Das Glücksparadox: Die heikle Jagd nach dem Glück

Am 4. Juli 1776 sagten sich in Nordamerika 13 britische Kolonien von ihrem Mutterland los. In ihrer berühmten Unabhängigkeitserklärung begründeten sie diesen Schritt mit Verstößen der Krone gegen die Menschenrechte. Die Präambel des Dokuments zählt explizit drei davon auf – Leben, Freiheit und das Streben nach Glück, »the pursuit of happiness«. Man könnte also sagen: Das eigene Glück mehren zu wollen, gehört damit zu den ureigensten Bürgerrechten der Vereinigten Staaten von Amerika.
Aber ist es überhaupt ratsam, nach Glück zu streben? Anders gefragt: Werden Menschen tatsächlich glücklicher, wenn sie genau das wollen? Das scheint zunächst einmal durchaus plausibel. »Wenn ich ein Ziel habe, dann spornt mich das an, mich entsprechend zu verhalten«, erklärt Julia Vogt, Psychologieprofessorin an der britischen University of Reading. »Damit steigt oft die Wahrscheinlichkeit, dass ich es auch erreiche.« Wenn ich meinen Tennisaufschlag verbessern möchte, stelle ich mich also mit einem Eimer voller Bälle auf den Platz und übe. Und beim nächsten Match sitzt der Service dann.
Doch ob das beim Glück genauso funktioniert, daran hegen Psychologen zumindest Zweifel. Denn was, wenn ich mich bemühe, aber dennoch nicht so glücklich bin wie erhofft? Wer trotz vieler Stunden Training den Aufschlag versemmelt, ist vielleicht frustriert. Das ändert aber nichts daran, dass er sich langsam, aber stetig verbessert. Wer bei seiner Glückssuche zu scheitern meint, gefährdet den Erfolg jedoch noch zusätzlich durch die Enttäuschung. Die Emotionen, die erfolglose Bemühungen mit sich bringen, machen also womöglich erst recht unglücklich.
So argumentiert etwa die Psychologin Iris Mauss. Die Wissenschaftlerin, die an der University of California in Berkeley forscht und lehrt, schilderte 2011 ein einfaches Experiment. Die Teilnehmerinnen – allesamt Studentinnen – lasen zunächst einen Zeitungsartikel, der sie über die Vorzüge eines glücklichen Lebens aufklärte: Glückliche Menschen seien beispielsweise erfolgreicher, gesünder und beliebter. Mauss wollte ihre Probandinnen dadurch in eine Geisteshaltung versetzen, in der sie besonders stark nach Glück strebten. Eine Kontrollgruppe bekam dagegen einen Artikel zu einem anderen Thema in die Hand gedrückt.
Die Psychologin glaubt, dass sich die Enttäuschung über mangelnde Glücksgefühle vor allem in Momenten einstellen müsste, in denen wir uns höchstes Glück versprechen. Wenn unsere Emotionen nach dem Tod unseres Kanarienvogels in den Keller rutschen, ist das schließlich erwartbar. Ganz anders, wenn wir am weißen Karibikstrand dem sanften Rauschen der Wellen lauschen – da müssten wir doch eigentlich glücklich sein! Sie testete diese These, indem sie den jungen Frauen einen kurzen Filmausschnitt vorspielte, der typischerweise positive Gefühle hervorruft. Tatsächlich war dieser Effekt bei der Gruppe der Teilnehmerinnen, die zuvor etwas über die Vorzüge des Glücklichseins gelesen hatten, schwächer als bei der Kontrollgruppe. Zudem waren sie häufiger der Meinung, dass sie den Clip eigentlich mehr hätten genießen sollen.
»Dass wir nicht glücklicher werden, wenn wir uns ständig um unser Glück sorgen, liegt auf der Hand«Julia Rohrer, Psychologin
Wenn Menschen experimentell dazu gebracht werden, nach Glück zu streben, scheint das demnach dämpfend auf ihre Stimmung zu wirken – und zwar vor allem in Situationen, in denen sie denken, dass sie eigentlich glücklich sein sollten. Die Forschenden sprechen in ihrer Publikation daher auch von paradoxen Effekten der Glückssuche. Um zu messen, wie stark Versuchspersonen Glück wertschätzen, entwickelten sie zudem einen Fragebogen. Er enthält Sätze wie »Glücklich zu sein, ist extrem wichtig für mich« oder »Ich sorge mich um mein Glück, selbst wenn ich glücklich bin«. Die Befragten sollen auf einer Skala von 1 bis 7 angeben, wie sehr sie diesen Aussagen jeweils zustimmen.
