Männlichkeit: Wann ist ein Mann ein Mann?

Benjamin Hine setzt sich als Genderforscher an der University of West London seit mehr als zehn Jahren mit der Rolle von Männern in der Gesellschaft auseinander. In seinem neuen Buch »Current Issues Facing Men and Boys« (Aktuelle Probleme von Männern und Jungen) erklärt er, warum Männer es nicht einfach haben und wie man bereits Jungs besser unterstützen könnte.
In Ihrem neuen Buch berichten Sie davon, wie Sie als Kind Balletttänzer werden wollten. Wieso wurde nichts aus diesem Traum?
Meine Eltern wollten das nicht. Ich war ein schlaksiger Junge, und sie fanden, ich hätte auch so schon genug Probleme. Sie hatten Angst, ich würde deshalb gemobbt werden. Ich fand das damals natürlich nicht gut, aber jetzt, da ich erwachsen bin und selbst Kinder habe, kann ich ihre Motive viel besser nachvollziehen.
Hat Ihnen diese Haltung Ihrer Eltern geschadet?
Ich glaube, dass alle Jungs irgendwann solche Erfahrungen machen: Nicht alles, was wir tun möchten, passt in das Bild, das die Gesellschaft von Männern hat. Wenn einem wichtig ist, was andere denken, kann das einen sehr großen Einfluss haben. Ich habe mit der Zeit jedoch meinen eigenen Weg gefunden – auch ohne Ballett.
Was ist das für ein Bild, das die Gesellschaft von Männern hat?
Ganz pauschal kann man das nicht beantworten. Das kommt immer auf die persönlichen Umstände und den kulturellen Kontext an, in dem man aufwächst. Es gibt allerdings ein paar Erwartungen, die Männer fast überall erfüllen sollen. Das hat meist mit ihrer angedachten Rolle als »Versorger« zu tun. Männer sollen demnach stark und unabhängig sein und einen recht stoischen Umgang mit den eigenen Gefühlen pflegen.
Sind Männer denn wirklich so?
Im Schnitt bringen Männer tatsächlich ihre Emotionen weniger stark zum Ausdruck als Frauen, und rein physisch sind sie durchschnittlich auch stärker. Solche Stereotype treffen aber niemals auf alle Männer zu. Darum ist es auch wichtig, niemandem das Gefühl zu geben, er müsse genau so sein.
Finden Sie es selbst manchmal schwierig, ein Mann zu sein?
Ich beschäftige mich beruflich sehr viel mit Männlichkeit; trotzdem habe ich manchmal in meinem Alltag Schwierigkeiten mit den Erwartungen, die um mich herum herrschen. Ein Beispiel: Wenn ich mit meinen Kumpels einen Pokerabend mache, will ich eigentlich kein Bier trinken. Ich mag einfach kein Bier. Doch in der Situation einen Cocktail zu trinken, würde einfach nicht passen. Ich gehe auch total gerne in Musicals, aber so richtig männlich fühlt sich das nicht an.
Der Untertitel Ihres Buches heißt »A Case for Urgent Change« (Ein Plädoyer für dringende Veränderung). Was muss sich ändern, und wieso ist es dringlich?
Männer haben in unserer Gesellschaft unglaublich viele Probleme. Sie machen im Schnitt schlechtere Schulabschlüsse als Frauen, sind eher obdachlos und müssen öfter ins Gefängnis. Außerdem begehen sie deutlich häufiger Suizid, ungefähr dreimal so oft wie Frauen. Diese Probleme hängen wahrscheinlich alle mit den Einschränkungen zusammen, die Männer in der Gesellschaft erfahren. Im Moment vermitteln wir ihnen den Eindruck, immer der Stärkste im Raum sein zu müssen, und es gilt als schwach, wenn sie ihre Depression oder Verzweiflung offen zeigen. Da ist es kein Wunder, wenn Männer Probleme in sich hineinfressen und diese dann in ungesunder Form zum Ausdruck kommen.
Kann ein traditionelles Verständnis von Männlichkeit wirklich Suizide auslösen?
So ganz genau weiß das niemand. Es könnte theoretisch sein, dass die Schwierigkeiten, die Männer in der Gesellschaft haben, allein auf biologische Faktoren zurückzuführen sind. Umgekehrt wäre es auch möglich, dass all die Probleme, die wir sehen, von den vorherrschenden Rollenbildern ausgelöst werden. Die Wahrheit liegt vermutlich irgendwo dazwischen. Die Forschung kann das nicht genau beantworten, weil Experimente, in denen Menschen gezielt unterschiedlich stark gesellschaftlichen Einflüssen ausgesetzt werden, aus ethischen Gründen nicht durchgeführt werden können. Männer haben aber auf jeden Fall besondere Probleme; und sie weniger dem Druck von traditionellen Rollenbildern auszusetzen, kann vielleicht helfen und wird ihnen sicher nicht schaden. Weshalb sollten wir es also nicht ausprobieren?
