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Frühes Universum: Ließ das Higgs-Boson die Antimaterie verschwinden?

Warum verflüchtigte sich die Antimaterie fast komplett aus unserem Universum? Das Higgs-Feld ist der Grund, sagen Forscher: Seine Schwankungen setzten die Materie in Vorteil.
5. Nachweis des Higgs-Bosons

Im Grunde genommen könnten alle Dinge im Universum – wir inbegriffen – aus Antimaterie statt aus Materie bestehen. Denn der Urknall ließ vermutlich beide Materieformen zu etwa gleichen Teilen entstehen. Doch von der einst reich vorhandenen Antimaterie blieben nur mehr Spuren. Irgendein Effekt muss in der Frühzeit des Universums dafür gesorgt haben, dass die normale Materie die Oberhand gewann. Nur welcher? In der Fachzeitschrift "Physical Review Letters" haben Wissenschaftler nun eine neue Theorie vorgestellt, der zufolge das kürzlich entdeckte Higgs-Boson dafür verantwortlich sein könnte; genauer: das mit ihm verknüpfte Higgs-Feld.

Dieses Feld soll den gesamten Raum ausfüllen und allen Teilchen, die mit ihm in Wechselwirkung treten, eine Masse verleihen. Besaß das Higgs-Feld im frühen Universum einen sehr hohen Wert, der erst im Lauf der Zeit auf den aktuellen niedrigeren Wert absank, könnten sich die Massen von Teilchen und ihren Antiteilchen kurzzeitig unterschieden haben – und das wäre ungewöhnlich, denn laut Definition besitzt jedes Antiteilchen zwar die entgegengesetzte Ladung, aber exakt dieselbe Masse wie das entsprechende Materieteilchen. Sollten sich ihre Massen jedoch einstmals unterschieden haben, wäre es denkbar, dass im jungen Kosmos mehr Materie- als Antimaterieteilchen entstanden. Und das wiederum könnte schließlich zum heute beobachteten Überschuss an Materie geführt haben.

Suche am CERN | Im kreisförmigen, 27 Kilometer langen Tunnel des LHC rotieren Protonen fast mit Lichtgeschwindigkeit. An ausgewählten Punkten bringen die Physiker zwei Teilchenbündel zur Kollision. Bei dem Crash der Protonen wird Energie in Masse umgewandelt – neue Teilchen entstehen und fliegen davon. Bei einigen von ihnen könnte es sich auch um Partikel handeln, die bisher von keiner Theorie der Physiker beschrieben werden.

"Das ist eine schöne Idee, die man weiter erforschen sollte", sagt Kari Enqvist von der Universität Helsinki, der nicht an der neuen Studie beteiligt war, aber bereits selbst der Frage nachgegangen ist, ob der Wert des Higgs-Felds mit der Zeit abgenommen hat. "Die Wahrscheinlichkeit, dass das Higgs-Feld nach der Inflation einen höheren Wert besaß als heute, ist sehr groß", sagt Enqvist.

Leichtere Materieteilchen wären im Vorteil

Unter Inflation verstehen Physiker eine von Theoretikern postulierte, kurze Phase im frühen Universum, in der sich die Raumzeit unglaublich schnell ausdehnte. "Die Inflation weist eine sehr besondere Eigenschaft auf: Sie erlaubt es Feldern, [zwischen verschiedenen Werten] hin- und herzuspringen", erklärt der Leiter der Studie, Alexander Kusenko von der University of California in Los Angeles. Während der Inflation veränderte sich der Kosmos grundlegend – und das in deutlich weniger als einer Sekunde. Auch das Higgs-Feld könnte damals auf Grund von Quantenfluktuationen zwischen verschiedenen Werten geschwankt sein, um dann, am Ende der Inflationsphase, bei einem sehr hohen Wert hängen zu bleiben. Anschließend sank dieser Wert wieder ab, bis ein "Gleichgewichtswert" erreicht war. Gut möglich, dass der sich ändernde Wert den Materieteilchen eine andere Masse verlieh als ihren Gegenstücken aus Antimaterie, meinen nun Kusenko und Kollegen. Wären die Materieteilchen durch diesen Vorgang leichter geworden als ihre Gegenstücke, so dürften sie deutlich häufiger entstanden sein – und schnell die Antimaterie überholt haben. Denn je leichter ein Teilchen ist, desto weniger Energie ist für seine Produktion nötig.

Dass das Higgs-Feld während der Inflation so einfach seinen Wert ändern konnte, wie Kusenko und Kollegen vermuten, liegt an der relativ geringen Masse des Higgs-Bosons – also jenes Teilchens, das mit diesem Feld verknüpft ist. 2012 entdeckten Physiker das Boson im Large Hadron Collider (LHC) und bezifferten seine Masse auf etwa 126 Gigaelektronvolt, etwa das 118-Fache der Protonenmasse.

