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Archäologie: Massaker am Markttag

Die kleine Stadt quoll über vor Waren und Tieren, doch die Angreifer hatten es auf Vernichtung angelegt. Die Spuren des verheerenden Gemetzels finden sich noch heute in der Erde.
Amputierter Unterarmknochen mit Armschmuck

Noch Jahrtausende nachdem sie niedergemetzelt worden waren, lagen die Überreste der Toten in den Straßen und den Häusern ihres Dorfs. Und ein Gemetzel war es in der Tat, was in der Eisenzeit auf dem Gelände der nordspanischen Ausgrabungsstätte La Hoya geschah. Ein gutes Dutzend der Dorfbewohner wurde mitsamt seinen Tieren erschlagen, erstochen, verstümmelt – Männer, Frauen und Kinder. Einen der Männer stach ein Angreifer wohl von hinten nieder, einem anderen wurde der Kopf abgehackt, wieder einem anderen ein Arm. Das gleiche grausame Schicksal ereilte eine Frau, deren übriges Skelett fast drei Meter von den Knochen ihres rechten Arms entfernt gefunden wurde. Offenbar hatte sie noch im Todeskampf versucht zu entkommen.

Entdeckt wurde der Ort ihres schrecklichen Todes, La Hoya im fruchtbaren Tal des Ebro, bereits 1935. Erste Ausgrabungen an der Stätte in der zum spanischen Baskenland gehörenden Provinz Álava gab es jedoch erst zwischen 1973 und 1990. Bis heute sind keine 16 Prozent des insgesamt etwa vier Hektar umfassenden Areals erforscht. Aktuell finden keine Grabungen statt, und es scheinen auch in naher Zukunft keine geplant. Dennoch konnten Archäologen bereits einige Erkenntnisse gewinnen. Die frühesten Spuren der Besiedlung La Hoyas stammen aus dem 15. Jahrhundert v. Chr. und damit aus der Bronzezeit. Seine größte Ausdehnung erreichte der Ort während der Eisenzeit zwischen 350 und 200 v. Chr., als die Region vom keltiberischen Stamm der Beronen bevölkert wurde. Zu jener Zeit, in der auch der brutale Überfall stattfand, hatte das Dorf fast schon urbane Dimensionen angenommen: An bis zu fünfeinhalb Meter breiten, gepflasterten und von Gehwegen gesäumten Straßen und öffentlichen Plätzen standen mehr als 300 Gebäude, in denen sich neben Wohnräumen auch Läden und Gemeinschaftseinrichtungen für die geschätzt 1500 Einwohner befanden.

Die ungewöhnlich geschundenen und verstümmelten Skelette der Dorfbewohner waren den Archäologen bereits während der Ausgrabungsarbeiten aufgefallen. Doch erst jetzt hat ein spanisch-britisches Team unter der Leitung der Archäologin Teresa Fernández-Crespo von der University of Oxford die menschlichen Überreste einer gründlichen Knochenanalyse unterzogen. Insgesamt standen den Wissenschaftlern 13 teils komplette, teils nur in Fragmenten erhaltene Skelette zur Verfügung, die auf dem bislang erforschten Gelände zu Tage gefördert worden waren. Dabei handelte es sich um die Knochen von neun Erwachsenen beiderlei Geschlechts, zwei Jugendlichen, eines etwa dreijährigen Kindes sowie eines nur sechs Monate alten Säuglings.

Überraschungsangriff am Markttag

Keiner dieser Menschen war nach dem Tod bewegt oder gar bestattet worden. Sie lagen verstreut in den Gassen und Häusern des Dorfs – dort, wo sie gestorben waren. Abgesehen vom Säugling zeigten alle sechs Skelette, die mehr oder weniger komplett erhalten sind, die Spuren diverser Hieb- und Stichwunden sowie Verstümmelungen. Auf die übrigen Individuen schlossen die Wissenschaftler aus einem einzelnen Schädel sowie lediglich einzeln aufgefundenen Knochen, die keinem der anderen Skelette zugeordnet werden konnten und allesamt keine Hinweise auf etwaige Verletzungen lieferten – was freilich nicht bedeutet, dass die Menschen nicht ebenfalls erschlagen wurden.

