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ME/CFS: Eine Stellungnahme ohne Quellen

Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie hat eine neue Kontroverse über ME/CFS ausgelöst. Das liegt auch an einer bemerkenswerten Lücke: Die Organisation blieb sämtliche Quellenangaben für ihre Bewertungen schuldig.
Eine Person liegt in einem Bett, umgeben von dunkler Umgebung. Das Licht fällt sanft auf das Gesicht und die Bettdecke, was eine ruhige und entspannte Atmosphäre schafft. Die Person hat einen Arm über den Kopf gelegt und scheint zu schlafen oder zu ruhen.
Die Symptome von ME/CFS reichen von Gleichgewichtsstörungen und Konzentrationsmangel bis hin zu chronischen Schmerzen und schwersten Erschöpfungszuständen. Viele Betroffene sind pflegebedürftig oder bettlägerig.

Von »Hetze« und einer »Kriegserklärung« an Betroffene war in den sozialen Medien die Rede – spätestens damit war der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) eine breite Aufmerksamkeit sicher. Mit ihrer knappen Stellungnahme »Zum aktuellen Forschungsstand bei ME/CFS« hat sie im Juli eine heftige Kontroverse ausgelöst. Gewissermaßen ist es eine Kontroverse von gestern. ME/CFS – kurz für Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom – ist heute zwar am ehesten als schwerste Ausprägung des Post-Covid-Syndroms bekannt. Doch bereits seit Ende der 1960er Jahre ist die oft postinfektiös auftretende Erkrankung als neurologische Diagnose klassifiziert. In einer konservativen Schätzung ging das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) von präpandemisch bis zu 310 000 Betroffenen in Deutschland aus. Diese leiden an Gleichgewichtsstörungen und Konzentrationsmangel, chronischen Schmerzen und schwersten Erschöpfungszuständen. Viele sind pflegebedürftig oder bettlägerig.

Eine Milliarde für die Forschung?

Vor allem, weil ME/CFS Frauen deutlich häufiger ereilt als Männer, hatten britische Psychiater sie vor 50 Jahren als Form der Hysterie eingestuft. In der Folge fühlten sich Betroffene mit ihren organischen Beschwerden nicht ernst genommen – und schlimmer: fehlbehandelt. Denn während bei vielen, gerade psychisch bedingten Erschöpfungszuständen eine aktivierende Bewegungstherapie zielführend ist, kann diese den Zustand von ME/CFS-Betroffenen sogar massiv verschlechtern. Eine heilende Therapie fehlt bisher.

Nun argumentiert die DGN in ihrem nur wenige Absätze langen Text: »Angesichts der bisherigen Erkenntnisse ist derzeit nicht davon auszugehen, dass immunologische Faktoren eine entscheidende Rolle bei ME/CFS spielen.« Künftige Forschung solle daher »nicht vorwiegend« auf diese Ansätze gerichtet sein, sondern auch Verfahren aus dem »Bereich psychischer und psychosomatischer Erkrankungen« einbeziehen. Die Stellungnahme fällt in eine politisch bewegte Zeit. Der Fall einer 31-jährigen Deutschen, die den Ausweg aus ihrem ME/CFS-Leiden in der Sterbehilfe sah, hat viele Emotionen ausgelöst. Die neuen Bundesministerinnen für Gesundheit und Forschung, Nina Warken (CDU) und Dorothee Bär (CSU), sagten früh in ihrer Amtszeit Hilfen für ME/CFS-Betroffene zu, ohne bisher konkrete Pläne vorzulegen. Warkens Vorgänger Karl Lauterbach (SPD) verlangte zuletzt angesichts des Leids in einem »Spiegel«-Interview gleich eine Milliarde Euro an Mitteln für die Therapieforschung.

»Hinter dem Forschungsstand zurück«

Patientenverbände fordern seit Langem eine stärkere biomedizinische Forschung – anders als die DGN. Die Selbsthilfeorganisation Fatigatio rückte die Fachgesellschaft aufgrund ihrer Stellungnahme in die Nähe von Leugnern des Klimawandels. Carmen Scheibenbogen, Immunologin an der Charité und führende deutsche ME/CFS-Forscherin, warf der DGN vor, »unwirksame und schädigende Therapien« zu legitimieren.

