Long Covid im Jugendalter: Die Kindheit muss warten

»Heute ist schon anstrengend, nur da zu sein, Mama«, flüstert Michael. Es ist ein Satz, den man nicht aus dem Mund eines Teenagers erwartet. Doch es gibt viele Tage, an denen der 15-Jährige aus Heidelberg so empfindet. Knapp 90 Autominuten entfernt, in Kehl, lebt Malene. Sie kennt Michael nicht, hat ihn nie getroffen. Und doch versteht die 14-Jährige genau, wovon er spricht. Denn seine Diagnose – Post-Covid – steht auch in ihrer Krankenakte.
Für die meisten Menschen ist die Coronapandemie vorüber. Eine Infektion mit Sars-CoV-2 ist für viele nicht anders als eine Grippe, eine lästige Erkältung. Nicht so für Michael und Malene: Statt draußen zu spielen, jung zu sein, mit Freunden zu chillen und Fehler zu machen, harren sie im Bett aus und warten – darauf, dass ihre Schmerzen nachlassen, dass sie genug Energie für Alltägliches aufbringen, dass irgendwer ein Medikament entwickelt.
Symptomwirrwarr nach Covid-19
Warum manche Menschen nach einer Sars-CoV-2-Infektion mit schweren Langzeitfolgen kämpfen, ist noch immer wenig verstanden. Michael war nie ernsthaft krank – auch nicht während der Coronapandemie. Doch im April 2022 änderte sich alles. Lag es an einer unerkannten Sars-CoV‑2-Infektion? Oder hatte es etwas mit seiner dritten Coronaschutzimpfung zu tun (siehe »Gibt es Post-Vac?«)? Keiner weiß es. Plötzlich litt der damals Zwölfjährige unter Schmerzen – erst im Bauch, dann im Knie, schließlich über Wochen an immer wieder neuen Körperstellen. Eine nachweisliche Covid‑19-Erkrankung im Juni 2022 verschlimmerte seine Beschwerden massiv: Erschöpfung und diffuse Schmerzen wurden zu ständigen Begleitern. Seit Sommer 2023 kann Michael nicht mehr laufen, ohne Hilfe stehen oder sitzen. Er benötigt rund um die Uhr Unterstützung bei den alltäglichsten Aufgaben.
Vieles davon kennt die 14-jährige Malene nur zu gut. Seit einer Coronainfektion im August 2022 bestimmt die Krankheit auch ihren Alltag. Sie leidet unter Muskelschwäche, insbesondere in den Beinen, und verbringt ihre Tage im Erdgeschoss ihres Elternhauses. Für den Kraftakt, die Treppe zu ihrem Zimmer hochzusteigen, fehlt ihr meist die Energie. Sie hangelt sich von Ruhepause zu Ruhepause, ist permanent erschöpft. Da ist schon der seltene Gang ins Badezimmer eine Tortur für sie, alltägliche Verrichtungen wie das Waschen des Gesichts oder Anziehen überfordern sie oft.
Themenwoche: »Long Covid und ME/CFS«
Für die meisten von uns ist die Covid-19-Pandemie vorbei – nicht so für die vielen Menschen, die mit den Folgen von Long Covid oder ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom) leben müssen. Unsere Themenwoche soll sie sichtbar machen: Schwerstbetroffene, darunter Kinder und Jugendliche. Was weiß man über die Ursachen von ME/CFS? Welche Schäden verursacht das Coronavirus im Gehirn? Welche Rolle spielen reaktivierte Erreger wie das Epstein-Barr-Virus? Und vor allem: Was macht Hoffnung?
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Alle Inhalte zur Themenwoche »Long Covid & ME/CFS: Leben auf Sparflamme« finden Sie auf unserer Übersichtsseite.
»Trotz solcher Gemeinsamkeiten verläuft Post-Covid bei jedem etwas anders«, erklärt der Kinderkardiologe Daniel Vilser. 2021 gründete er am Universitätsklinikum Jena die deutschlandweit erste interdisziplinäre Long- und Post-Covid-Ambulanz für Kinder und Jugendliche. Zwar berichten seine Schützlinge immer wieder, wie Malene und Michael, von Grundsymptomen wie chronischer Müdigkeit, Kurzatmigkeit, Gliederschmerzen und Muskelschwäche. Doch damit endet die Einheitlichkeit.
