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Marodes Kanalnetz: England kämpft gegen die Abwasserflut

Ein jahrelang vernachlässigtes Kanalnetz macht die britischen Gewässer zu den schmutzigsten Europas. Erst ein Shitstorm von Umweltschützern brachte Bewegung in die Sache.
Ein Badender beim Christmas Day Swimming in Brighton, 2016
Eine Flut von Abwässern ergießt sich an den britischen Nordseestränden ins Meer. Badende müssen mit ansteckenden Keimen und Hautkrankheiten rechnen. Die privaten Wasserversorger haben über Jahre Investitionen gescheut.

Bei gutem Wetter treibt es die Jugend von Chichester zum Jollensegeln aufs Wasser. Denn die weit verzweigte Bucht vor ihrer Haustür, Chichester Harbour genannt, ist wie gemacht für den Wassersport. Kein Wunder, dass die Ufer gesäumt sind von den Anlegestellen der Jachthäfen. Aber auch zahlreiche Wildtiere zieht es in die Gegend mit dem offiziellen Label »außergewöhnliche Naturschönheit«. Das verdankt sie dem Wasser – flach, warm, geschützt und ehedem: sauber.

Immer öfter aber kämen die Tage, da lasse sie nicht mal mehr den Hund ins Wasser, sagt Bianca Carr. Aus Ekel vor dem, was da alles in ihrer Bucht treibt: Feuchttücher, gebrauchtes Toilettenpapier, Kondome. Das Wasser ist an manchen Tagen trüb und braun, schaumig, und es stinkt. Über die Ursache brauchen die Menschen hier nicht lange zu rätseln: »Wir sehen das bräunliche Abwasser, wie es aus den Röhren ins Meer strömt«, sagt sie.

Vor vier Jahren hat Carr die »Final Straw Foundation« gegründet. Seitdem kämpft sie gegen die Abwasserflut in Flüssen und Küstengewässern des Vereinigten Königreichs. Die britischen Badegewässer gelten als die schmutzigsten Europas.

Eine Brühe wie vor Chichester ist keine Ausnahme mehr in den Strandbädern am Ärmelkanal. »Baden verboten« hieß es 2021 in den Touristenorten an einem von sechs Tagen. Und auch in der übrigen Zeit ermahnen die Behörden die Badegäste, erst die aktuellen Warnmeldungen zu prüfen, auf keinen Fall Wasser zu schlucken und anschließend zu duschen.

Herzmuscheln, Austern und Krebse, die normalerweise Millionengewinne erzielen, dürfen wegen der Schadstoffbelastung nicht mehr verkauft werden.

Bosham am Chichester Harbour | Beschauliche Städtchen und ein noch außergewöhnlich unberührtes Ökosystem kennzeichnen die verzweigte Bucht im Süden Englands. Doch Abwassereinleitungen haben die Wasserqualität sogar hier dramatisch verschlechtert.

Das Kanalsystem mit zu vielen Sollbruchstellen

Es schwappt und gurgelt aus Englands überlastetem Kanalnetz. Ende der 1980er Jahre hatte die Thatcher-Regierung die Wasserwerke des Landes in privatwirtschaftliche Hände gelegt. Seitdem, so sehen es viele Kritiker, geht die kurzfristige Profitsteigerung vor Langzeitinvestitionen in die Infrastruktur, mit stillschweigendem Einverständnis der wechselnden Regierungen in London.

Die Folgen kann man nun beim Segeln und Surfern schnuppern. Hier im Süden ist die Firma Southern Water verantwortlich. Sie gehört zu den schlimmsten Verschmutzern, schon 2019 musste sie die Rekordstrafe von 213 Millionen Britischen Pfund zahlen. »In den letzten zehn Jahren haben wir gesehen, wie die Wasserqualität stetig abnahm, seit 2018 besonders schnell«, erklärt Veronica Edmonds-Brown. Die Gewässerökologin von der University of Hertfordshire erforscht unter anderem seit über 30 Jahren, welche Folgen die Abwasserprobleme auf die britischen Gewässer haben.

Das Kanalnetz in England setzt auf so genannte Mischwassersysteme. In ihnen sammelt sich neben den Abwässern aus Haushalten und Industrie auch das Regenwasser. Im Normalfall ist das nicht weiter bedenklich, es landet dann eben beides in den Klärwerken. Doch fällt einmal stärkerer Regen oder sickert viel Grundwasser in die undichten Kanäle, übersteigt der Zufluss die Kapazität des Rohrsystems und der Kläranlagen – das Abwasser würde sich in die Haushalte zurückstauen. Die Behörden haben darum den Betreibern die Genehmigung erteilt, das Regen-Abwasser-Gemisch im Notfall auch ungeklärt in Binnen- und Küstengewässer zu leiten.