Scheibenbogen war auch an einem Kommentar der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS, einer Organisation von Ärzten und Betroffenen, beteiligt. Darin heißt es, die DGN-Stellungnahme bleibe »in mehrfacher Hinsicht hinter dem internationalen Forschungsstand zurück« und berge die Gefahr, die Versorgungslage »erneut in eine überholte und für ME/CFS-Erkrankte schädliche Richtung zu lenken«. Dagegen sah sich Christoph Kleinschnitz, Leiter der Neurologie am Essener Universitätsklinikum, in seiner seit Jahren recht laut vorgetragenen Sicht bestätigt, dass ME/CFS »keine somatische Erkrankung« sei. Dies freilich stand gar nicht in der Stellungnahme, zumindest nicht explizit.

Zahlreiche organische Befunde

Tatsächlich haben Forschende die Indizien für organische Mechanismen zuletzt deutlich gemehrt, auch wenn diese bisher weder gänzlich verstanden noch abschließend belegt sind. So gelang es zwei Teams aus den Niederlanden und den USA, bei unabhängig voneinander durchgeführten Versuchen in Mäusen postinfektiöse Symptome auszulösen, indem sie ihnen die Autoantikörper betroffener Patienten injizierten. Für die Versuche wurden Autoantikörper von Post-Covid-Erkrankten genutzt, wobei viele Schnittmengen mit ME/CFS bestehen.

Die Ergebnisse lassen sich als Unterstützung der Hypothese interpretieren, dass derart fehlgesteuerte Antikörper, die sich gegen das körpereigene Gewebe richten, bei der Erkrankung eine Rolle spielen. Ein spanischer – ebenfalls mit Post-Covid-Erkrankten durchgeführter – Versuch mit einer Plasmapherese-Therapie scheiterte allerdings. Bei dem Verfahren wird das gesamte Blutplasma ausgetauscht, somit auch die Autoantikörper. Das Ergebnis der Studie zeigt, wie viele Fragen noch offen sind.

Andere Fachleute machten per Doppler-Ultraschall einen reduzierten zerebralen Blutfluss bei fast allen untersuchten ME/CFS-Patientinnen und Patienten sichtbar. Forschende zeigen mittels Biopsien Schäden an kleinen Nervenfasern, sie fanden Hinweise auf eine autonome Dysfunktion bei den Betroffenen, maßen eine geringere Herzleistung und eine Unterversorgung der Muskulatur mit Sauerstoff. Befunde wie eine geringere Dichte der feinsten Blutgefäße (Kapillaren) und eine Schwächung der Mitochondrien, der Kraftwerke der Zellen, lieferten bei ME/CFS zudem Hinweise auf strukturelle Veränderungen am Skelettmuskel, die sich von einer »Dekonditionierung« infolge von Inaktivität deutlich unterschieden.

Wichtige Begriffe rund um ME/CFS

Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS): Meist durch eine Virusinfektion wie Covid-19 ausgelöste, schwere Multisystemerkrankung mit vielfältigen Symptomen. Typisch ist die postexertionelle Malaise (PEM), eine zeitlich verzögerte Verschlechterung der Symptome nach körperlicher oder geistiger Anstrengung, die in der Regel Tage bis Wochen anhält.

Long Covid: Der Begriff bezeichnet gesundheitliche Beschwerden, die über die akute Krankheitsphase hinaus andauern – also länger als vier Wochen nach der Sars-CoV-2-Infektion.

Post Covid: Nach Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) handelt es sich um gesundheitliche Beschwerden, die mindestens zwölf Wochen nach einer Sars-CoV-2-Infektion fortbestehen oder erneut auftreten und nicht anderweitig erklärbar sind.

Fatigue: Darunter versteht man eine massive psychische und physische Kraft- und Energielosigkeit. Die Betroffenen sind nicht mehr in der Lage, verschiedenen Aktivitäten des täglichen Lebens nachzugehen. Fatigue tritt auch bei anderen chronischen Erkrankungen auf, etwa bei multipler Sklerose oder Krebs. Anders als bei diesen Erkrankungen verbessert sich das Symptom bei ME/CFS nicht durch Sport oder Schlaf.

Keine Fassung mit Quellen

Es wäre interessant gewesen, wie die DGN zu derartigen Erkenntnissen steht und warum sie diese offenbar nicht für relevant erachtet. In ihrer Stellungnahme verweist sie lediglich auf Unklarheiten und fehlende eindeutige diagnostische Marker, was allerdings auch bei anderen, anerkannten neurologischen Erkrankungen keine Seltenheit ist. Bemerkenswert ist, dass die Stellungnahme zwar den Anspruch erhebt, den »aktuellen Forschungsstand« zu ME/CFS zu bewerten, dabei jedoch ohne eine einzige Referenz oder Literaturangabe auskommt. Gefragt, ob auch eine Fassung mit Quellen existiere, hieß es bei der DGN: Es gebe keine.