Long Covid dient häufig als Sammelbegriff für verschiedene Verlaufsformen, darunter auch Post-Covid (siehe »Wichtige Begriffe rund um Long Covid«). Es umfasst etwa 200 körperliche, kognitive und psychische Symptome. Sie reichen von Hautausschlägen, Verdauungsproblemen, Geschmacks- und Geruchsverlust über Konzentrations-, Gedächtnis- und Sprachstörungen bis hin zu Schlaflosigkeit, Angst und Depression. Grundlegende Unterschiede zu den Symptomen bei Erwachsenen bestehen nach bisherigem Kenntnisstand nicht.
Seit Januar 2023 ist Daniel Vilser Chefarzt der Kinderklinik am AMEOS Klinikum St. Elisabeth Neuburg in Bayern. Auch hier bietet sich ihm das gleiche Bild: »Es bleibt unklar, ob es sich bei Post-Covid um eine multisystemische Erkrankung mit vielen Facetten handelt oder um mehrere überlappende, pathophysiologisch unabhängige Vorgänge im Körper, die zwar alle durch Sars-CoV‑2 in Gang gesetzt werden, auf die jeder Mensch aber anders reagiert.« Der Begriff Post-Covid ist damit medizinisch kaum zu gebrauchen. Entsprechend schwammig definiert ihn selbst die Weltgesundheitsorganisation (WHO).
»Man unterhält sich und plötzlich ist ein Schalter umgelegt und binnen Sekunden geht gar nichts mehr«Mutter von Michael, 15
Kleinste Belastung als Auslöser für den Crash
Michael und Malene nutzen solche Definitionen erstmal wenig. Beide sind inzwischen mit der Maximalform der Krankheit diagnostiziert – Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS). Michaels Mutter beschreibt es so: »Man unterhält sich und plötzlich ist ein Schalter umgelegt und binnen Sekunden geht gar nichts mehr.« Denn sobald sich Betroffene überanstrengen, droht ihnen ein sogenannter Crash – ihr Gesundheitszustand verschlechtert sich schlagartig. Wie lange das anhält, ist unterschiedlich. Manchmal hilft eine strikte Pause von einer halben Stunde. In anderen Fällen führt ein Crash zur völligen Bettlägerigkeit. Erschöpfung und Schmerzen lassen dann oft erst nach Stunden oder Tagen nach. Und jedes Mal ist ungewiss, ob sich Betroffene wieder vollständig erholen.
Das Tückische daran: Schon Kleinigkeiten können einen Crash auslösen – etwa eine leichte körperliche Anstrengung wie der Gang zum Kühlschrank oder Sinnesreize wie Lesen oder das Schauen eines Schulvideos. Auch kognitive und emotionale Überforderung, wie den eigenen Tagesablauf zu strukturieren oder mit Freunden zu chatten, kann einen Crash zur Folge haben. Die medizinische Fachwelt spricht bei einer solchen Zustandsverschlechterung nach Belastung von post-exertioneller Malaise (PEM). Sie ist das Leitsymptom von ME/CFS.
Kein Wunder, dass die Krankheit das gesamte Leben der Betroffenen umkrempelt. »Michael will einfach nur wieder in die Schule, etwas lernen, raus mit Freunden – eben alles, was ein Teenager in seinem Alter macht«, sagt seine Mutter. »Nicht erleben zu können, was die anderen erleben, das ist für Malene hart«, pflichtet deren Mutter bei. Normalität – und sei es nur der unter Jugendlichen oft unbeliebte Schulunterricht – ist für Michael und Malene eine Utopie.
Beide sind seit Anfang 2023 schulunfähig. Malene erhielt zwar bis September 2023 noch Hausunterricht, doch auch das erwies sich als zu anstrengend. Heute nehmen beide nur noch in Häppchen am Unterricht teil, etwa mithilfe ihrer Schul-Avatare. Kleine internetfähige Roboter mit Mikrofon und Lautsprecher stehen an ihrer Stelle in ihren ehemaligen Klassenzimmern. Dank dieser technischen Lösung können Malene und Michael wenigstens noch erahnen, wie sich normales Leben anfühlen könnte. Doch das meiste bleibt ihnen verborgen. Sie wissen nicht mehr, mit welchen Jugendwörtern Gleichaltrige um sich werfen oder welche Videos gerade auf Youtube oder Tiktok viral gehen. Stattdessen müssen sie jede noch so kleine körperliche oder geistige Anstrengung sorgsam abwägen. Das stellt eine extreme Herausforderung dar – nicht nur medizinisch, sondern auch für das tägliche Familienleben.
