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Locus caeruleus: Gangschaltung im Gehirn

Ein kleiner Neuronenverbund namens Locus caeruleus steuert den Arbeitsmodus unseres Gehirns und arbeitet dabei ähnlich wie ein Getriebe. Könnten wir dieses Hirnareal aktiv kontrollieren, ließen sich damit Lernen, Kreativität, Konzentration und Wachsamkeit verbessern.
Eine Hand hält den Schalthebel eines Autos, der die Gänge 1 bis 5 und den Rückwärtsgang anzeigt. Der Schalthebel befindet sich in einem Fahrzeugcockpit mit sichtbaren Bedienelementen im Hintergrund.
Der Locus caeruleus wechselt zwischen vier unterschiedlichen Arbeitsmodi hin und her und ähnelt damit dem Getriebe eines Autos.

Legen Sie einmal einen Finger an Ihren Hinterkopf, ungefähr auf Höhe des obersten Punkts der Ohren: Hier liegt tief unter Haar, Haut und Knochen verborgen in der Nähe eines flüssigkeitsgefüllten Hohlraums im Hirnstamm eine kleine Gruppe Nervenzellen mit der tiefblauen Farbe von Lapislazuli. Dabei handelt es sich um den Locus caeruleus (manchmal auch Locus coeruleus genannt) – lateinisch für »blauer Punkt«. Er misst nur wenige Millimeter im Durchmesser, hat aber trotz seiner geringen Größe einen erheblichen Einfluss auf unser geistiges Innenleben: Die Struktur spielt eine entscheidende Rolle beim Koordinieren von Denkprozessen. Manchmal wird der Locus caeruleus daher als »Hauptschalter« des Gehirns bezeichnet.

Am besten stellt man ihn sich vermutlich wie eine Gangschaltung beziehungsweise ein Getriebe bei einem Auto vor: »Er kann das Arbeitstempo des Gehirns an die spezifische geistige Arbeit anpassen, die man gerade erledigt«, sagt die Neurowissenschaftlerin und Fachautorin Mithu Storoni. Wenn der Locus caeruleus im richtigen Gang ist, fühlt sich die Beschäftigung mit der aktuellen Aufgabe angenehm an. Manchmal rutscht er jedoch in den falschen Gang. Das führt dazu, dass man entweder tagträumt und Arbeiten aufschiebt oder aber in Hektik und Frustration verfällt.

Bis vor Kurzem wusste man kaum etwas darüber, wie sich diese Gangschaltung kontrollieren lässt. Doch das ändert sich nun. Es hat sich nämlich gezeigt, dass wir den kleinen blauen Fleck im Gehirn offenbar trainieren können – mit unmittelbaren Folgen für unsere Wahrnehmung und unser psychisches Wohlbefinden. Das heißt: Mit den richtigen Techniken kann man den Gang wechseln und damit den eigenen mentalen Zustand beeinflussen – etwa die Konzentrationsfähigkeit verbessern, den Stresslevel senken oder die Kreativität und Auffassungsgabe steigern.

Bis der Locus caeruleus angemessen gewürdigt wurde, hat es fast zweieinhalb Jahrhunderte gedauert. Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Struktur, die nicht einmal 50 000 Neurone enthält, erstmals von dem französischen Arzt und Neuroanatomen Félix Vicq d'Azyr (1748–1794) identifiziert. Er hatte eine kleine, blau gefärbte Stelle im Hirnstamm bemerkt – das ist derjenige Teil des Zentralnervensystems, der das Großhirn mit dem Rückenmark verbindet. Für was genau dieser blaue Punkt zuständig ist, blieb jedoch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ein Rätsel. Daran änderte selbst eine wichtige Beobachtung japanischer Forscher in den 1940er Jahren nichts: Als sie bei Affen diese Struktur beschädigten, verloren die Tiere das Bewusstsein.

Locus caeruleus | Eine kleine Gruppe bläulich gefärbter Nervenzellen im Hirnstamm steuert die Arbeitsgeschwindigkeit unseres Gehirns.