Doch der Notfall ist vielerorts zum Dauerzustand geworden. Die Klärwerke sind gesetzlich verpflichtet, die Häufigkeit und Dauer solcher »Overflows« mit Wasserstandssensoren zu erfassen und der Umweltbehörde zu melden. Deren Daten zeigen seit 2021 eine starke Zunahme der Overflows, nicht nur gelegentlich und bei schweren Regenfällen. Manche Schleusen stehen tagelang offen. NGOs und Wissenschaftler dokumentieren zusätzlich viele nicht oder falsch gemeldete Abwassereinleitungen, sogar im trockenen Sommer.

Weil die Behörden nur die Dauer der Einleitungen erfassen, nicht aber die Inhaltsstoffe, hat »Final Straw«-Gründerin Carr Geld gesammelt. Mit 25 000 Pfund beauftragte sie eine Privatfirma mit einer Wasseranalyse. Auch andere Umweltverbände wie The Rivers Trust und Surfers against Sewage (»Surfer gegen Abwässer«) nehmen Wasserproben und überwachen mit Citizen-Science-Projekten die Einleitungen.

Abwasser im Überfluss | Über Tausende von Entlastungsschleusen fließt das ungefilterte Abwasser wie hier in Kent in die Natur. Das System war für Notfälle gedacht, wird aber zusehends zur Normalität.

Surfers against Sewage betreibt beispielsweise eine Smartphone-App, die Wassersport-Interessierte vor schlechter Wasserqualität warnt. Allein in der Badesaison 2022 habe man 2053 Warnmeldungen herausgegeben, schreibt die Gruppe in ihrem Jahresbericht.

Gefährliche Abwässer: Fäkale Keime, »Superbugs« und Resistenzen

Zwei Behörden sind dazu abgestellt, die Abwasserflut einzudämmen: Während die Umweltbehörde Environment Agency die Overflow-Ereignisse und die Meldungen gesetzlich regelt, soll die Regulierungsbehörde Ofwat überwachen, ob die Unternehmen alle Auflagen einhalten. Whistleblower steckten allerdings der Presse, dass es in der Umweltbehörde interne Anweisungen gab, aus Geldmangel weniger schwerwiegende Wasserverschmutzungen zu ignorieren. Damit funktioniert die Überwachung der Wasserunternehmen offenbar nur lückenhaft.

Die ungeklärten Abwässer sind mehr als nur ein ästhetisches Problem, sie schaden Mensch und Umwelt auf mehreren Wegen: Industrieabwässer tragen gefährliche Chemikalien ein, menschliche Fäkalien enthalten Überreste von Medikamenten, Abwässer aus der Tierhaltung sind oft mit antibiotikaresistenten Keimen verseucht, und häufig bringt das Abwasser so viele Nährstoffe ins Wasser, dass sich sauerstoffarme Todeszonen ausbilden.

Im Juni 2022 warnten hochrangige britische Gesundheitspolitiker vor einer »inakzeptablen Schadstoffbelastung« in englischen Binnen- und Küstengewässern. Der Gehalt an Kolibakterien etwa sei eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit. Neben Hautausschlägen und Magen-Darm-Problemen drohen Badenden noch wesentlich ernstere Gefahren: Im November 2022 veröffentlichte das unabhängige Bureau of Investigative Journalism eine Recherche zur steigenden Belastung der Gewässer mit multiresistenten »Superbugs«, die sich vorrangig durch den unsachgemäßen Einsatz von Antibiotika in Massentierhaltungen entwickeln. Sie gelangen mit dem ungeklärten Abwasser aus Vieh- und Hühnerfarmen in die Umwelt. Auch Antibiotikarückstände und weitere problematische Arzneimittel fanden die Rechercheure.

Überdüngung und Schadstoffe: Das ökologische Desaster

Die trübe Brühe aus den Kanalrohren bedroht auch die aquatischen Lebensgemeinschaften. Fäkalien fluten nährstoffarme Lebensräume mit einem Überangebot organischer Partikel, dessen bakterieller Abbau im Wasser Sauerstoffmangel verursache, erklärt Veronica Edmonds-Brown. Viele Arten von Wirbellosen und Fischen überleben das nicht, die Biodiversität verarme. Zusätzlich schädigen Toxine wie Schwermetalle das Immunsystem der Wassergeschöpfe, reduzieren ihre Fortpflanzungsfähigkeit und verkürzen die Lebensdauer. Ihre Langzeitstudie im Londoner Fluss Pymmes Brook über 37 Jahre zeige deutlich, dass der Fluss im Quellgebiet eine hohe Gewässergüte hat, die sich stromabwärts durch Overflows und fehlerhafte Kanalrohre stetig verschlechtere. Über die Langzeitfolgen vieler Inhaltsstoffe – Medikamentenrückstände etwa oder Mikroplastik – wisse man aktuell noch gar nicht viel, sagt Edmonds-Brown. Dass die Arten- und Biotopvielfalt schwinde, sei aber bereits jetzt zweifelsfrei nachgewiesen.

Fischsterben im Bach | Das Einleiten von Abwässern vergiftet mitunter das Leben in den Bächen, wie hier im Silchester Brook in Hampshire. Auch die »Chalk Streams« sind betroffen: glasklare Gewässer mit außergewöhnlich hoher Artenvielfalt.