Viele Faktoren tragen zur Entstehung von Long Covid bei
Was bleibt, sind Angst und Ungewissheit als ständige Begleiter. Was machen Eltern, wenn sich das eigene Kind häufig übergibt, über ein Stechen im Bauch klagt oder auf der Treppe zusammenbricht? Ist das PEM und nur Ruhe hilft? Oder muss ein Notarzt her, der aber vielleicht erst recht einen Crash auslöst? Wie sollen Eltern in ihrer Hilflosigkeit gute, geschweige denn medizinisch korrekte Entscheidungen treffen?
Und natürlich grollt im Hinterkopf immer die große Frage: Warum gehört ausgerechnet unser Kind zu den wenigen Menschen, die sich von der Coronapandemie nicht mehr erholen? Weder Kinder- noch Fachärzte kennen die Antwort.
Sicher spielt eine genetische Veranlagung eine Rolle. Sie beeinflusst sowohl die Anfälligkeit für Sars-CoV-2-Infektionen als auch das Risiko, Long Covid zu entwickeln. So wurden in einer Metastudie die Genome von 6450 Long-Covid-Patienten aus 16 Ländern mit denen von rund einer Million Kontrollpersonen ohne Spätfolgen verglichen. Ergebnis: Long-Covid-Erkrankte tragen vermehrt eine bestimmte Variante des FOXP4-Gens. Dieser Erbfaktor reguliert die Entwicklung, Regeneration und Funktion der Lunge sowie die Immunantwort in den Atemwegen. Träger der Genvariante weisen ein 1,6-fach höheres Risiko für gesundheitliche Langzeitfolgen auf. In Europa tragen durchschnittlich 4,2 Prozent der Menschen das Gen.
Doch so einfach ist die Antwort nicht. Eine weitere Studie identifizierte gleich 73 Gene, die mit Langzeitfolgen einer Sars-CoV‑2-Infektion assoziiert sind. Erneut lassen sich mehrere Subtypen von Long-Covid-Patienten unterscheiden. Zeigten Betroffene anhaltende Atemprobleme oder kognitive Beeinträchtigungen, fielen vor allem Gene auf, die die Immunantwort regulieren. Herrscht hingegen Fatigue – also übermäßige Erschöpfung – vor, waren eher Gene betroffen, die mit Stoffwechselprozessen zusammenhängen. Auch betrachten Fachleute einen höheren Body-Mass-Index und erhöhte Cholesterinwerte als mögliche Risikofaktoren für Long Covid.
Gibt es Post-Vac?
Die Diskussion um ein mögliches Post-Vakzinierungs-Syndrom, kurz »Post-Vac«, zeigt, wie schwierig die Abgrenzung zwischen Impfnebenwirkungen und den Folgen einer oft unbemerkten Sars-CoV-2-Infektion ist. Der Begriff beschreibt Long-Covid-ähnliche Symptome, die zeitlich nach einer Impfung auftreten. Post-Vac ist bislang weder klar definiert noch als offizielles Krankheitsbild anerkannt.
Seit Beginn der Impfkampagne wurden dem Paul-Ehrlich-Institut rund 350 000 Verdachtsfälle gemeldet, davon 3,2 schwerwiegende pro 10 000 Impfdosen – mehr als bei anderen Impfstoffen, aber immer noch sehr selten. Gleichzeitig haben Berichte über mögliche Langzeitfolgen einen gesellschaftlichen Diskurs angestoßen: Medien greifen das Thema auf, Selbsthilfegruppen und Post-Vac-Ambulanzen an Universitätskliniken beraten Betroffene. Wissenschaftlich gesichert sind bisher allerdings nur wenige seltene Komplikationen wie Herzmuskelentzündungen oder Thrombosen. Für ein eigenständiges Post-Vac-Syndrom gibt es bislang keine belastbare Evidenz. Weder das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) noch die Internationale Koalition der Arzneimittelbehörden (ICMRA) haben nach weltweit 13,7 Milliarden Impfungen Hinweise gefunden, dass Coronaimpfstoffe eine Post-Covid-Symptomatik auslösen. Klar ist hingegen: Ungeimpfte haben ein deutlich höheres Risiko, Long Covid oder Post-Covid zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund überwiegt der Nutzen der Impfungen die potenziellen Risiken eindeutig.