Erst nachfolgende Experimente offenbarten, dass die Funktion des Locus caeruleus mit seinem Erscheinungsbild zusammenhängt. Die Region produziert große Mengen eines Neurotransmitters namens Noradrenalin, der in den Nervenzellen gespeichert wird und ihnen dadurch eine dunkle Färbung verleiht. Sobald eine Zelle im Locus caeruleus aktiv wird, schickt sie den Botenstoff über verbindende Nervenfasern zu anderen Neuronen. Bei Letzteren steigert das Noradrenalin dann die elektrische Aktivität, mit der sie auf Signale von anderen Zellen reagieren. »Es erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass eine Zelle beim nächsten Input einen ›Spike‹ erzeugt, und es macht jeden dieser Spikes stärker und wirkungsvoller«, erklärt James M. Shine von der University of Sydney in Australien. Mit anderen Worten: Zellen werden reaktionsfreudiger, was zu einer verbesserten Kommunikation zwischen Hirnregionen führt. »Das erleichtert die Nachrichtenübermittlung erheblich«, sagt Shine.

Noradrenalin | Der Neurotransmitter wird in größeren Mengen im Locus caeruleus produziert und verbessert die Kommunikation zwischen Nervenzellen.

Und es wirkt sich direkt auf unsere Wachsamkeit aus – beziehungsweise auf unsere neuronale Erregung, fachlich »Arousal« genannt. Damit ist das allgemeine Ausmaß an Aktivität im zentralen Nervensystem gemeint. »Noradrenalin ist einer der wichtigsten Faktoren für das Arousal«, weiß Storoni. Nichtsdestoweniger wurde die wahre Bedeutung des Locus caeruleus lange Zeit verkannt. Man ging davon aus, dass es sich um einen Schalter handele, der aktiviert wird, wenn wir gestresst oder verängstigt sind, und dann eine Kampf-oder-Flucht-Reaktion auslöst. Sonst bewirke er jedoch wenig, so die Ansicht. Sie entstand unter anderem deshalb, weil es Experimentatoren schwerfiel, die subtilen Aktivitätsschwankungen des Locus caeruleus zu messen. Mittlerweile haben wir aber die nötigen Techniken, um auch solche feinen Nuancen zu erfassen.

Dank hoch entwickelter bildgebender Verfahren lässt sich der Locus caeruleus heutzutage sogar live beobachten. Das war auf Grund seiner Größe und Lage lange Zeit unmöglich. Häufiger wird jedoch die Aktivität indirekt bestimmt. So gibt es einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Verhalten der Pupillen: Je aktiver der blaue Punkt wird, desto weiter dehnen sich diese aus. Daher lässt er sich bei der Arbeit beobachten, wenn man die Größenveränderung der Pupillen bei konstanter Lichtstärke verfolgt. Mikroskopische Untersuchungen haben außerdem gezeigt, dass der Locus caeruleus keine völlig einheitliche Struktur ist, wie man früher dachte. »Es gibt einige anatomische Besonderheiten«, erläutert die Neurobiologin Susan Sara vom Collège de France in Paris. Das könnte vielleicht erklären, wie er verschiedene Aktivitätsmuster des Gehirns koordiniert.

»Er kann das Arbeitstempo des Gehirns an die spezifische geistige Arbeit anpassen, die man gerade erledigt«Mithu Storoni, Neurowissenschaftlerin

Im Zuge der wachsenden Erkenntnisse über den Locus caeruleus rückt dieser mehr und mehr in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses. Besonders fasziniert sind Fachleute von der Entdeckung, dass das Areal vier verschiedene Aktivitätsmodi aufweist, die jeweils unterschiedliche Auswirkungen auf unser Denken und Verhalten haben. Das brachte auch Mithu Storoni darauf, den Locus caeruleus wie eingangs beschrieben als Getriebe oder Gangschaltung des Gehirns zu bezeichnen.

Pupille | Je aktiver der Locus caeruleus ist, desto größer wird bei gleichen Lichtverhältnissen der Pupillendurchmesser.

Gemäß dieser Metapher befindet sich während des Schlafs der Locus caeruleus in einer Art nulltem Gang. Man könnte den Zustand auch als »ausgekuppelt« oder ähnlich der Neutralstellung bei einem Automatikgetriebe bezeichnen. Die Region bleibt dann fast völlig stumm, abgesehen von kurzen Aktivitätsschüben, die offenbar helfen, langfristige Erinnerungen zu bilden. Diesen Mechanismus hat Sara zufällig entdeckt, als sie mit Oxana Eschenko am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen zusammenarbeitete. Die beiden trainierten zunächst Ratten darin, ein Labyrinth zu bezwingen. Dann zeichneten sie die Hirnaktivität der Nager im Schlaf auf und stellten fest, dass der Locus caeruleus etwa zwei Stunden nach Beendung der Aufgabe sporadisch aktiv wurde. »Diese Aktivierung scheint direkt mit der Gedächtnisleistung am folgenden Tag zusammenzuhängen«, sagt Sara. »Und wenn man die Aktivierung blockiert, sieht man ein Gedächtnisdefizit.«

