Limes-Effekt: Die süddeutsche Mentalität – ein Erbe der Römer?

In einer Szene des Monty-Python-Klassikers »Das Leben des Brian« fragt Reg, Anführer der Untergrund-Organisation »Volksfront von Judäa«: »Die Römer haben alles genommen, was wir hatten. Was haben sie dafür als Gegenleistung erbracht?« Was als Auftakt zu einer Hetztirade gegen die verhassten Besatzer gedacht ist, geht nach hinten los. Denn den Freiheitskämpfern in der britischen Komödie von 1979 fällt beim Nachdenken so Einiges ein. Fans des Filmes können Regs Resümee noch heute auswendig herbeten: »Also gut. Mal abgesehen von sanitären Einrichtungen, der Medizin, dem Schulwesen, Wein, der öffentlichen Ordnung, der Bewässerung, Straßen, der Wasseraufbereitung und den allgemeinen Krankenkassen: Was, frage ich euch, haben die Römer je für uns getan?« – »Den Frieden gebracht.« – »Ach, Frieden. Halt die Klappe!«
Kein Wunder, dass die Autoren eines 2025 erschienenen Fachaufsatzes am Anfang ihrer Publikation ebenfalls an diesen Filmausschnitt erinnern. Liefert ihre Studie doch Hinweise darauf, dass sich das Erbe des römischen Empires auch in Deutschland keineswegs nur auf Mosaike und Ruinen beschränkt. Wer heute in Gebieten lebt, die lange unter römischer Herrschaft standen, ist demnach im Schnitt zufriedener und ausgeglichener als seine Landsleute im Norden und Osten der Republik – ja darf sogar erwarten, länger zu leben. Der Wirtschaftspsychologe Martin Obschonka, Professor an der Universität Amsterdam sowie Leiter der Studie, spricht von einem »tiefen Fußabdruck« der römischen Siedlungsgeschichte.
»Wir glauben, dass das alles Folgen einer langfristigen wirtschaftlichen und kulturellen lokalen Prägung durch den römischen Einfluss sind«, sagt er. »Die Römer haben ihre Provinzen systematisch entwickelt: indem sie Straßen bauten, Märkte anlegten, Aquädukte errichteten, das Rechtswesen veränderten. Und diese zivilisatorisch tief prägenden Vorteile schlagen sich bis heute in einer höheren Wirtschaftsleistung nieder.« Diese wiederum gehe nicht nur mit einem größeren Wohlbefinden einher, sondern auch mit bestimmten Persönlichkeitstendenzen – etwa einer verringerten Neigung, sich Sorgen zu machen.
»Straßen, Märkte, Aquädukte, Rechtswesen – diese Vorteile schlagen sich bis heute in einer höheren Wirtschaftsleistung nieder«Martin Obschonka, Wirtschaftspsychologe
Obschonka arbeitet in einem noch recht jungen Forschungsfeld, der geografischen Psychologie. Ihn interessiert unter anderem, inwieweit sich die Bewohnerinnen und Bewohner verschiedener Regionen in ihrer Mentalität unterscheiden und was die Gründe dafür sind. In einer seiner Studien hat er beispielsweise Hinweise darauf gefunden, dass an Stereotypen wie dem der unterkühlten Norddeutschen oder der aufgeschlossenen Großstädter durchaus etwas dran ist. Wenn sich auf manchen Flecken der Landkarte bestimmte Wesenszüge häufen, kann das zudem messbare Auswirkungen haben. So wuchsen während der Covid-Pandemie in Gebieten, in denen Menschen tendenziell besorgter sind, die Infektionszahlen langsamer.
Die Befunde, die er 2025 zusammen mit sechs Co-Autoren vorlegte, sind allerdings nicht ganz so leicht zu interpretieren. Die Wissenschaftler haben darin die Persönlichkeitsprofile von mehr als 73 000 Personen aus ganz Deutschland ausgewertet. Die Daten entstammen einem Internetprojekt, das der US-Informatiker Jeff Potter 1997 ins Leben gerufen hat. Zusammen mit dem Psychologen Samuel Gosling hatte er einen Fragebogen ins Netz gestellt, mit dem Nutzerinnen und Nutzer einen Einblick in ihre Wesenszüge erhalten konnten. Genauer: in die »Big Five«.