Unklarheit besteht ebenso hinsichtlich der Pathomechanismen, die zu Long Covid führen. Altersübergreifend werden derzeit mehrere Möglichkeiten diskutiert. Drei davon sind laut Vilser besonders im Fokus:
- Chronische Entzündungen durch Virusfragmente: Sars-CoV-2-Viren oder Virusbestandteile können trotz überstandener akuter Infektion im Körper verbleiben, etwa in Darm, Lunge, Herz, Gehirn, Lymphknoten, Leber, Plasma, Urin oder Stuhl. Im Blut lassen sich Virusfragmente sogar bis zu einem Jahr später nachweisen. Sie können eine dauerhafte Ausschüttung entzündungsfördernder Botenstoffe, sogenannter Zytokine, hervorrufen. Das kann zu Symptomen wie Fatigue, kognitiven Beeinträchtigungen und Muskelschwäche führen. Zudem könnte eine Reaktivierung latenter Viren wie des Epstein-Barr-Virus (EBV) bei bis zu zwei Dritteln der Betroffenen eine Rolle spielen.
- Durchblutungsstörungen: Bei Long-Covid-Patienten finden sich zum einen Mikrothromben, kleinste Blutgerinnsel, aber auch andere Schäden im Endothel, also in der Auskleidung von Blutgefäßen. Beides beeinträchtigt die Gefäßweite und den Blutfluss, was die Sauerstoff- und Nährstoffversorgung von Muskeln und Organen reduziert. Die Folge sind Muskelschwäche und kognitive Beeinträchtigungen.
- Autoimmunreaktionen: Einige Patienten entwickeln durch eine Sars-CoV-2-Infektion Autoantikörper, die körpereigene Strukturen wie etwa die Oberflächenproteine von Blutplättchen und Endothelzellen angreifen. Eine retrospektive Kohortenstudie mit mehr als 640 000 Covid-19-Patienten zeigte, dass das Risiko, innerhalb von 3 bis 15 Monaten nach einer Sars-CoV‑2-Infektion eine Autoimmunerkrankung zu entwickeln, um 43 Prozent höher ist im Vergleich zur Kontrollgruppe – unabhängig von Alter und Geschlecht. Besonders stark war der Zusammenhang für Entzündungen der Blutgefäße, der Schilddrüse und der Gelenke.
»Noch ist jedoch keine Theorie widerlegt oder bestätigt«, fasst der Kinderkardiologe Vilser zusammen. Die Schwierigkeit dabei: Trotz offensichtlicher Symptome sind die Laborwerte oft unauffällig. Zwar weisen einige Long-Covid-Patienten beispielsweise veränderte Autoantikörper oder Cortisolspiegel auf. »Aber neben 30 von 100 Betroffenen finden wir den gleichen Labormarker in ähnlicher Höhe auch bei 15 von 100 Gesunden. Das mag statistisch signifikant sein, die Diagnose eines einzelnen Patienten sichert es aber nicht«, hält Vilser fest.
Wie viele Minderjährige sind betroffen?
Wie viele Minderjährige sind an Long Covid erkrankt? Kohortenstudien geben eine große Spannbreite an: Zwischen 0,8 und 5 Prozent aller unter 18-Jährigen sind demnach betroffen – das wären bis zu 715 000 Menschen. Wie viele davon wirklich darunter leiden, ist unbekannt. Kleinkinder erkranken äußerst selten, Teenager etwa zehnmal seltener als Erwachsene. Müssen Minderjährige jedoch wegen Covid-19 stationär behandelt werden, leidet bis zu ein Viertel von ihnen auch noch Monate später an Langzeitfolgen. Selbst leicht oder asymptomatisch Erkrankte können Long Covid entwickeln, vor allem wenn sie weiblich, vorerkrankt und unvollständig geimpft sind oder sich wiederholt mit Sars-CoV-2 infizieren.