Von abschweifenden Gedanken hin zur Konzentration

Sobald wir aufwachen, schaltet der Locus caeruleus gewissermaßen in den ersten Gang: eine schwache Grundaktivität. Das Noradrenalin bringt so das Gehirn in einen bewussten, aber wenig erregten Zustand. Entsprechend sind wir noch nicht ganz klar fokussiert und schweifen möglicherweise gedanklich leicht ab.

Mit ansteigenden Noradrenalinwerten verbessert sich die Kommunikation zwischen den verschiedenen Hirnregionen zunehmend. Bei den Neuronen im präfrontalen Kortex, der mit Selbstkontrolle und abstraktem Denken in Verbindung gebracht wird, merkt man das zuerst, weil sie besonders empfindlich auf niedrige Konzentrationen des Transmitters reagieren. Zudem geht die moderate Grundaktivität des Locus caeruleus nun mit kurzzeitigen massiven Freisetzungsspitzen von Noradrenalin als Antwort auf relevante Reize einher. Diese Kombination ist charakteristisch für den zweiten Gang. Er ermöglicht es dem Gehirn, neue Informationen effizienter zu verarbeiten.

»Das organisiert das Vorderhirn genau in dem Moment neu, in dem man seine Aufmerksamkeit verlagern und sein Verhalten anpassen muss«Susan Sara, Neurobiologin

Wenn die Ausbrüche groß genug sind, können sie sogar zu einer Art Neustart des neuronalen Netzwerks führen: einer Verlagerung der Aufmerksamkeit zu neuen, wichtigen Informationen. Für flexibles Denken ist eine solche Umorientierung unerlässlich. »Das organisiert das Vorderhirn genau in dem Moment neu, in dem man seine Aufmerksamkeit verlagern und sein Verhalten anpassen muss«, sagt Sara.

Probleme können entstehen, wenn die Grundaktivität eine gewisse Grenze überschreitet und daraufhin der dritte Gang eingelegt wird. Hier können größere Noradrenalinmengen aus dem Locus caeruleus Bereiche des Gehirns aktivieren, die mit der Emotionsverarbeitung verknüpft sind. Die zugehörigen Zellen tragen meist Rezeptoren, die erst reagieren, wenn die Konzentration des Neurotransmitters einen höheren Wert erreicht. Dies kann zu einer Kampf-oder-Flucht-Reaktion führen, die durchaus nützlich ist, wenn wir in Gefahr sind und in höchste Alarmbereitschaft versetzt werden müssen. Jedoch können auch viele Situationen, die keine unmittelbare Bedrohung darstellen, den Locus caeruleus auf Hochtouren bringen, zum Beispiel berufsbedingter Stress. Wir fühlen uns dann bisweilen überfordert und geraten in Hektik, obwohl wir uns eigentlich besser konzentrieren müssten.

Bei Menschen mit Angststörungen oder Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) kann der Locus caeruleus besonders leicht in den hohen Erregungsmodus des dritten Gangs einrasten. »Wir wissen, dass Patienten mit PTBS sowohl im Wachzustand als auch im Schlaf vermehrt Noradrenalin ausschütten«, berichtet Sara.

ADHS und Getriebeprobleme

Bemerkenswerterweise könnte das Bild des Getriebes sogar gewisse Symptome bei ADHS erklären. Das Problem scheint hier zu sein, dass zu schnell zwischen den Gängen gewechselt wird. Dadurch wird es schwierig, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren. Manche ADHS-Medikamente wirken möglicherweise deshalb, weil sie dieses Ungleichgewicht beheben. Man weiß zum Beispiel, dass Methylphenidat den Spiegel von Dopamin erhöht: einem Neurotransmitter, der im Belohnungssystem des Gehirns eine wichtige Rolle spielt. Das könnte das Belohnungsgefühl beim Bearbeiten bestimmter Aufgaben erhöhen und damit die Aufmerksamkeit steigern, die man ihnen schenkt.

