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Literatur: Der verborgene Spannungsbogen von Erzählungen

Eine Sprachanalyse offenbart die gemeinsamen Strukturen von abertausenden Werken: Ihr Grundgerüst lässt sich an der Häufigkeit von so genannten Funktionswörtern ablesen.
Die Stuttgarter Stadtbibliothek

Rund 40 000 Werke der englischsprachigen Belletristik haben Forscher analysiert und dabei Hinweise auf ein immer gleiches Grundgerüst entdeckt. Dazu müsse man auszählen, wie oft welche Funktionswörter auftreten. Funktionswörter sind Wörter, die keine eigene Bedeutung tragen, sondern ihren Sinn durch den Zusammenhang erhalten, oder die andere Wörter modifizieren, zum Beispiel »der«, »ein«, »weil«, »ihr«, »müssen«, »alle«.

Wie das Team um James Pennebaker von der University of Texas in Austin berichtet, treten im Verlauf einer Geschichte bestimmte Funktionswortgruppen mit über- oder unterdurchschnittlicher Häufigkeit auf. Dadurch charakterisieren sie bestimmte Abschnitte des Ablaufs. Erwartungsgemäß würden zu Beginn einer Erzählung die Artikel und Präpositionen dominieren, schreibt das Team im Fachmagazin »Science Advances«. Diese Funktionswörter seien vor allem am Anfang gefragt, weil hier der Verfasser oder die Verfasserin die Szene baut, vor der sich die Geschichte entwickeln wird.

Je weiter die Erzählung voranschreite, desto prominenter werde eine zweite Kategorie von Funktionswörtern, ergab die Auswertung: Pronomen, mit denen man auf Personen und Orte verweist, die dem Leser bekannt sind, sowie Hilfsverben und »andere häufige Funktionswörter« fallen in diese Kategorie. Sie kennzeichnen den Umstand, dass das Handeln der Akteure nun immer wichtiger wird. Bei Kurzgeschichten verzeichneten Pennebaker und sein Team im letzten Fünftel des Werks noch einmal einen markanten Anstieg, hier scheint demnach die Handlung besonders Fahrt aufzunehmen.

»Kognitive Spannung« markiert den Höhepunkt

Die dritte Kategorie steht nach Meinung der Wissenschaftler für die »kognitive Spannung« der Geschichte. Sie beinhaltet Funktionswörter, mit denen sich komplexe Bedeutungen strukturieren lassen: »aber«, »weil« und andere. Pennebaker und Kollegen beobachteten, dass die relative Häufigkeit dieser Funktionswortgruppe den typischen Spannungsbogen nachvollzog. Sie steigt im Verlauf der Erzählung immer weiter an, um schließlich nach dem zweiten Drittel – und dem Höhepunkt der Geschichte – wieder abzufallen.

Der Verlauf aller drei Kategorien würde sich mit dem klassischen Aufbau eines Dramas decken, wie es schon von Aristoteles und Friedrich Schiller beschrieben und später durch den Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Gustav Freytag im Jahr 1863 weiter ausgearbeitet wurde, schreiben die Forscher. Auf Exposition und erregendes Moment, die die Handlung vorbereiten und Spannung erzeugen, folgt in diesem klassischen Schema die eigentliche Handlung, die auf den Höhepunkt, Peripetie genannt, zusteuert und danach wieder abfällt, nur kurz unterbrochen vom so genannten retardierenden Element, das vorübergehend einen anderen Ausgang als den erwarteten in Aussicht stellt.

Dieses Grundschema bezieht sich eigentlich auf Dramen. Pennebaker und seine Kollegen analysierten jedoch eine große Vielzahl von literarischen Formaten, die im Schnitt alle diesem Handlungsbogen folgten. Zum Vergleich zogen sie auch Sachtexte, Gerichtsgutachten und Reden heran. Dabei fanden sie einen teils grundsätzlich anderen Aufbau. Zum Beispiel bei wissenschaftsjournalistischen Texten der »New York Times«: Dort steigt die Kategorie »kognitive Spannung« gegen Ende hin extrem an, während sie zuvor eher schwach ausgeprägt ist. Bei literarischen Werken fällt sie an diesem Punkt bereits ab.

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