Mit diesem Schlagwort bezeichnet die Psychologie fünf übergeordnete Charakterzüge – die Grunddimensionen der Persönlichkeit: Neurotizismus (wie launisch wir sind und wie leicht wir uns stressen lassen), Extraversion (in welchem Maße wir aus uns herausgehen und die Gesellschaft anderer genießen), Offenheit für neue Erfahrungen (wie neugierig wir sind und wie bereit, ausgetretene Pfade zu verlassen), Verträglichkeit (wie sehr wir uns um Harmonie bemühen oder aber Streit suchen) und Gewissenhaftigkeit (wie sehr wir versuchen, Aufgaben bestmöglich zu erledigen). Diese »großen Fünf« spannen eine Art Koordinatensystem auf, in dem sich die Persönlichkeit jedes Menschen verorten lässt.
Der Test von Potter und Gosling besteht aus 67 Fragen. Angeblich haben ihn bereits 20 Millionen Menschen rund um den Globus ausgefüllt – die Teilnahme ist weiterhin möglich unter www.outofservice.com/grosse-fuenf/. Aus zusätzlichen Angaben zum Wohnort und dem Ort, an dem man aufgewachsen ist, lassen sich regionale Unterschiede in den »Big Five« ablesen. Genau das nutzten die Forscher um Martin Obschonka für ihre Zwecke.
Die deutsche Psychogeografie
Die Bundesrepublik ist in 96 sogenannte Raumordnungsregionen aufgeteilt. Die Wissenschaftler schauten sich zunächst an, in welcher davon die 73 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer jeweils wohnten. Auf dieser Basis errechneten sie für jede der Regionen die Big-Five-Mittelwerte. Das Ergebnis für Neurotizismus ist in der Publikation abgedruckt: eine Karte, die auf den ersten Blick ziemlich gescheckt aussieht. Denn die Forscher haben darin die Regionen je nach Mittelwert unterschiedlich angefärbt. Je dunkler ein Gebiet, desto neurotischer sind die dort lebenden Befragten im Schnitt.
Beim näheren Hinsehen fällt auf, dass der Südwesten der Republik im Vergleich zur Mitte relativ hell ist. Hier sind die Menschen also im Schnitt besonders ausgeglichen – zumindest die, die sich haben testen lassen. »Das ist uns bereits bei einer vorherigen Studie aufgefallen«, erzählt Obschonka. »Einer der damaligen Co-Autoren hat sich das dann genauer angesehen und meinte: Die Trennlinie zwischen den helleren und dunkleren Regionen folgt ja genau dem Limes!«
Der Limes ist eine Grenzbefestigung, die die Römer zwischen den Jahren 75 und 150 nach Christi Geburt errichteten. Sie wollten damit eine sichere Verbindung zwischen ihren Provinzen an Rhein und Donau schaffen. Er begann in der Nähe von Regensburg an der Donau, verlief von dort 180 Kilometer nach Westen, um dann nach Norden abzubiegen, bis er nach einem weiteren Schlenker zwischen Koblenz und Remagen auf den Rhein stieß. Das Gebiet südwestlich der Grenzanlage stand bis zum Jahr 260 nach Christus unter römischer Herrschaft. Unter anderem aufgrund militärischer Auseinandersetzungen mit germanischen Stämmen gaben die Römer das Gebiet südlich des Limes schließlich auf und zogen sich bis zu Rhein und Donau zurück.
Wenn man den Limes in die Neurotizismus-Karte einzeichnet, befinden sich die helleren Regionen tatsächlich vor allem südlich davon. Daraus lässt sich freilich nicht direkt folgern, dass die Stressempfindlichkeit der Deutschen heute etwas mit der römischen Siedlungshistorie vor 1700 Jahren zu tun hat. Schließlich könnten dafür auch andere Faktoren verantwortlich sein: das Klima zum Beispiel oder die Lage zwischen den drei großen Flüssen Rhein, Donau und Main. Wenn die Forscher diese und eine ganze Reihe anderer möglicher Einflüsse herausrechneten, blieb das Ergebnis jedoch nahezu unverändert: Südlich des Limes sind die Menschen weniger neurotisch als nördlich davon.
»Wir beobachteten genau am Limes einen Bruch. Dasselbe Phänomen konnten wir auch in den Niederlanden nachweisen, wo es ebenfalls eine Grenzbefestigung der Römer gab«Martin Obschonka, Wirtschaftspsychologe
Um dieses Resultat weiter abzusichern, untersuchten sie den Zusammenhang noch mit einer anderen Methode: Sie berechneten, wie der Neurotizismuswert der Testpersonen mit der Distanz ihres Wohnorts zur damaligen Grenzanlage zusammenhängt. Diese Analyse führten sie getrennt für Gebiete nördlich und südlich des Limes durch. Auf diese Weise lässt sich mithilfe der Mathematik ermitteln, wie launisch und emotional labil eine hypothetische Person sein müsste, die direkt an der Nordseite oder aber der Südseite der damaligen Befestigungsanlage lebt.