Diese »Valuing Happiness«-Skala wurde seit 2011 in zahlreichen Studien verwandt, um den Zusammenhang zwischen Glücksstreben und Glück zu analysieren. Tatsächlich untermauern manche von ihnen den Befund von Mauss und ihren Kollegen: Wer das Lebensglück zum Zentrum seines Strebens macht, riskiert demnach, dass es ihm durch die Finger rinnt. Sogar mit Depressionen soll diese Einstellung assoziiert sein. Doch ist die Forschungslage an diesem Punkt keineswegs eindeutig.
Der Fragebogen misst nicht nur das, was er messen soll
Grund dafür ist auch die »Valuing Happiness«-Skala selbst. Denn viele Psychologinnen und Psychologen glauben heute, dass sie gar nicht misst, was ihr Name vorgibt. »Aussagen wie ›Ich sorge mich um mein Glück, selbst wenn ich glücklich bin‹ oder ›Wenn ich mich nicht glücklich fühle, ist vielleicht etwas falsch mit mir‹ erfassen einfach dysfunktionale Denkmuster«, kritisiert Julia Rohrer, Persönlichkeitspsychologin der Universität Leipzig. »Es liegt auf der Hand, dass solche Denkweisen negativ mit dem Wohlbefinden korrelieren.«
Demnach misst die Skala zumindest zum Teil allgemeine ungesunde Einstellungen, etwa den Hang, sich Sorgen zu machen und zu grübeln. Den Testpersonen geht es vermutlich einfach schlecht, weil sie dazu tendieren, so zu denken – das ist die eigentliche Ursache; nicht, dass sie glücklich sein möchten.
Die Psychologinnen Julia Krasko, Vera Schweitzer und Maike Luhmann unterscheiden daher zwischen dem Streben nach Glück und glücksbezogenen Bedenken. Sie haben einen eigenen Fragebogen entwickelt, der diese beiden Komponenten getrennt erfasst. Menschen, die stark nach Glück streben, suchen in ihrem Alltag gezielt nach schönen Momenten. Sie sind zudem gut darin, ihre Gefühle zu regulieren: Sie überprüfen etwa, ob ihre Sorgen realistisch sind, reagieren gelassen auf ärgerliche Situationen, lassen sich durch Misserfolge nicht so stark herunterziehen, sondern fokussieren auf den Silberstreif am Horizont. Wer nach Glück strebt, ist demnach auch im Schnitt mit seinem Leben zufriedener.
Menschen mit starken glücksbezogenen Bedenken gehen diese Fähigkeiten ab. Sie richten ihre Bemühungen zudem nicht darauf, sich Glücksmomente zu verschaffen. Stattdessen vermeiden sie Situationen, die sich negativ auf ihren Gefühlshaushalt auswirken könnten. Sie suchen also nicht nach Glück, sondern trachten eher danach, es nicht zu verlieren. Diese Einstellungen und Verhaltensweisen gehen mit einem geringeren Wohlbefinden einher. Testpersonen können durchaus bei beiden Komponenten hoch abschneiden – also nach Glück streben und gleichzeitig Angst haben, dass es ihnen durch die Finger rinnt. In diesem Fall können sich die Effekte überlagern und teilweise aufheben.
Die »Valuing Happiness«-Skala erfasst ein Stück weit beide Aspekte, jedoch ohne sie auseinanderzudividieren – die Bedenken sind gewissermaßen mit an Bord. »Dass wir nicht glücklicher werden, wenn wir uns ständig um unser Glück sorgen, liegt auf der Hand«, meint die Leipziger Psychologin Julia Rohrer. »Der von Mauss nachgewiesene Zusammenhang ist also eigentlich gar nicht so paradox.«
Es gibt unterschiedliche Prozesse, von denen Psychologen vermuten, dass sie zu der geringeren Lebenszufriedenheit bei manchen Glücksuchenden beitragen. Sich ständig selbst zu beobachten (»Bin ich gerade glücklich genug?«), ist einer davon. Denn wer das tut, neigt eher dazu, sich auf seine negativen Gefühle zu konzentrieren, und kann dabei die kleinen Glücksmomente im Alltag weniger genießen. Ein weiterer wichtiger Faktor sind unrealistische Erwartungen: Wer hofft, stets auf Wolke sieben zu schweben, wird zwangsläufig enttäuscht. Jeder Mensch fühlt sich manchmal down; das gehört zum Leben dazu. Wer das nicht akzeptiert, sondern seine Ängste und Sorgen unterdrückt, macht sich damit unglücklich, wie eine australische Studie aus dem Jahr 2022 zeigt.
