Abelpreis 2025: Kashiwaras neuer mathematischer Blick auf die Welt

Eines der Wahrzeichen von Kyoto, der Heimat des Mathematikers Masaki Kashiwara, ist der Fluss Kamo. An bestimmten Stellen ermöglichen es Trittsteine den Bewohnern, den Fluss auch abseits der Brücken zu überqueren. Um die Steine herum bildet das Wasser Verwirbelungen und kleine Strudel. Um solche Verläufe einer Flüssigkeit zu beschreiben, muss man komplizierte Gleichungen heranziehen. Sie sind zwar seit Jahrhunderten bekannt, aber hüten bis heute viele Rätsel: Haben die Gleichungen immer eine Lösung? Wie lassen sich diese berechnen, und welche Eigenschaften haben sie? Mathematikerinnen und Mathematiker kamen hier lange nicht weiter. Erst in den 1970er Jahren half ihnen Masaki Kashiwara dabei, diese Grenze zu überwinden. Er legte ihnen die Trittsteine in ein völlig neues Teilgebiet der Mathematik aus.
Kashiwara führte bewährte Methoden aus der Algebra in die Analysis ein und begründete so mit seinen Kollegen die »algebraische Analysis«. Diese brachte ungeahnte Fortschritte in verschiedenen Bereichen: Damit gelang es Kashiwara beispielsweise, eines der von David Hilbert geäußerten Jahrhundertprobleme zu lösen sowie neue Techniken hervorzubringen, die nun in der modernen Physik Anwendung finden. »Er hat erstaunliche Theoreme mit Methoden bewiesen, die sich niemand hätte vorstellen können. Er war ein wahrer mathematischer Visionär«, heißt es in der Pressemitteilung der Norwegischen Akademie der Wissenschaften, die Kashiwara 2025 mit dem Abelpreis ehrt, einer der höchsten Auszeichnungen der Mathematik.
Masaki Kashiwara wurde im Jahr 1947 in der Nähe von Tokio geboren. Schon früh entdeckte er durch traditionelle japanische Rätsel, die »Tsurukamezan«, seine Leidenschaft für Mathematik. Bei diesen Rätseln geht es darum, die Anzahl an Kranichen und Schildkröten zu berechnen: »Angenommen, es sind x Köpfe und y Beine sichtbar. Wie viele Kraniche und Schildkröten gibt es dann?« Kashiwaras Eltern hatten nicht viele Berührungspunkte mit dem abstrakten Fach; doch der junge Masaki fand Gefallen daran, diese Aufgabe mit algebraischen Methoden zu lösen.
Tsurukamezan
Jeder Kranich hat zwei Beine y, jede Schildkröte vier – und beide haben je einen Kopf x. Um die Anzahl k der Kraniche und s der Schildkröten zu berechnen, muss man also folgende Gleichungen lösen: 2k + 4s = y und k + s = x. Sind beispielsweise 16 Beine und 5 Köpfe sichtbar, dann muss es entsprechend zwei Kraniche und drei Schildkröten geben.
Kashiwara erkannte, dass er Spaß daran hatte, solche Fragestellungen zu verallgemeinern. In der Schule stach er mit seinen Leistungen heraus. Als er an der Universität von Tokio den Mathematiker Mikio Sato kennen lernte, verschrieb er sich voll und ganz dem abstrakten Fach. Kashiwara war zur richtigen Zeit am richtigen Ort: Damals entwickelten Sato und seine Kollegen ein völlig neues mathematisches Teilgebiet, das zwei unterschiedliche Bereiche miteinander verbindet: die Analysis und die Algebra.
Nichts steht still
In unserer Welt ist alles in Bewegung; nichts steht dauerhaft still. Selbst ein riesiges Gebirge wächst oder schrumpft im Lauf der Zeit. Solche Veränderungen lassen sich durch die Sprache der Mathematik mit Hilfe von Ableitungen ausdrücken. Die gesamte Physik fußt auf Gleichungen, die Ableitungen enthalten, so genannten Differenzialgleichungen. Mit diesen lässt sich sowohl die Population von Lebewesen beschreiben als auch die Bahnkurve des Mondes oder die Fließgeschwindigkeit des Kamo-Flusses.