Daneben hält Methylphenidat auch den Noradrenalinpegel im Gehirn konstanter, was die Aktivität des Locus caeruleus über eine Rückkopplungsschleife dämpfen könnte. »Die Struktur reagiert äußerst empfindlich auf die Menge an freiem Noradrenalin und senkt wie ein Thermostat ihre Feuerrate, wenn die lokale Konzentration an Noradrenalin zu hoch wird«, berichtet Shine. Laut einer Studie von 2017 zeigen Menschen mit ADHS, die Methylphenidat einnehmen, ähnliche Muster der Pupillenerweiterung wie Personen ohne ADHS – und damit auch ein vergleichbares Verhalten des Locus caeruleus. Angesichts solcher Erkenntnisse betrachten viele Neurowissenschaftler eine moderate Aktivität des Locus caeruleus – also den zweiten Gang – als Schlüssel zu einer optimalen kognitiven Leistung; quasi den idealen Punkt zwischen verträumt und hektisch. »Dann arbeitet der präfrontale Kortex optimal«, erläutert Storoni.

»Sobald man anfängt, sich zu viele Sorgen zu machen, schaltet man in den dritten Gang«Mithu Storoni, Neurowissenschaftlerin

Weitere Belege stützen diese Ansicht. So testeten Wissenschaftler der Universität Leiden in den Niederlanden 2016 die Aufmerksamkeit mit einer Reihe sich schnell verändernder Bilder, die entweder Städte oder Berge zeigten. Im ersten Fall mussten die Versuchspersonen eine Taste drücken, im zweiten sie wieder loslassen. Während sie die Aufgabe ausführten, maß ein Trackinggerät ihre Pupillenerweiterung. Tatsächlich war die Leistung dann am besten, wenn die Pupillen jene moderate Locus-caeruleus-Aktivität anzeigten, die für den zweiten Gang charakteristisch ist.

Wenn man in den zweiten Gang wechselt, entsteht offenbar auch eher die so genannte konvergente Kreativität, die oft zu einem Geistesblitz oder einem Aha-Effekt führt. Laut früheren Untersuchungen sorgt ein knapp bemessenes Zeitlimit dafür, dass einfachere Probleme schneller gelöst werden. Bei schwierigeren Aufgaben bewirkt es jedoch genau das Gegenteil. Der Grund dafür war lange unklar. David Beversdorf von der University of Missouri in den USA hat viele Studien zur konvergenten Kreativität analysiert. Er vermutet, dass die Ursache im Locus caeruleus liegt. Ihm zufolge könnte bei den einfacheren Problemen der zusätzliche Anforderungsdruck die Aktivität des blauen Punkts sanft von einem niedrigen Ausgangswert auf einen optimalen anheben. Mit zunehmender Schwierigkeit der Aufgabe bringt jedoch die Angst, die Frist nicht einhalten zu können, den Locus caeruleus auf Hochtouren, was das Denken vernebelt. »Sobald man anfängt, sich zu viele Sorgen zu machen, schaltet man in den dritten Gang«, sagt Storoni.

Begehrter Flow-Zustand

Untersuchungsergebnisse aus dem Jahr 2021 legen sogar nahe, dass der zweite Gang den berühmten Flow-Zustand fördert – jenes Gefühl, so sehr in eine Aufgabe vertieft zu sein, dass man gar nicht merkt, wie die Zeit verrinnt. »Menschen empfinden Flow als beglückend«, erklärt Dimitri van der Linden von der Erasmus-Universität Rotterdam in den Niederlanden. »Sie können dann stundenlang derselben Tätigkeit nachgehen.« Um herauszufinden, ob das vom Locus caeruleus abhängt, präsentierten er und seine Kollegen Studienteilnehmern ein kniffliges Computerspiel. Dabei galt es, sich eine Reihe von außerirdischen Kreaturen zu merken, die immer wieder auf dem Bildschirm auftauchten. Währenddessen zeichnete das Team die Hirnaktivität und die Schwankungen des Pupillendurchmessers der Spielerinnen und Spieler auf. Tatsächlich korrelierten ihre Flow-Erlebnisse mit der Aktivität des Locus caeruleus. Sie stimmten der Aussage »Ich ging völlig darin auf« eher zu, wenn dieser laut den Messungen in den zweiten Gang geschaltet hatte.