»Tatsächlich beobachteten wir genau am Limes einen Bruch: Die Werte für Neurotizismus, Extraversion und Verträglichkeit machen exakt dort einen Sprung«, betont Obschonka. »Dasselbe Phänomen konnten wir auch in den Niederlanden nachweisen, wo es ebenfalls eine Grenzbefestigung der Römer gab.« Solch ein Sprung wäre in der Tat ein gewichtiges Argument für die These, dass die römische Siedlungsgeschichte die Menschen in Deutschland bis heute prägt.
Kritik an der Limes-Theorie
Allerdings hat die Untersuchungsmethode einen Nachteil: Sie tendiert dazu, genau dort einen Sprung zu finden, wo sie danach sucht. »Wenn ich mir die Trends in den Werten anschaue, sehe ich bei Verträglichkeit und Extraversion eher 30 Kilometer außerhalb des Limes im damaligen Germanien einen Bruch als direkt an der Grenzlinie«, sagt der Geograf Sebastian Klüsener, Forschungsdirektor am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden und Professor für Soziologie und Sozialpsychologie an der Universität zu Köln. Sprich: Hätten die Forscher dort nachgeschaut und nicht am Limes, hätten sie eventuell ebenfalls eine abrupte Änderung des Persönlichkeitsprofils festgestellt. Oft testen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Robustheit ihrer Befunde, indem sie sogenannte Placebo-Grenzen ziehen und schauen, ob dort ebenfalls Sprünge in den Daten auftreten. Das ist hier jedoch unterblieben.
Hinzu kommt, dass der Sprung eher ein müder Hopser ist. Am größten fällt er noch beim Neurotizismus aus – der liegt direkt südlich der Grenze im Mittel bei 2,97, direkt nördlich davon bei 3,04. Um diesen Unterschied einzuordnen, hilft es, sich den Fragebogen von Gosling und Potter anzusehen: Darin gibt es 13 Aussagen, die den Neurotizismus messen – zum Beispiel »ich bleibe auch in stressigen Situationen gelassen« oder »ich kann launisch sein, habe schwankende Stimmungen«. Jede davon lässt sich auf einer Skala von 1 (stimme überhaupt nicht zu) bis 5 (stimme voll und ganz zu) bewerten.
Wer 13 Mal sein Kreuzchen bei der 3 macht, kommt also auf einen Neurotizismuswert von 3,0. Wer sich zwölfmal für die 3 entscheidet und einmal für die 4, liegt bei 3,08. Eine einzige minimale Abweichung beim Ausfüllen des Bogens führt also zu einer ähnlich starken Änderung, wie die Forscher sie am Limes festgestellt haben. »Ich habe den Eindruck, dass die in der Studie gefundenen Persönlichkeitsunterschiede sehr klein sind und keine praktische Relevanz haben«, sagt denn auch Stefan Schmukle, der an der Universität Leipzig die Professur für Persönlichkeitspsychologie und Psychologische Diagnostik innehat.
Argumente für den Limes-Effekt
Immerhin: Möglich ist es, dass sich die Persönlichkeit am Limes ändert – die Daten scheinen zumindest darauf hinzudeuten. Wenn sie das tut, dann aber wahrscheinlich nur minimal. Und was ist dran an der Vermutung, dass dafür der durch die Römer ausgelöste Entwicklungsschub verantwortlich ist? Ein gewichtiges Argument für diese These stammt von dem Wirtschaftswissenschaftler Fabian Wahl, der heute eine Assistenzprofessur an der Universität Wien bekleidet. Er konnte im Jahr 2017 zeigen, dass die ehemaligen römischen Provinzen heute nachts heller leuchten als die Gebiete nördlich davon.
Der Helligkeitssprung erfolgt demnach ebenfalls direkt am Limes. Wahl schloss mithilfe der oben angesprochenen Placebo-Grenzen sogar aus, dass es ähnliche Brüche beispielsweise auch 10 Kilometer weiter nördlich oder 30 Kilometer weiter südlich gibt. Er führt den Effekt auf das römische Straßennetz zurück, das zu einer schnelleren Urbanisierung, verstärktem Handel und einer insgesamt besseren ökonomischen Entwicklung geführt habe. Sprich: Weil die Römer südlich des Limes Straßen bauten, gibt es dort noch heute mehr künstliches Licht.