Ein besonders bedrohtes aquatisches und fast nur in England vorkommendes Ökosystem sind die Chalk Streams. Diese nährstoffarmen und besonders artenreichen Bäche und Flüsse lösen kalkhaltige Mineralien aus dem Untergrund und fallen saisonal trocken. Seit 2021 stehen die wegen ihrer hohen Biodiversität auch »Englische Regenwälder« genannten Gewässer unter Schutz. Der in Chichester ins Meer mündende kleine Fluss Lavant ist solch ein Chalk Stream. Als die Artenzahl im Lavant in den letzten Jahren sichtbar abnahm, haben Bianca Carr und ihr Team Wasserproben entnommen und das Flussbett per Drohne fotografiert: Von einer Southern-Water-Kläranlage fließe oft ein brauner, stinkender Strom in den Fluss. Wenn der Lavant im Sommer trocken fällt, seien die Abwässer auf dem weißen Kreidebett weithin sichtbar. Solche Dry Spills, also Abwassereinleitungen bei trockenem Wetter und niedrigem Wasserstand, wurden auch aus anderen Regionen gemeldet, sie verursachen eine besonders hohe Keimbelastung und sind illegal.

Pläne gegen die trübe Brühe

Über Jahre hatten die neoliberalen Konservativen im Parlament gegen eine Verschärfung der Wasserrichtlinien und gegen ein Overflow-Verbot votiert. Im Sommer 2021 brach dann erstmals ein multimedialer Shitstorm über die Bremser in Westminster herein. Umweltverbände, wütende Wassersportler, Experten für Gewässerschutz, Gesundheit und Naturschutz forderten mit Nachdruck eine gesetzliche Lösung für mehr Gewässerschutz. Sie erreichten, dass im Herbst 2021 ein neues Umweltschutzgesetz verabschiedet wurde. Außerdem stellte London 5,3 Milliarden Pfund, um bis 2027 Investitionen in den Gewässerschutz zu finanzieren.

Auf dieser Basis untersuchen nun die Behörden umweltrechtliche Verstöße. Die einst zahme Regulierungsbehörde Ofwat bemüht sich, Zähne zu zeigen. Sechs Wasserversorgern, darunter Southern Water, attestierte sie beispielsweise ungenügende Leistungen. Diese Unternehmen müssen zusammen fast 120 Millionen Pfund an ihre Kunden zurückzahlen.

Ob die jüngsten Pläne der nationalen Umweltbehörde allerdings ausreichen, um die Gewässer der Insel auf ein gutes Niveau zu heben, halten Umweltschützer für fraglich. Das schreibt etwa die Gewässerschützerin Ali Morse von den Wildlife Trusts, einer Dachorganisation lokaler Tier- und Umweltschutzverbände. Zwar sehe der Plan vor, bis spätestens 2030 insgesamt 77 Prozent der 4679 Binnen- und Küstengewässer in einen ökologisch gesunden Zustand zu versetzen. Allerdings habe es ähnliche Vorgaben bereits 2009 und dann 2015 gegeben, keine davon wurde umgesetzt. Auch diesmal schätzt die Behörde selbst ihre Erfolgsaussichten bei tausenden Gewässern als gering ein.

Noch schlimmer steht es um die chemische Gewässergüte. Vor allem wegen Belastungen aus der Landwirtschaft trage aktuell kein einziges englisches Bächlein das Label »gesund«, schreibt Morse. Hier erwartet die Behörde für praktisch alle erfassten Gewässer erst im Jahr 2063 einen »guten« Zustand.

Sit-in vor Downing Street Nummer 10 | Der Aktivist Steve Bray demonstriert am 26. Oktober 2021 vor dem Sitz der britischen Regierung in London gegen die Pläne, den Wasserversorgern weiterhin das Einleiten ihrer Abwässer zu erlauben.

Veronica Edmonds-Brown fordert eine schnelle Erneuerung der Infrastruktur, auch müssten sukzessive Abwasser und Regenwasser getrennte Wege gehen. In London arbeitet der Konzern Thames Water beispielsweise unter dem Projektnamen Tideway an einem gigantischen Tunnel unterhalb der Themse, der die Mischwasserabflüsse abfängt und zu einer dann hoffentlich ausreichend dimensionierten Kläranlage im Osten der Stadt schafft.

Am mutmaßlichen Grundproblem der Abwassermisere Großbritanniens rütteln derzeit aber weder Behörden noch die Tory-Regierung in London: die privatwirtschaftliche Organisation der Wasserkonzerne. Im Frühjahr 2022 zahlten die Firmen trotz roter Zahlen fast eine Milliarde Britische Pfund Dividende an ihre Anteilseigner. Und dabei handelt es sich, wie der »Guardian« kürzlich herausarbeitete, zu 70 Prozent um Investmentfirmen aus Übersee. Ungefähr genauso hoch, nämlich 67 Prozent, ist der Anteil der Briten, der laut einer Umfrage von YouGov die Wasserversorgung am liebsten wieder in staatlichen Händen sähe.

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