Ein kleiner Trost für Minderjährige: Laut Vilser haben sie bessere Heilungschancen als Erwachsene. Das Warum ist allerdings wiederum schlecht verstanden. Wahrscheinlich spielen Vorerkrankungen eine Rolle, die im Kindesalter natürlich seltener sind als unter Erwachsenen. Zudem zeigen Kinder und Jugendliche im Allgemeinen eine robustere Immunantwort auf Virusinfektionen und neigen seltener zu überschießenden oder chronischen Entzündungsreaktionen, wie es bei Long Covid vermutet wird. Entsprechend erholen sich etwa vier von fünf Minderjährige innerhalb weniger Monate bis eines Jahres. Gleichzeitig wird ab einem halben Jahr Krankheitsdauer aber auch die Chance geringer, vollständig zu genesen. Jeder 20. Minderjährige leidet 18 Monate später noch an Langzeitfolgen.
In schweren Fällen erleben die Betroffenen dann häufig einen Spießrutenlauf durchs Gesundheitssystem. So berichten Elterninitiativen wie der NichtGenesenKids e.V., in dessen Länderbeirat Baden-Württemberg sich die Mütter von Michael und Malene engagieren, immer wieder dasselbe: Häufig kennen Kinderärzte das Krankheitsbild ME/CFS nicht. Fachärzte haben nur ihr Spezialgebiet im Blick – unbrauchbar angesichts der interdisziplinären Komplexität von Long Covid. Palliativteams tun sich schwer, die Unberechenbarkeit von ME/CFS mit ihren Schichtdienstplänen zu vereinbaren. Und die Long- und Post-Covid-Ambulanzen sind überfüllt, die Wartelisten lang.
Auch Mitte 2025 gibt es bundesweit nur 14 Long-Covid-Schwerpunktpraxen – je drei in Bayern, Nordrhein-Westfalen und Thüringen, die restlichen fünf in vier weiteren Bundesländern. Neun Bundesländer gehen leer aus. Lediglich Minderjährige, die regional günstig wohnen, haben also eine Chance auf spezialisierte Versorgung.
»Mutet sich Malene auch nur ein bisschen zu viel zu, crasht sie«Mutter von Malene, 14
ME/CFS bedeutet ein Leben mit Pausetaste
Dabei ist die Behandlungsstrategie für Schwerbetroffene entscheidend – nicht etwa, um zu genesen, denn eine kausale Therapie für Long Covid und ME/CFS existiert bislang nicht, sondern nur, damit sich ihr Gesundheitszustand nicht weiter verschlechtert. Das einzige wirksame Mittel ist sogenanntes Pacing. Doch das erfordert Übung. Malenes Mutter beschreibt es als »persönlichen Belastungskorridor«: Es ginge darum, unermüdlich auf den eigenen Körper zu hören, jede Kleinigkeit abzuwägen und schonend mit den eigenen Kräften umzugehen. »Mutet sich Malene auch nur ein bisschen zu viel zu, crasht sie.«
Die Herausforderung dabei: »Pacing geht gegen alles, was bei anderen Krankheiten hilft«, sagt Malenes Mutter. »Also rauszugehen, sich zu bewegen, sich der Krankheit zu stellen.« Das funktioniert bei ME/CFS nicht. »Es schmeißt alles über den Haufen. Crashs scheinen unvermeidbar.« Genau dieses ständige Auf und Ab ist es, was Betroffene und ihre Familie besonders belastet. Immer wieder erleben sie Enttäuschungen: Es läuft gerade ein wenig besser, die Hoffnung wächst – und dann folgt der nächste Crash. Fortschritte bleiben meist nicht auf Dauer, und die Frustration steigt. »Das ist bitter«, kommentiert Malenes Mutter. »Ich merke, das tut was mit Malene – und mit uns.«
Medikamente können nur einzelne Symptome wie Schlaf- und Verdauungsstörungen oder Schmerzen lindern. Zwar laufen derzeit rund 400 klinische Studien zu Wirkstoffen gegen Long Covid. Da Betroffene aber unterschiedliche Symptome zeigen, gibt es kein Mittel, das allen hilft. Viele setzen ihre Hoffnung deshalb auf Off-Label-Medikamente, die manchmal kleine Verbesserungen bringen. Der große Wurf sei das allerdings nicht, sagt Michaels Mutter. Also bewältigen die meisten ME/CFS-Betroffenen ihren Alltag weiterhin mit Schlafbrille, Lärmschutzkopfhörer, Entspannungstechniken sowie Atem- und Kreislaufübungen.
