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Long Covid: Das Schlupfloch des Virus

Manche Menschen entwickeln nach einer Coronainfektion Langzeitbeschwerden. Womöglich könnten Virusreserevoirs im Körper dazu beitragen – unter anderem im Darm und im Gehirn.
Die 3-D-Illustration zeigt das Coronavirus Sars-CoV-2.

Viele Menschen, die sich mit Sars-CoV-2 infizieren, klagen neben typischen Erkältungssymptomen auch über Erbrechen und Durchfall. Der Onkologin und Genetikerin Ami Bhatt fiel das bereits in den ersten, chaotischen Tagen der Pandemie auf. »Damals dachte man, es handele sich ausschließlich um ein Virus der Atemwege«, sagt sie. Bhatt und ihre Kollegen an der Stanford University in Kalifornien beschlossen deshalb, die Ursache der gastrointestinalen Symptome zu erforschen, und begannen, Stuhlproben von Menschen mit Covid-19 zu sammeln.

Die Forscherinnen und Forscher waren damals nicht die Einzigen, die sich wunderten. Auch den Internisten Timon Adolph, der tausende Kilometer von Bhatts Labor entfernt an der Medizinischen Universität Innsbruck in Österreich arbeitet, überraschten die Magen-Darm-Symptome vieler Patientinnen und Patienten. Gemeinsam mit seinem Team sammelte er deshalb ebenfalls Proben – Biopsien von Magen-Darm-Gewebe.

Zwei Jahre später hat sich die Weitsicht der Forschenden ausgezahlt: Beide Gruppen veröffentlichten kürzlich Studienergebnisse, die darauf hindeuten, dass Teile von Sars-CoV-2 mitunter noch Monate nach einer Erstinfektion im Darm verbleiben. Die Daten passen gut zu einer Reihe von Arbeiten, denen zufolge hartnäckige Virusreste – »Coronavirus-Geister«, wie Bhatt sie nennt – zur Entstehung von Long Covid beitragen könnten. Einen direkten Zusammenhang zwischen den persistierenden Virusfragmenten und Long Covid konnten die Teams allerdings noch nicht belegen. Weitere Studien seien deshalb nötig, erklärt Bhatt: »Und die sind nicht einfach.«

Rätselhafte Langzeitbeschwerden

Mit dem Begriff Long Covid bezeichnen Mediziner meist Symptome, die länger als zwölf Wochen nach einer akuten Infektion anhalten. Mehr als 200 Beschwerdebilder unterschiedlicher Schwere wurden bereits mit Long Covid in Verbindung gebracht. Über die Ursache rätseln Forscherinnen und Forscher noch immer. Verschiedene Theorien bringen das Phänomen mit schädlichen Immunreaktionen, winzigen Blutgerinnseln und verbleibenden Virusreservoirs im Körper in Verbindung. Viele Forschende gehen davon aus, dass eine Mischung aus diesen Faktoren für die Langzeitfolgen verantwortlich ist.

Einen ersten Hinweis darauf, dass das Coronavirus auch nach überstandener Erkrankung noch im Körper verbleiben könnte, lieferte eine 2021 veröffentlichte Arbeit des Gastroenterologen Saurabh Mehdrus von der Icahn School of Medicine am Mount Sinai in New York City. Zu diesem Zeitpunkt war bereits klar: Genau jenes Protein, das das Virus verwendet, um in die Zellen einzudringen, ist auch in den Zellen des Darms vorhanden. Deshalb kann Sars-CoV-2 auch den Darm infizieren.

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Mehandru und sein Team stießen auf virale Nukleinsäuren und Proteine in Magen-Darm-Gewebe von Menschen, bei denen Covid-19 durchschnittlich vier Monate zuvor diagnostiziert worden war. Die Forschenden untersuchten zudem die Gedächtniszellen der Versuchspersonen, die eine Schlüsselrolle im Immunsystem spielen. Wie das Team entdeckte, entwickelten sich die von diesen B-Zellen produzierten Antikörper weiter, was darauf hindeutet, dass die Zellen auch sechs Monate nach der Erstinfektion noch auf Moleküle von Sars-CoV-2 reagierten.

Angeregt durch diese Arbeit fanden Bhatt und ihre Kollegen heraus, dass einige Menschen auch sieben Monate nach einer ersten leichten oder mittelschweren Sars-CoV-2-Infektion noch virale RNA in ihrem Stuhl ausscheiden, lange nachdem ihre Atemwegssymptome abgeklungen waren.

Virusreservoirs in Darm, Herz und Gehirn

Die Studie von 2021 inspirierte Adolph und sein Team dazu, ihre Biopsieproben ebenfalls auf Hinweise von Coronaviren zu untersuchen. Sie fanden heraus, dass 32 von 46 Studienteilnehmern, die an einer leichten Covid-19-Infektion erkrankt waren, sieben Monate nach der akuten Infektion noch Anzeichen für virale Moleküle im Darm aufwiesen. Etwa zwei Drittel dieser 32 Personen klagten über lang anhaltende Covid-Symptome. Alle Versuchspersonen hatten jedoch eine chronisch-entzündliche Darmerkrankung, die in der Regel dadurch entsteht, dass das Immunsystem gesundes Körpergewebe angreift. Zudem konnten die Forschenden nicht belegen, dass die Viren bei den Betroffenen noch in irgendeiner Form aktiv waren.

Wie weitere Studien zeigen, gibt es auch außerhalb des Darms Virenreservoirs. Ein anderes Forschungsteam untersuchte Gewebe aus Autopsien von 44 Personen, bei denen Covid-19 diagnostiziert worden war, und fand Spuren viraler RNA an vielen Stellen, darunter im Herzen, in den Augen und im Gehirn. Virale RNA und Proteine konnten noch bis zu 230 Tage nach der Infektion nachgewiesen werden. Die Ergebnisse der Studie sind allerdings noch nicht von Fachkollegen überprüft worden.

Der Pathologe Joe Yeong vom Institut für Molekular- und Zellbiologie der Agentur für Wissenschaft, Technologie und Forschung in Singapur, vermutet, dass das Virus in bestimmte Immunzellen eindringen und sich dort verbergen könnte: den Makrophagen, die in einer Vielzahl von Körpergeweben zu finden sind.

Bisher nur anekdotische Evidenz

Einen kausalen Zusammenhang zwischen den Virusreservoirs und möglichen Long-Covid-Symptomen konnte bislang noch keine Studie belegen. »Im Moment gibt es nur anekdotische Evidenz, aber noch viele Unbekannte«, sagt Mehdrau.

Bhatt hofft, bald mehr Proben zu erhalten, um die Virusreservoir-Hypothese zu testen. Das US-amerikanische National Institute of Health führt beispielsweise gerade eine große Studie namens RECOVER durch, die sich mit den Ursachen von Long Covid befasst und bei der Biopsien aus dem unteren Darmbereich einiger Teilnehmer entnommen werden sollen. Sheng hat derweil unverhofft Hilfe von einer Organisation bekommen, die Menschen mit Long Covid vertritt. Sie hat angeboten, ihm Proben von Mitgliedern zu schicken, bei denen nach einer Infektion aus verschiedenen Gründen, beispielsweise auf Grund einer Krebsdiagnose, Biopsien durchgeführt wurden. Auf diese Weise muss er nicht auf die Ergebnisse der milliardenschweren RECOVER-Studie warten.

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