Viele wissen gar nicht, was sie glücklich macht
Es gibt noch einen dritten wichtigen Punkt: Viele Menschen wissen offenbar gar nicht so genau, was sie glücklich macht. Sie verfolgen die falschen Strategien, um dieses Ziel zu erreichen. Shoppen zu gehen, kann vielleicht kurzfristig unsere Stimmung etwas aufhellen. Doch unsere Freude über den schicken Pulli oder das tolle Smartphone nutzt sich schnell ab. Wir können unser Glückslevel durch Anhäufung materieller Güter nicht nachhaltig steigern. Vielversprechender ist es da schon, wenn wir unser Geld für Erlebnisse ausgeben: einen Besuch in der Philharmonie, einen Kochkurs, eine Bootstour auf dem See.
Oder für ein Treffen mit Freunden. Denn die Zeit, die wir mit anderen verbringen, scheint für unser Wohlbefinden besonders förderlich zu sein. Schon ein kurzer Schnack mit dem Verkäufer hinter der Käsetheke kann uns in eine bessere Stimmung versetzen. Allerdings lassen wir derlei Chancen oft ungenutzt verstreichen. Forschende der University of Chicago haben dazu 2014 eine aufschlussreiche Studie veröffentlicht: Sie baten Pendlerinnen und Pendler, sich in der Bahn mit einem Fremden zu unterhalten und anschließend zu protokollieren, wie sehr ihnen die Fahrt gefallen hatte. Die Befragten empfanden ihren Weg zur Arbeit im Schnitt als deutlich angenehmer als die schweigende Kontrollgruppe. Das galt gleichermaßen für extravertierte wie für introvertierte Zeitgenossen. Erstaunlicherweise hatten sie jedoch die Wirkung des Gesprächs vorher falsch eingeschätzt: Sie erwarteten, die Unterhaltung würde ihnen missfallen.
Wer Glück in der Gemeinschaft sucht, hat größere Chancen, es zu finden. In diese Richtung deuten auch Ergebnisse einer Studie, die die Leipziger Psychologin Julia Rohrer zusammen mit Kolleginnen und Kollegen durchgeführt hat. Sie basieren auf Daten des Sozio-oekonomischen Panels, abgekürzt SOEP. Seit 1984 werden darin repräsentativ ausgewählte Haushalte in Deutschland wiederholt zu verschiedenen Themen interviewt. In einer der Befragungen sollten die Teilnehmenden unter anderem ihre aktuelle Lebenszufriedenheit einschätzen. Außerdem schrieben sie Ideen auf, mit denen sie diesen Wert in den folgenden Jahren beibehalten oder sogar steigern wollten.
Mehr als 1100 Frauen und Männer brachten so im Jahr 2014 ihre individuellen Glücksstrategien zu Papier. »Wir haben uns alle Antworten angeschaut und danach abgeklopft, ob dabei der Kontakt zu anderen Menschen eine Rolle spielt«, sagt Rohrer. »Also etwa: Ich möchte mehr Zeit mit Freunden und Familie verbringen, in einen Verein eintreten, mich ehrenamtlich engagieren – so etwas. Und dabei konnten wir zeigen, dass Personen, die solche Ideen hatten, im Jahr darauf tatsächlich zufriedener waren – anders als diejenigen, die eher nichtsoziale Strategien niedergeschrieben hatten.« Ob ihre persönliche Glücksformel dafür verantwortlich war, ist damit noch nicht abschließend bewiesen; es ist aber zumindest plausibel. So gaben die entsprechenden Teilnehmerinnen und Teilnehmer auch an, tatsächlich mehr Sozialkontakte gehabt zu haben.