Dass der Positionierung eine Schlagseite nicht abzusprechen ist, liegt auch an der neu gestarteten Debatte über den Namen der Erkrankung. Richtigerweise bemängelte die DGN, dass der Bestandteil »ME« nicht zutreffe. »Aus neurologischer Sicht ist es problematisch, dass mit dem Begriff der ›Enzephalomyelitis‹ eine Entzündung des Gehirns und Rückenmarks postuliert wird, die in aller Regel bei ›ME/CFS‹ nicht nachweisbar ist«, heißt es in der Stellungnahme. Inhaltlich ist dies wohl unstrittig – was Betroffenen jedoch aufstieß: Der zweite Teil des Namens – das Chronische Fatigue Syndrom, CFS – ist ebenso unpassend, woran sich die neurologische Fachgesellschaft jedoch nicht störte. Dabei stellt gerade die Reduktion auf ein einzelnes Symptom, die Fatigue, jene Bagatellisierung dar, gegen die Patientinnen und Patienten seit Jahrzehnten ankämpfen.

Der Name eines Autors verschwand nach Minuten

Beschlossen hatte die Position der Vorstand der Fachgesellschaft, maßgeblich vorangetrieben von DGN-Generalsekretär Peter Berlit. Für wenige Minuten stand auch Georg Schomerus als Autor darunter – sein Name wurde jedoch schnell wieder entfernt. Der Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Leipzig warnt regelmäßig vor einer Stigmatisierung von ME/CFS-Betroffenen, so auch im RiffReporter-Interview. In seinen Vorträgen führt er Zitate von Christoph Kleinschnitz als Negativbeispiele für eine schädliche Psychologisierung an.

Schomerus erklärte, dass er zwar eine frühere Fassung der Stellungnahme kommentiert hatte. Die finale Fassung sei jedoch »weit von dem entfernt, was ich für vertretbar halte«, weshalb er als Autor nicht genannt sein wollte. Auf seine Intervention hin verschwand der Name von der Website der DGN.

Fachkommission hat Statement »abgeschwächt«

Innerhalb der Fachgesellschaft war bisher die Kommission Neuroimmunologie beim Thema ME/CFS federführend. Deren Sprecher, der Neurologe Harald Prüß, führt derzeit an der Charité einen kontrollierten klinischen Versuch zur Immunadsorption durch, die potenziell schädliche Autoantikörper aus dem Blut von Post-Covid- und ME/CFS-Patienten filtert – ein Verfahren also, das an mögliche neuroimmunologische Krankheitsmechanismen anknüpft. »Die Kommission hat ein früheres, deutlich pointierteres Statement abgeschwächt«, teilte Prüß auf Anfrage mit. Mit der veröffentlichten Version sei man aber »einstimmig einverstanden«.

Anders als Kleinschnitz spricht Prüß nicht von psychischen Ursachen, sondern von einer »hohen psychiatrischen Komorbidität« bei ME/CFS. Dass diese erstmals so deutlich adressiert werde, wecke die »Hoffnung, dass sich dadurch die Vorbehalte gegenüber psychiatrischen Symptomen reduzieren lassen und den Betroffenen zumindest auf diesem Wege schon Hilfe zukommen kann«.

Dass eine begleitende psychische Unterstützung für viele Erkrankte eine wichtige Hilfe sein kann, ist unter Fachleuten unstrittig. Die Reaktionen von Patientenverbänden lassen jedoch bereits erahnen, dass eine größere Offenheit dafür ein frommer Wunsch sein könnte. Zu sehr wird die Stellungnahme als Absage an organische Ursachen von ME/CFS gelesen.

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  • Quellen

Azcue, N. et al. European Journal of Neurology 10.1111/ene.70016, 2025

España-Cueto, S. et al. Nature Communications 10.1038/s41467–025–57198–7, 2025

Keller, B. et al. Journal of Translational Medicine 10.1186/s12967–024–05410–5, 2024

Van Campen, C.L. et al. Clinical Neurophysiology Practice 10.1016/j.cnp.2020.01.003, 2020

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