Differenzialgleichungen lassen sich schnell aufschreiben. Deutlich schwieriger ist es, sie zu lösen. In einigen Spezialfällen sind die Lösungen bekannt – in anderen ist hingegen nicht einmal klar, ob es überhaupt welche gibt. So dreht sich eines der wichtigsten offenen Probleme der Mathematik um die Frage, ob die Navier-Stokes-Gleichungen, die das Fließverhalten beschreiben, stets eine Lösung besitzen. Trotz jahrhundertelanger Forschung auf dem Gebiet der Analysis sind viele der drängendsten Rätsel noch unbeantwortet.
Steckt man bei einer Aufgabe fest, hilft es manchmal, sie aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Oft ist es hilfreich, zurückzutreten und das Problem aus einer gewissen Distanz anzuschauen. In diesem Fall verschwimmen zwar die genauen Details, aber die grobe Struktur der Thematik wird sichtbar. Diese Vorgehensweise ist nicht nur im Alltag hilfreich, sondern kann auch in der Mathematik nützlich sein.
Einen ähnlichen Ansatz verfolgte die japanische Forschungsgruppe unter der Leitung von Sato. Die Wissenschaftler wollten Differenzialgleichungen aus einer anderen Perspektive betrachten. Dafür verließen sie den Bereich der Analysis und wandten sich stattdessen der Algebra zu. Diese ist in der Regel viel abstrakter: In der Algebra stehen nicht unbedingt die mathematischen Objekte – also in diesem Fall die Gleichungen und die Ableitungen – im Fokus, sondern ihr Verhalten. So, wie man in der Physik ein neues Teilchen untersucht, indem man seine Wechselwirkungen mit anderen Partikeln studiert, sollte auch das Zusammenspiel verschiedener Gleichungen neue Erkenntnisse offenbaren. Das ist die Idee der algebraischen Analysis.
Anstatt also eine bestimmte Differenzialgleichung herauszupicken und sie im Detail zu untersuchen, widmeten sich Sato und seine Kollegen gleich einer ganzen Klasse davon. Zudem ließen sie zu, dass sich die Differenzialgleichungen nicht nur auf einer Ebene bewegen, sondern auch auf gekrümmten Oberflächen – so, als wolle man einen Fluss auf einen seltsam geformten Planeten beschreiben. Diese Herangehensweise mag ziemlich kompliziert erscheinen, doch tatsächlich eröffnet sie völlig neue Möglichkeiten. Denn dadurch lassen sich allgemeine Eigenschaften für die betrachtete Klasse an Differenzialgleichungen ableiten, die für einzelne Gleichungen nicht ersichtlich sind.
Ende der 1960er Jahre veranstaltete Sato ein wöchentlich stattfindendes Seminar, bei dem die Teilnehmenden gemeinsam die Konzepte der neuen Theorie erarbeiteten. Zwischen all den Fachleuten fand sich der junge Student Kashiwara, der sich eifrig daran beteiligte.
Mit D-Modulen auf die Überholspur
Im Jahr 1970 begann Kashiwara seine Masterarbeit bei Sato. Seine Aufgabe bestand darin, algebraische Werkzeuge zu entwickeln, mit denen sich Objekte aus der Analysis untersuchen lassen. Dabei führte der damals erst 23-jährige Student so genannte D-Module ein. Mit ihrer Hilfe kann man Differenzialgleichungen wertvolle Informationen entlocken. Mit D-Modulen lässt sich beispielsweise ermitteln, ob die Lösungen der Gleichungen »Singularitäten« bergen – also ob es Bereiche gibt, in denen sie unendliche Werte annehmen. Zudem kann man mit den Modulen berechnen, wie viele Lösungen die Gleichungen besitzen.
Die Ergebnisse aus Kashiwaras Masterarbeit prägten das neu aufkommende Gebiet der algebraischen Analysis. Allerdings hatte er seine Untersuchungen auf Japanisch verfasst. Es dauerte ganze 25 Jahre, bis sie auf Englisch übersetzt und so einem größeren Publikum zugänglich wurden.