»Ich betrachte das als eine Möglichkeit, das Erregungssystem zu trainieren, damit man es im Alltag viel bewusster kontrollieren kann«James M. Shine, Systemneurobiologe

Der Flow-Zustand tritt auf, wenn man sich einer Tätigkeit widmet, die gerade das richtige Maß an Schwierigkeit aufweist. Das passende Anspruchsniveau zu wählen, kann also helfen, die »neuronalen Gänge« zu wechseln und den Locus caeruleus optimal zu nutzen. Shine weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Praktiken wie Meditation nachgewiesenermaßen die allgemeine Konzentration und die Emotionsregulation verbessern können. »Ich betrachte das als eine Möglichkeit, das Erregungssystem zu trainieren – zu dem der Locus caeruleus gehört –, damit man es im Alltag viel bewusster kontrollieren kann«, sagt er.

Eine weitere Strategie besteht darin, die Verbindung zwischen Körper und Geist gezielt zu nutzen. Storoni zufolge ist der Locus caeruleus direkt verknüpft mit dem autonomen Nervensystem, das etwa unsere Herzfrequenz und Atmung reguliert. Das bedeutet, dass körperliche Aktivität beeinflusst, welcher Gang eingelegt wird. So kann uns beispielsweise leichtes Training – etwa ein zügiger Spaziergang – am frühen Morgen vom ersten in den zweiten Gang bringen. Und Yoga oder kontrolliertes Atmen könnten wiederum dabei helfen, aus dem dritten Gang herunterzuschalten.

Den Tagesrhythmus nutzen

Zudem schlägt Storoni vor, mehr auf unsere innere Uhr zu hören, also auf die zirkadianen Rhythmen des Körpers. Entsprechend sollten wir unsere Aktivitäten so planen, dass sie zu den natürlichen Schwankungen unseres neuronalen Erregungszustands passen. Aufgaben, die Kreativität erfordern, eignen sich wohl am besten für den Beginn des Tags, wenn wir in den zweiten Gang übergehen und dadurch assoziatives und analytisches Denken besser kombinieren können. Konzentriertere Arbeit, bei der wir Informationen intensiv verarbeiten, sollte besser für den späteren Vormittag eingeplant werden, wenn wir stabil im zweiten Gang agieren. Oder aber für etwa 15 bis 16 Uhr, wenn die meisten Menschen nach einem mittäglichen Erregungsabfall wieder ihre höchste Konzentration erreichen.

Wir sollten darüber hinaus die Art und Weise überdenken, wie wir unsere Arbeit organisieren. Monotone oder langweilige Aufgaben können uns beispielsweise in den ersten Gang versetzen. Wir verlieren dann den Fokus und fangen an zu träumen. Hier würde es helfen, die geistige Anforderung zu erhöhen. »Vielleicht durch eine parallele Tätigkeit, eine Art Multitasking«, schlägt Storoni vor. Musik hören wäre so eine Möglichkeit, aber manchmal braucht man etwas, das mehr Konzentration erfordert, zum Beispiel ein Hörbuch. Bei intensiver Arbeit stehen wir vor dem entgegengesetzten Problem: Das Gehirn kann nur eine begrenzte Zeit im zweiten Gang tätig sein, bevor es anfängt zu ermüden. Deshalb sollten wir regelmäßig Pausen einlegen.

Künftig könnten uns sogar neu entwickelte technische Tricks dabei helfen, den Locus caeruleus zu trainieren. So erhielten bei einer Studie von 2023 die Teilnehmer in Echtzeit Rückmeldung zu ihrer Pupillenerweiterung in Form eines Kreises auf einem Computerbildschirm. Zum Regulieren ihres Arousals sollten sie an Szenen denken, die ihre geistige Wachsamkeit steigern oder senken könnten. Ein Proband stellte sich beispielsweise vor, von einer Klippe ins Meer zu springen, um seine Erregung zu erhöhen. Für den gegenteiligen Effekt malte er sich hingegen aus, friedlich in der Luft zu schweben. Das Training funktionierte: Nach drei Sitzungen konnten die Freiwilligen ihren Locus caeruleus besser kontrollieren. Dies ließ sich durch funktionelle MRT-Scans bestätigen, mit denen die Aktivität der Hirnregion direkt ermittelt wurde.

Bis derartige Geräte allerdings marktreif sind, dürfte es noch eine Weile dauern. Doch schon allein die Tatsache, dass man die Funktionsweise des Gehirns besser versteht, bedeutet einen wichtigen Fortschritt. Wer erkennt, wann das eigene Gehirn unter- oder überreizt ist, kann sein Verhalten entsprechend anpassen.

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