»Es ist gut, glücklich sein zu wollen. Es kommt dabei aber darauf an, wie man dieses Ziel erreichen möchte«Julia Vogt, Psychologin
Rohrers Kollegin Julia Vogt glaubt ebenfalls, dass es eine gute Idee ist, das Glück im Zwischenmenschlichen zu suchen. Sie hat kürzlich zusammen mit ihrer Doktorandin Hanxin Zhang Hinweise darauf gefunden, dass diese Strategie auch gegen das Glücksparadox zu immunisieren scheint. In einer Onlinebefragung gaben Menschen aus China, Großbritannien, den USA und Kanada mithilfe der »Valuing Happiness«-Skala an, wie wichtig für sie ihr Lebensglück war. Zudem beantworteten sie Fragen zu ihrem Wohlbefinden und bewerteten Aussagen wie »Glück bedeutet für mich, Zeit mit Freunden und Familie zu verbringen« auf einer Skala von 1 (starke Ablehnung) bis 5 (starke Zustimmung).
Vordergründig stützten die Ergebnisse das Glücksparadox: Hohe Werte auf der Glückssuch-Skala gingen tendenziell mit einem geringeren Wohlbefinden einher. Das galt aber nicht für Befragte, die angegeben hatten, ihre Lebenszufriedenheit vor allem aus der Gemeinschaft mit anderen zu ziehen: Bei ihnen war ein hoher »Valuing Happiness«-Score sogar mit einem erhöhten Wohlbefinden assoziiert.
Allerdings lässt die Studie keine Rückschlüsse darauf zu, inwieweit diese Befunde ursächlich zusammenhängen. Eine andere Beobachtung aus vorangehenden Untersuchungen konnten Vogt und Zhang zudem nicht bestätigen: dass das Streben nach Glück in den individualistischen Ländern des Westens negativere Effekte hat als im kollektivistischeren China, wo die Gemeinschaft viel höher im Kurs steht als der Einzelne. Manche Forschende hatten das vermutet – einfach weil in den USA oder auch Deutschland das Glück eher in materiellen Dingen und im persönlichen Erfolg gesucht werde als im sozialen Miteinander.
»Es ist gut, glücklich sein zu wollen«, ist Vogt überzeugt. »Es kommt dabei aber ganz zentral darauf an, wie man dieses Ziel erreichen möchte.« Viele Menschen glaubten, dass es dafür besondere Maßnahmen brauche. »So wie wenn man auf die Waage steigt und sieht: Mensch, ich habe ja ganz schön zugenommen. Und dann sofort einen riesigen Workout macht oder mit einer ausgefeilten Diät beginnt, um an Gewicht zu verlieren.« Aus ihrer Sicht helfen kleine, leicht erreichbare Tätigkeiten oft viel mehr: ein Telefonat mit einer guten Freundin. Ein Spaziergang mit dem Partner. Oder auch einfach schöne Musik zu hören oder ein gutes Buch zu lesen. »Am wirksamsten sind vermutlich unaufwändige soziale Aktivitäten – in diese Richtung deuten zumindest unsere Studien«, meint sie.
Denn sie haben den Vorteil, dass sie sich problemlos regelmäßig in den Alltag einbauen lassen. Ein toller Sommerurlaub ist für die allermeisten nur einmal im Jahr drin. Ein Kneipenbesuch mit Freunden oder das Training im Tischtennisverein dagegen einmal die Woche oder öfter. Es gibt viele kleine Möglichkeiten, Glück aufzutanken. Wir neigen allerdings dazu, sie zu übersehen. Helfen könne dabei auch etwas mehr Flexibilität, betont Vogt: Das gemeinsame Wochenende mit der Partnerin im Wellnesshotel klappt nicht, weil Oma und Opa als Babysitter ausfallen? Vielleicht lässt sich dann ja immerhin noch ein romantisches Essen in der Tapas-Bar nebenan arrangieren.
Platz für schöne Momente und Aktivitäten schaffen und diese Möglichkeiten wahrnehmen, wo sie sich bieten: In der Forschung nennt man diese Strategie »Priorisieren von Positivem«. Wer so das Glück immer wieder zu sich einlädt, hat gute Chancen, dass es tatsächlich vorbeischaut – und vielleicht zwar nicht für immer bleibt, aber doch ein Stammgast wird.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.