Männer haben durch die traditionelle Rollenverteilung viel Macht in der Gesellschaft. Verlieren sie im Zweifel demnach mehr, als sie gewinnen, wenn sich Geschlechterrollen modernisieren?
Es stimmt, dass viele der wichtigen Positionen in der Gesellschaft von Männern besetzt sind. Das liegt auch daran, dass wir Männlichkeit mit Eigenschaften wie Durchsetzungsfähigkeit in Verbindung bringen. Doch das heißt nicht, dass alle Männer viel Macht haben. Fragen Sie einmal einen queeren Mann mit Migrationshintergrund aus einer niedrigen sozioökonomischen Schicht, ob er das Gefühl hat, über viel Macht zu verfügen. Die Antwort wird mit Sicherheit »nein« lauten. Die traditionellen Geschlechterrollen sind nur für einen bestimmten Teil der Männer vorteilhaft, dem Rest schaden sie vor allem.
Wie entsteht unsere Vorstellung davon, was einen »echten« Mann ausmacht?
Rollenvorstellungen sind in der Gesellschaft omnipräsent. Bereits als Kinder kriegen manche Jungs von ihren Eltern gesagt »Lass das, das ist für Mädchen«, wenn sie mit einer Puppe spielen. Damit prägen die Eltern ganz explizit eine Vorstellung davon, was ein Mann tun sollte und was nicht. Eltern haben einen riesigen Einfluss darauf, wie Kinder Männlichkeit und Weiblichkeit verstehen. Ihr Einfluss geschieht auch indirekt – etwa wenn sie Jungs zum Karate anmelden und Mädchen zum Ballett. Oder durch die Art, wie sie Kinderzimmer gestalten. Meine Eltern haben mein Zimmer zum Beispiel tiefblau angemalt, mir eine Weltkarte an die Wand gehängt und eine Playstation gegeben. Das Zimmer meiner Schwester war wie ein rosa Schloss bemalt, mit einem Ritter, der angeritten kam, um sie zu retten. So etwas beeinflusst natürlich, wie Kinder ihr eigenes Geschlecht wahrnehmen.
Wären Sie heute ein anderer, wenn Sie mit Ihrer Schwester das Zimmer getauscht hätten?
Mir persönlich hätte das wahrscheinlich schon dabei geholfen, mich selbst ein bisschen mehr zu akzeptieren. Das gilt jedoch nicht für jeden. Meine Frau und ich haben uns zum Beispiel echt Mühe gegeben, unseren Kindern auch Angebote zu machen, die nicht nur den klassischen Geschlechtervorstellungen entsprechen. Trotzdem habe ich jetzt einen Sohn, der Fußball über alles liebt, und eine Tochter, die nicht genug von Einhörnern kriegt. Das ist auch völlig in Ordnung so. Es geht nur darum, die Kinder nicht durch unsere eigene Sicht auf Männlichkeit und Weiblichkeit einzuschränken. Wenn Jungs Karate toll finden, dann sollten sie Karate lernen. Wenn aber einer viel lieber mit Prinzessinnen spielen möchte, gibt es eigentlich keinen Grund, ihm das auszureden.
»Kinderfilme enthalten oft unterschwellige Botschaften, die den Eltern gar nicht bewusst sind«
Worauf können Eltern sonst noch achten, um ihren Söhnen ein gesundes Verhältnis zur eigenen Männlichkeit auf den Weg zu geben?
Beim gemeinsamen Filmeabend ist es sinnvoll, die Inhalte kritisch zu hinterfragen. Filme und Serien haben einen ziemlich großen Einfluss darauf, wie Kinder Geschlechterrollen wahrnehmen. Und oft enthalten auch Kinderfilme unterschwellige Botschaften, die den Eltern gar nicht bewusst sind. Insbesondere in den alten Disney-Filmen ist das so. In »Schneewittchen« zum Beispiel überlebt die Protagonistin nur knapp einen Mordanschlag. Als sie nach einigen Strapazen völlig ausgelaugt eine Hütte im Wald findet, schaut sie nicht nach Essen oder testet die Sicherheit der Hütte, sondern fängt an zu putzen. Da sagt zwar niemand »Frauen sollten putzen«, aber implizit wird vermittelt, dass Häuslichkeit für Frauen wichtiger ist als Selbsterhaltung. Bei den männlichen Disney-Helden ist Herkules ein Beispiel für ein ziemlich traditionelles Männlichkeitsideal. Er ist extrem stark und zeigt gleichzeitig ein sehr begrenztes Spektrum an Emotionen. Neuere Disney-Filme machen das besser. Kristoff, der Eishändler aus »Die Eiskönigin«, der sich in Prinzessin Anna verliebt, spricht zum Beispiel sehr offen über seine Emotionen und auch seine Unsicherheiten.
Sollten Väter öfter vor ihren Söhnen weinen?