Nach seinem Abschluss ging Kashiwara an die Universität in Kyoto, wo er seine Zusammenarbeit mit Sato fortsetzte und promovierte. Dabei entwickelte er die neuen Methoden weiter, die er in seiner Masterarbeit begründet hatte. »Von 1970 bis 1980 löste Kashiwara fast alle grundlegenden Fragen der D-Modul-Theorie«, erinnerte sich sein französischer Kollege Pierre Schapira in einer 2007 erschienenen Veröffentlichung. Nach seiner Promotion nahm Kashiwara eine Stelle an der Universität Nagoya an, forschte ein Jahr lang am Massachusetts Intitute of Technology in den USA und kehrte 1978 nach Japan zurück, um eine Professur an der Universität in Kyoto anzutreten.
Mit Gleichungen auf gekrümmten Räumen zu hantieren, ist kompliziert. Doch auch hier ist die Algebra nützlich. Durch sie lassen sich die Berechnungen zunächst auf einen Punkt in einen flachen Raum verfrachten – und die Lösung dann Punkt für Punkt auf der gekrümmten Oberfläche verschieben. Möglich machen das so genannte Garben. Kashiwara hat im Lauf seiner Karriere das Gebiet der Garbentheorie maßgeblich weiterentwickelt und auf das Gebiet der Analysis erweitert. Die wichtigsten Erkenntnisse haben er und sein französischer Kollege Pierre Schapiro im Werk »Sheaves on Manifolds« veröffentlicht.
Garben ermöglichen es, auf gekrümmten Räumen zu rechnen. Möchte man zum Beispiel untersuchen, wie sich ein Ball auf einer großen Kugel bewegt, dann betrachtet man auf der Kugel meist eine kleine Umgebung des Balls, die man annähernd als flach ansehen kann. In dieser Ebene kann man dann die gewohnten Bewegungsgleichungen lösen. Wenn sich der Ball weiterbewegt, muss man wissen, wie man die Ebene auf der Kugel verschiebt – genau das geben Garben vor.
Mit Hilfe der D-Module löste Kashiwara 1980 eines der wichtigsten Probleme des Fachs, das David Hilbert in seiner berühmt gewordenen Jahrhundertrede im Jahr 1900 auf dem Internationalen Mathematikerkongress in Paris vorgestellt hatte. Unter den 23 Aufgaben, die Hilbert als richtungsweisend für die Forschung des 20. Jahrhunderts erachtete, beschäftigt sich das 21. Problem mit Differenzialgleichungen. Und zwar wollte der deutsche Mathematiker wissen, ob sich stets eine Differenzialgleichung finden lässt, deren Lösung Singularitäten auf einer vorgegebenen gekrümmten Oberfläche besitzt. Kashiwara konnte beweisen, dass das für bestimmte Arten von Oberflächen durchaus möglich ist. In diesen Fällen lässt sich eine passende Differenzialgleichung berechnen.
D-Module haben in vielen verschiedenen Bereichen der Mathematik zu Fortschritten geführt. Aber auch in der Physik erweisen sie sich inzwischen als hilfreich. So haben im Jahr 2023 Fachleute um die Mathematikerin Anna-Laura Sattelberger vom Leipziger Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften D-Module verwendet, um quantenphysikalische »Feynman-Integrale« auszuwerten. Mit diesen kann man berechnen, welche Prozesse in Teilchenbeschleunigern stattfinden, etwa wenn zwei Protonen zusammenknallen und dabei lauter neue Teilchen entstehen. Die überaus komplizierten Integrale lassen sich als Lösungen von Differenzialgleichungen auffassen, weshalb die Methoden der algebraischen Analysis dabei helfen können, deren Eigenschaften zu bestimmen.
Von Symmetrien und Quantengruppen
Kashiwara hat auch andere Bereiche der Mathematik maßgeblich geprägt. Eines davon ist die Darstellungstheorie, die verwendet wird, um Symmetrien zu beschreiben. Ein Objekt gilt als symmetrisch, wenn es nach gewissen Transformationen (etwa Drehungen oder Spiegelungen) gleich aussieht. Ein gleichseitiges Dreieck lässt sich beispielsweise um Vielfache von 120 Grad rotieren, ohne seine Gestalt zu verändern. Die Darstellungstheorie ermöglicht es Fachleuten, mit Symmetrietransformationen zu rechnen: Was passiert zum Beispiel, wenn man eine Drehung um 270 Grad mit einer Spiegelung entlang der y-Achse verbindet? Solche Fragen kann man besonders gut beantworten, wenn man die Symmetrietransformationen durch Matrizen darstellt. Die Kombination von Transformationen entspricht der Multiplikation der zugehörigen Matrizen.