»Ohne soziale Kontakte zu Gleichaltrigen auszukommen, hinterlässt natürlich Spuren in der Psyche«Martin Walter, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
Was Kindern und Jugendlichen mit Long Covid am meisten Angst macht? »Vergessen zu werden«, sagt Malenes Mutter. Diese Furcht teilen fast alle Betroffenen – und sie ist vielleicht der Aspekt, den Außenstehende am leichtesten übersehen: Die Welt von Malene, Michael und ihren Familien schrumpft. Sie verbringen ihr Leben zu Hause, werden unsichtbar. Die Folge davon ist, dass erkrankte Kinder und Jugendliche vereinsamen. Darin sieht Martin Walter, Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Jena und Präsident des Ärzte‐ und Ärztinnenverbandes Long COVID, eine der größten Herausforderungen: »Ohne soziale Kontakte zu Gleichaltrigen auszukommen, hinterlässt natürlich Spuren in der Psyche«, sagt er. Je jünger Betroffene sind, desto gravierender seien die Einschnitte. »Haben Kinder in der Pubertät längere schwere Erkrankungen, liegen sie in ihrer sozialen Weiterentwicklung und geistigen Reifung manchmal Jahre zurück. Als junge Erwachsene kommen sie dann nicht so gut zurecht, weil sie wichtige Bewältigungsstrategien nie erlernt haben.« Doch so weit denkt ein Kind mit Long Covid vermutlich gar nicht. Dringender ist ohnehin die Frage: Wie werde ich wieder gesund? Die Kindheit muss warten.
Wichtige Begriffe rund um Long Covid
Fatigue: Darunter versteht man eine massive psychische und physische Kraft- und Energielosigkeit. Die Betroffenen sind nicht mehr in der Lage, Aktivitäten des täglichen Lebens nachzugehen. Fatigue tritt auch bei anderen chronischen Erkrankungen auf, etwa bei multipler Sklerose oder Krebs. Anders als hier verbessert sich das Symptom bei ME/CFS nicht durch Sport oder Schlaf.
Long Covid: Der Begriff bezeichnet gesundheitliche Beschwerden, die über die akute Krankheitsphase hinaus andauern – also länger als vier Wochen nach der Sars-CoV-2-Infektion. Long Covid ist als Oberbegriff für verschiedene Verlaufsformen gängig, darunter auch Post-Covid oder ME/CFS.
Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS): Meist durch eine Virusinfektion wie Covid-19 ausgelöste schwere Multisystemerkrankung. Typisch sind eine Verschlechterung der Symptome nach Belastung (PEM) und eine massive Energielosigkeit (Fatigue). Betroffene leiden unter anderem häufig unter Konzentrations- und Gedächtnisproblemen, Schlafstörungen, Herz-Kreislauf-Beschwerden, Schmerzen in verschiedenen Bereichen des Körpers und einer Überempfindlichkeit, etwa auf Licht oder Geräusche.
Pacing: Eine Form des Krankheitsmanagements, bei der Patienten lernen, die zur Verfügung stehende Energie zu nutzen, ohne die eigenen Belastungsgrenzen zu überschreiten. Ziel ist es, eine PEM zu vermeiden.
Post-Covid: Nach Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) handelt es sich um gesundheitliche Beschwerden, die mindestens zwölf Wochen nach einer Sars-CoV-2-Infektion fortbestehen oder erneut auftreten und nicht anderweitig erklärbar sind. Der Begriff dient der medizinischen Abgrenzung innerhalb des Long-Covid-Spektrums und beschreibt insbesondere längerfristige oder chronische Verläufe.
Post-exertionelle Malaise (PEM): Das Kernsymptom von ME/CFS ist eine verzögerte Verschlechterung des Zustands oder das Auftreten neuer Symptome nach körperlicher oder geistiger Anstrengung. Betroffene bezeichnen das oft als Crash. Auslöser können bereits Sitzen, Stehen oder äußere Reize wie Licht sein. Meist tritt eine Zustandsverschlechterung 12 bis 48 Stunden nach der Überlastung auf und hält dann Tage bis Wochen an; in schweren Fällen ist sie dauerhaft.
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