasenboschs Verstoßung die Einsame-Insel-Literatur begründet hatte, erläutert Ritsema, der die Recherche des 2002 verstorbenen Michiel Koolbergen weitergeführt hat.

Eine literarische Fiktion ist Hasenboschs Schicksal jedoch sicher nicht. Die Aufzeichnungen der VOC beweisen es. Ob er aber wirklich eine Vision von Gespenstern auf Ascension hatte, die ihn auf geradezu biblische Weise mit seiner vermeintlichen Sünde konfrontierten, ist zumindest fragwürdig. Womöglich hat der englische Übersetzer Hasenboschs Wahn ausgeschmückt oder ganz erfunden.

In diesem Fall hätte er zumindest einen dramaturgisch geeigneten Zeitpunkt gewählt: Die Halluzinationen hielten für einige Tage an, danach begann die Wasserquelle zu versiegen. Seine Haut, notierte der Geschwächte um den 27. Juni, »ging in Blasen auf unter dem gewalttätigen Herz der Sonne«. Wenige Tage später war die Quelle trocken.

»Alles wie gehabt«, lautet der letzte Eintrag

War der Verstoßene bisher zwar einsam und verzweifelt, körperlich aber unversehrt gewesen, schwand nun seine Kraft. Ausgerechnet jetzt entdeckte er eine Ziegenherde – Tiere, die von Schiffsbesatzungen als lebender Proviant auf der Insel ausgesetzt worden waren. »Sie waren zu flink für mich«, notierte er entmutigt. Über den Juli hinweg wurden seine Einträge immer kürzer. Drei ganze Tage handelte er mit einem dürren Satz ab: »Suchte nach Wasser, aber fand keines.« Einmal entdeckte er noch eine Pfütze, die ihn über einige Tage brachte. Am 21. August trank er erstmals seinen Urin. Die Qualen, die er litt, müssen unvorstellbar gewesen sein. Manchmal fand er Eier, die ihn über den Tag brachten. Dann wieder ging seine Suche leer aus. Einmal versuchte er, seinen Durst mit Meerwasser zu stillen, später kochte er sich Tee mit geronnenem Schildkrötenblut. Ständig übergab er sich oder erlitt Durchfälle, die ihm noch mehr Wasser entzogen.

Das Tagebuch bricht ab

Von Anfang September bis Mitte Oktober verfasste Hasenbosch nur noch zehn Notizen. »Trank meinen eigenen Urin und aß rohes Fleisch«, lautete die vorletzte, »alles wie gehabt« die letzte. Danach bricht das Tagebuch ab, fünf Monate und neun Tage nach dem ersten Eintrag. Viel spricht dafür, dass Hasenbosch in den Tagen danach verdurstete. Und doch bleibt sein Schicksal geheimnisvoll.

Keine drei Monate, nachdem er verstummt war, geschah, worauf er so sehnlich gehofft hatte: Zwei englische Schiffe steuerten Ascension an. Als die Matrosen an Land gingen, entdeckten sie das Lager des Verstoßenen, einen Großteil seiner Habe – und sein Tagebuch. Hasenbosch selbst fanden sie dagegen nicht, auch keinen noch so kleinen Hinweis auf das Los, das ihn ereilt hatte. Ist es plausibel, dass einer, der noch im Zustand größter Schwäche in sein Tagebuch schrieb, seine kostbaren Notizen zurückließ, als er sich zum Sterben an einen anderen Ort schleppte? Ging der augenscheinlich sehr gläubige Christ, für den Suizid eine weitere schwere Sünde gewesen wäre, ins Meer, um das Ende zu erzwingen?

Nach drei Tagen legten die Schiffe ab, im April 1726 erreichten sie London. Noch im selben Jahr brachte der Verlag John Roberts, der auch Daniel Defoes Werke veröffentlichte, das Tagebuch in englischer Übersetzung heraus. »Leondert Hussenlosch, Sodomy Punish'd« ist die Grundlage sämtlicher Rezeptionen von Hasenboschs Schicksal, die in den über zweieinhalb folgenden Jahrhunderten erschienen. Nach Angaben der British Library befindet sich das einzige bekannte Exemplar in ihrem Besitz. Koolbergen und Ritsema stützten sich bei ihren Studien auf eine jüngere Ausgabe von 1728.

Neben Selbsttötung und dem Tod durch Verdursten ist eine dritte, tröstlichere Erklärung denkbar, warum die englischen Seeleute Hasenbosch nicht fanden: Noch vor ihrer Ankunft könnte ein anderes Schiff die Insel angesteuert haben, immerhin liegt sie an der damals gängigen Route vom Kap der Guten Hoffnung nach Europa. Dieses Schiff könnte den Verstoßenen kurz vor dem sicheren Tod gerettet haben.

Alex Ritsema schlug vor, auch die Archive der französischen, portugiesischen oder schwedischen Seefahrt zu durchforsten. Erst wenn sicher sei, dass zwischen Oktober 1725 und Januar 1726 kein Schiff vor Ascension Halt machte, lasse sich mit Gewissheit sagen, dass Leendert Hasenbosch auf seiner einsamen Insel einen einsamen Tod gefunden habe.

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