Gruppentheorie für Einsteiger
Am einfachsten lässt sich eine Gruppe als Menge von Symmetrietransformationen veranschaulichen. Rotiert man beispielsweise ein gleichseitiges Dreieck um 120°, ändert sich dessen Form nicht. Ein solches Dreieck kann um insgesamt drei Winkel gedreht werden (0°, 120° und 240°). Jede dieser Drehungen ist eine Symmetrietransformation. Zusammen bilden sie eine endliche Gruppe.
Neben den Drehungen kann das Dreieck auch entlang seiner Mittelachse gespiegelt werden. Die genannten Drehungen und Spiegelungen bilden jeweils für sich »Untergruppen« der gesamten Symmetriegruppe des Dreiecks.
Streng genommen ist eine Gruppe aber abstrakter definiert. Sie definiert eine Menge, deren Elemente gewissen Regeln genügen: Die Verknüpfung zweier Elemente (etwa die Hintereinanderausführung zweier Drehungen) muss wieder ein Gruppenelement ergeben. Jede Gruppe enthält zudem ein »neutrales Element«, das jedes andere unverändert lässt, wie etwa die Multiplikation mit eins oder die Addition mit null. Darüber hinaus muss jedes Element auch ein Gegenstück (»inverses Element«) besitzen, so dass die Verknüpfung beider wieder das neutrale erzeugt – zum Beispiel muss man jede Drehung auch in umgekehrter Richtung ausführen können.
Was genau die Elemente der Gruppe sind, spielt dabei keine Rolle. Es kann sich um Symmetrietransformationen wie Drehungen und Spiegelungen handeln, aber auch um Zahlen. So bilden etwa die rationalen Zahlen (ohne die Null) mit der Multiplikation eine Gruppe: Die Verknüpfung (das Produkt) zweier rationaler Zahlen liefert stets ein rationales Ergebnis; das neutrale Element ist die Eins und das inverse Element der Kehrwert einer Zahl.
Allerdings lassen sich nicht für alle Arten von Symmetrien passende Darstellungen finden. Kashiwara hat sich im Zuge seiner Arbeit viel mit kontinuierlichen Symmetrien beschäftigt, die in der Mathematik als Lie-Gruppen bezeichnet werden. Für diese sind zwar Darstellungen bekannt, doch durch die D-Module konnte er sie in einem neuen Licht darstellen und so neue Erkenntnisse gewinnen.
Darüber hinaus beschäftigte er sich mit Symmetrien, die nicht kontinuierlich sind. Solche diskreten »Quantengruppen« tauchen in der Quantenphysik auf. Denn auf mikroskopischer Ebene treten die meisten Größen nur noch häppchenweise auf; die Welt scheint auf kleinster Skala gequantelt. Um auch die Symmetrien von gequantelten Größen zu beschreiben, hat Kashiwara das Konzept der Kristallbasen eingeführt. Durch sie lassen sich die Quantengruppen durch gerichtete Netzwerke darstellen. Das bringt viele Vorteile: So können Fragen der Darstellungstheorie durch kombinatorische Überlegungen beantwortet werden, was in der Regel deutlich einfacher ist. Diese Konzepte haben sich inzwischen sowohl in der Mathematik als auch der Physik bewährt.
»Seit mehr als 50 Jahren hat Kashiwara die Bereiche der Darstellungstheorie und der algebraischen Analysis neu gestaltet und bereichert«, schreibt das Abel-Komitee. Für all diese beeindruckenden Forschungsarbeiten wurde der Mathematiker bereits mit zahlreichen Preisen geehrt. Die diesjährige Auszeichnung mit dem Abelpreis, der das Lebenswerk eines Mathematikers würdigt, markiert hierbei einen vorläufigen Höhepunkt. Der Abelpreis wurde nach dem Vorbild der Nobelpreise geschaffen, die keine Mathematik umfassen. Er ist mit einem Preisgeld von 7,5 Millionen norwegischen Kronen (umgerechnet etwa 660 000 Euro) dotiert. An einen Ruhestand scheint der 78-Jährige aber nicht zu denken: Er veröffentlicht noch immer regelmäßig neue Forschungsergebnisse und versucht, die Mathematik mit neuen Trittsteinen zu bereichern.
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