Das ist etwas leichter, als laut verschiedenen Theorien zu erwarten war. Man kann sich das Higgs-Feld als ein Tal zwischen zwei schroffen Felswänden vorstellen. Der Wert des Felds entspricht der Höhe des Tals, und die Masse des Bosons bestimmt die Steigung der Felswände. "Ist das Tal sehr tief eingeschnitten, dann sind die Felswände wahrscheinlich sehr steil", erklärt Kusenko. "Genau das haben wir nun gezeigt. Der Wert sagt uns, dass die Wände nicht sehr steil ausfallen – das heißt, das Higgs-Feld konnte herumspringen" und zu Tälern in höheren Lagen aufsteigen. Sein Kollege Kari Enqvist stimmt ihm zu: Das Higgs-Feld könnte sehr wohl mit einem deutlich höheren Wert als heute angefangen haben. Doch dass dies gleichzeitig der Materie zu einem Vorteil gegenüber der Antimaterie verhalf, sei "ein Stück weit Spekulation", so der Forscher.

Majorana-Neutrinos erlauben Verwandlungstrick

Denn die Dominanz der Materie hängt in diesem Szenario auch vom Vorhandensein eines bisher nur hypothetischen Teilchens ab: des so genannten Majorana-Neutrinos. Neutrinos sind Elementarteilchen, die in drei bekannten Typen – Elektron-, Myon- und Tau-Neutrino – auftreten. Darüber hinaus könnte mit dem Majorana-Neutrino noch ein viertes existieren, das allerdings viel massereicher sein dürfte als die anderen und daher schwieriger nachzuweisen wäre (denn je schwerer ein Teilchen ist, desto mehr Energie muss ein Beschleuniger aufbringen, um es zu erzeugen). Es hat überdies die kuriose Eigenschaft, sein eigenes Antiteilchen zu sein: Das Majorana-Neutrino und das Anti-Majorana-Neutrino wären ein und dasselbe.

Durch ihr Doppelleben könnten diese Neutrinos eine Brücke zwischen Materieteilchen und Antimaterieteilchen schlagen: Die Gesetze der Quantenwelt erlauben es einem Teilchen, sich für einen kurzen Moment in ein anderes Teilchen zu verwandeln. Der Wechsel von Materie zu Antimaterie oder umgekehrt ist dabei aber normalerweise untersagt. Doch würde sich ein Antimaterieteilchen – beispielsweise ein Anti-Elektron-Neutrino – in ein Majorana-Neutrino umwandeln, wäre nicht mehr klar, ob es sich ursprünglich um ein Teilchen aus Materie oder aus Antimaterie handelte – dadurch kann sich das Anti-Elektron-Neutrino genauso gut in ein gewöhnliches Elektron-Neutrino zurückverwandeln. Und wäre das entsprechende Neutrino im frühen Universum auf Grund des variierenden Higgs-Felds etwas leichter gewesen als das Antineutrino, sollte dies das wahrscheinlichere Resultat sein – was der Materie einen Vorteil gegenüber der Antimaterie verschafft hätte.

Magnetische Spurensuche im Universum

"Falls dem so war, würde das ein großes Rätsel in der Teilchenphysik lösen", sagt der Physiker Don Lincoln vom Fermi National Accelerator Laboratory in Illinois, der nicht an der Studie beteiligt war. Doch bislang sei die Existenz des Majorana-Neutrinos reine Spekulation: "Es hat sich einem Nachweis bislang entzogen – obwohl man in Experimenten am LHC ganz gezielt danach sucht. Die Wissenschaftler werden aber dieses Konzept sicher im Hinterkopf behalten, wenn sie die neuen LHC-Daten sichten, die ab Frühsommer dieses Jahres generiert werden" (siehe "Eine neue Ära am CERN").

Kusenko und seine Kollegen hoffen auch noch von anderer Seite auf Unterstützung für ihre Theorie. Die von ihnen postulierte bewegte Vergangenheit des Higgs-Felds könnte Magnetfelder mit bestimmten Eigenschaften hervorgerufen haben, die noch heute im Universum existieren und möglicherweise nachweisbar sein sollten. Ließen sich solche Felder tatsächlich aufspüren, wäre das ein Beweis dafür, dass der Wert des Higgs-Felds vor langer Zeit wirklich abnahm. Die Wissenschaftler wollen nun berechnen, welche Eigenschaften diese Magnetfelder genau besitzen und wie wahrscheinlich es wäre, sie zu beobachten. Es besteht also die Hoffnung, dass ihre Theorie überprüfbare Aussagen macht – und es uns damit vielleicht erlaubt, das Rätsel um die verschwundene Antimaterie ein für alle Mal aufzulösen.

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