Natürlich ist es gut, wenn Eltern ihren Kindern gegenüber emotional offen sind. Doch deswegen sollte niemand krampfhaft versuchen, vor seinen Kindern zu weinen. Manche Menschen sind eben emotionaler als andere. Und egal, ob man ein Mann oder eine Frau ist, man sollte genauso viele Emotionen zeigen, wie einem lieb ist. Ich selbst heule beim kleinsten Anlass; aber wenn andere Väter niemals vor ihren Kindern weinen, ist das auch in Ordnung. Sie sollten nur nicht das Gefühl haben, die Tränen unbedingt zurückhalten zu müssen.
Spätestens wenn die Kinder in die Schule kommen, verringert sich der Einfluss der Eltern. Wie beeinflussen Schulen das Männerbild?
Das fängt schon damit an, dass Jungs und Mädchen ständig in verschiedene Kategorien eingeteilt werden, etwa wenn sie sich in verschiedenen Reihen aufstellen sollen. Dadurch verstärkt sich dieses Gefühl, dass Jungs und Mädchen unterschiedlich sein müssten. Lehrerinnen und Lehrer haben jedoch auch einen viel indirekteren Einfluss. Zum Beispiel fragen sie bereits in der Grundschule öfter Jungs nach Unterstützung, wenn es darum geht, etwas Schweres zu tragen. Dabei sind Jungs in dem Alter gar nicht stärker als gleich große Mädchen. So drängt man ihnen allerdings schon sehr früh die Erwartung auf, dass sie stärker zu sein haben, selbst wenn es dafür noch keine biologische Grundlage gibt.
Kinder und Jugendliche haben heute schon früh Zugang zu sozialen Medien. Was macht das mit ihrem Männerbild?
Zumindest Tiktok kann einen großen Einfluss auf die Rollenvorstellungen von Jugendlichen haben. Wenn der Algorithmus ihnen zum Beispiel die radikale Sicht auf Männlichkeit von Andrew Tate in den Feed spült, haben Jugendliche dem oft nur wenig entgegenzusetzen.
Warum ist der mutmaßliche Menschenhändler Andrew Tate eigentlich unter Jungs so beliebt?
Andrew Tate propagiert ein sehr traditionelles und restriktives Bild von Männlichkeit. Das spricht vor allem jene an, die das Gefühl haben, nicht mehr Teil der Debatte zu sein. Und irgendwo stimmt dieses Gefühl auch. Es wird im Moment viel darüber gesprochen, wie schlecht es ist, ein Mann zu sein. Obwohl es richtig ist, dass sehr eng definierte Männlichkeit sowohl Männern als auch Frauen schadet, geht mir die Kritik an traditionellen Rollenbildern teilweise etwas zu weit. Begriffe wie »toxische Männlichkeit« bringen eine sehr starke Abwehrhaltung gegen alles Männliche zum Ausdruck. Natürlich rennen junge Männer dann Andrew Tate in die Arme, der ihnen sagt, dass es gar nicht schlimm ist, ein Mann zu sein, sondern etwas, auf das man stolz sein sollte.
Andrew Tate rettet also die verlorene Männlichkeit?
Nein, ich sehe seine Posts sehr kritisch. Was ich meine, ist, dass ein Rollenbild, das Menschen wie Andrew Tate zum Ausdruck bringen, Männer stark einschränkt: Das ist ein Problem. Auf der anderen Seite alles zu verteufeln, was irgendwie männlich klingt, kann aber auch nicht die Lösung sein. Die Eigenschaften, die Männern zugeschrieben werden, können ja durchaus positiv sein. Stärke und Durchsetzungsfähigkeit sind an sich nicht schlecht, egal ob bei Männern oder Frauen. Ich glaube, wir verlieren etwas, wenn wir all diese Eigenschaften abwerten, indem wir sie als »toxisch« bezeichnen.
»Man ist nicht weniger männlich, nur weil man ein Kleid trägt«
Gibt es auch bessere Einflüsse, denen Jungs online begegnen können?
Harry Styles ist für mich ein gutes Beispiel für jemanden, der zum Beispiel durch die Kleidung, die er trägt, den Zwang traditioneller Geschlechterrollen aufbricht. Das ist gut, weil Jungs so vermittelt wird, dass es verschiedene Versionen von Männlichkeit gibt, die gleichwertig sind. Deshalb muss natürlich nicht jeder Junge eine androgyne Mode-Ikone werden; es ist nur wichtig zu verstehen, dass man nicht weniger männlich ist, nur weil man ein Kleid trägt.
Auch Harry Styles stößt ja in bestimmten Kreisen auf Ablehnung. Wie soll man sich bei all den verschiedenen Vorstellungen von Männlichkeit als junger Mensch zurechtfinden?
Es muss viel mehr vermittelt werden, dass es auch eine gesunde Mitte zwischen Hypermaskulinität und Geschlechtsumkehr gibt. Jungs können männlich sein, ohne sich von diesem Rollenbild eingeschränkt zu fühlen. Man kann ohne Probleme feminine und maskuline Eigenschaften in sich vereinen. Das eine schließt das andere nicht aus.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.