Der Wirtschaftsgeograf Lukas Spatz von der Universität Gießen glaubt, dass solche Rahmenbedingungen durchaus auch psychologische Auswirkungen haben können. »Nehmen Sie zum Beispiel Finnland«, sagt er. »Dort haben die Menschen ein großes Vertrauen in den Staat und in ihre Mitmenschen. Vermutlich ist das einer der Gründe dafür, dass die meisten Finnen Studien zufolge besonders zufrieden mit ihrem Leben sind.«
Dieses Vertrauen kommt nicht von ungefähr. Die Finnen erfahren täglich, dass ihr Staat vergleichsweise gut funktioniert: Busse und Bahnen fahren pünktlich, ihre Schulen schneiden im internationalen Vergleich gut ab, die Korruption ist gering, ebenso wie die Kriminalitätsrate. »In einem solchen Umfeld gedeihen soziale Normen, die gesellschaftsdienliches Verhalten und damit das Vertrauen weiter fördern«, meint Spatz. »Das sind Effekte, die sich gegenseitig verstärken und so eine langfristige Wirkung entfalten. Wenn Sie dagegen wenige Kilometer nach Osten gehen, über die finnisch-russische Grenze, sieht die Situation anders aus: Dort herrscht ein verhältnismäßig hohes Misstrauen gegenüber anderen vor.«
Wenn es einen Limes-Effekt gibt, dann ist er nur einer von vielen Einflüssen
Wer dauernd befürchten muss, Opfer staatlicher Willkür zu werden, oder ständig um sein Überleben kämpfen muss, wird wahrscheinlich nicht sonderlich entspannt durchs Leben gehen. Umgekehrt können gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Fortschritt Wesenszüge wie Extraversion, Verträglichkeit und Ausgeglichenheit möglicherweise stärken und langfristig verfestigen. Wirklich belegt ist diese These allerdings nicht.
In dieses Narrativ passen auch zwei weitere Beobachtungen: Die Menschen südlich des Limes sind im Schnitt mit ihrem Leben zufriedener. Und sie haben eine höhere Lebenserwartung. Auf rund sechs Monate beziffern Obschonka und seine Kollegen den Vorsprung durch das römische Erbe. Allerdings haben die Forscher für diese beiden Parameter nicht analysiert, ob sie sich tatsächlich direkt an der ehemaligen Grenze ändern. Es könnte daher auch sein, dass andere Einflüsse dafür verantwortlich sind, die die Wissenschaftler in ihrer Analyse nicht bedacht und damit auch nicht herausgerechnet haben.
Dass solche Zweifel durchaus angebracht sind, zeigt ein Blick in die Geschichte. So war zwischen 1900 und 1950 die Lage in Bayern und Teilen Baden-Württembergs längst nicht so rosig wie aktuell: Das Pro-Kopf-Einkommen lag niedriger als in anderen Teilen des heutigen Deutschlands, die Lebenserwartung ebenfalls. Bevölkerungsforscher wissen, dass beides eng miteinander verknüpft ist. Erst nach dem Krieg begann der Süden Deutschlands seine Aufholjagd. Heute steht er wirtschaftlich an der Spitze der bundesdeutschen Regionen – und auch in der Lebenserwartung.
Wenn es also einen Limes-Effekt gibt, dann ist er nur einer von vielen Einflüssen, und manch andere sind vermutlich deutlich stärker. »In Italien wurden beispielsweise schon im Mittelalter die ersten Universitäten gegründet«, berichtet Sebastian Klüsener vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung. »Das hatte auch Auswirkungen auf angrenzende Regionen und dürfte einer der Gründe dafür sein, dass es im süddeutschen Raum so viele alte Universitäten gibt.« Im Zweiten Weltkrieg hätten die Nazis zudem viele wichtige Industrien dorthin verlegt, weil dort aufgrund der Ferne zur Front die Gefahr einer Bombardierung geringer gewesen sei. »Dies waren wesentliche Faktoren dafür, dass es in diesen Gebieten nach Kriegsende zu einem Hightech-Boom kam«, sagt Klüsener. Der Norden Deutschlands habe sich damit viel schwerer getan.
Unumstritten ist allerdings, dass historische Entwicklungen ganze Landstriche nachhaltig prägen können – sogar über Jahrhunderte. »Ich will nicht ausschließen, dass das für die römische Siedlungsgeschichte auch der Fall ist«, sagt Klüsener. »Dass dieser Effekt heute noch eine wichtige Rolle spielt, davon bin ich aber noch nicht überzeugt. Dafür müssten Befunde vorgelegt werden, die andere mögliche Einflussfaktoren klar widerlegen.«
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