Das Ausgrabungsgelände aus der Luft | In La Hoya wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegraben.

Da sich an keinem der Opfer typische Abwehrverletzungen etwa an den Unterarmknochen fanden, gehen die Archäologen von einem Überfall aus dem Nichts aus, zumal mehrere der Opfer von hinten niedergeschlagen worden waren – möglicherweise auf der Flucht. »Die archäologischen und osteologischen Daten stützen die Hypothese eines Überraschungsangriffs, der in der unterschiedslosen und brutalen Tötung von wehrlosen Menschen gipfelte«, schreiben die Forscher in ihrer Studie, die sie kürzlich in dem von der Cambridge University Press veröffentlichten Fachjournal »Antiquity« vorstellten.

Es habe sich wohl um einen Racheakt gehandelt, keinesfalls aber um einen Raubzug, meinen die Forscher. Auch wenn es freilich in der Natur der Sache liegt, dass sich die Ursachen eines Massakers nach über 2300 Jahren nicht mehr wirklich erkennen lassen. Doch aus dem allgemeinen Fundzusammenhang konnten die Archäologen immerhin einige verblüffende Schlüsse ziehen.

Offensichtlich ist es bei dem Kampf nicht um Vorräte oder andere Beute gegangen. Körbe voll gerade erst geerntetem Korn, an den Füßen zusammengebundenes Vieh, diverses Handwerkszeug sowie Töpferwaren und weitere Gegenstände – all das ließen die Angreifer einfach stehen und liegen. Das Vorhandensein von derart vielen und anscheinend zum Zeitpunkt des Überfalls frischen Lebensmitteln sei ein Hinweis darauf, dass das Massaker »an einem Markttag im Spätsommer oder am Herbstanfang« stattgefunden habe. Möglicherweise, so meinen die Forscher weiter, sei der Angriff ganz bewusst auf einen Markttag gelegt worden, um eine möglichst große Zahl potenzieller Opfer vorzufinden und so »die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen der Beronen über den unmittelbaren Ort hinaus zu erschüttern«.

Viele Opfer wiesen Verletzungen auf | Allerdings kaum solche, die bei der Abwehr von Schlägen entstehen. Womöglich waren die Bewohner des Ortes in Panik geflüchtet.

Dafür spricht ebenfalls, dass die Aggressoren offenbar die gesamte Siedlung in Brand setzten. »Wir schließen daraus, dass die Angreifer die völlige Zerstörung La Hoyas zum Ziel hatten«, meint Fernández-Crespo.

Genau dies scheint ihnen gelungen zu sein. Es gibt an dem Ort keine Spuren, die darauf hinweisen würden, dass er nach dem Überfall noch bewohnt war. Niemand kam zurück, um die Toten zu bergen und zu bestatten, oder auch nur, um sich Vorräte und Werkzeuge zu beschaffen. Dies legt nach Meinung der Archäologen den Schluss nahe, »dass viele der Einwohner getötet oder verschleppt wurden oder aber flohen und dass sie entweder nicht heimkehren wollten oder konnten«.

Eine florierende Ortschaft

Die Lage im Ebrotal, in dem sich die Handelswege aus dem Kantabrischen Gebirge im Norden und dem zentralen Hochland im Süden sowie von den Küsten des Atlantiks und des Mittelmeers kreuzten, hatte La Hoya beträchtlichen wirtschaftlichen und politischen Aufschwung beschert. Zwar zählt die Ortschaft unter Archäologen auch heute nicht zu den bedeutendsten Siedlungen der Beronen, doch dürfte die privilegierte Lage des Dorfs »den Durchzug von Menschen, Waren und Ideen begünstigt haben«, merkt das Forscherteam an.

Bereits in der Steinzeit durchstreiften ungewöhnlich viele Menschen die fruchtbare Region, worauf unter anderem die zahlreichen Dolmen hinweisen, die hier gefunden wurden – allein in der Provinz Álava entdeckten Archäologen 85 dieser steinzeitlichen Begräbnisstätten. Anhaltspunkte dafür, dass das Dorf besonders während der keltiberischen Eisenzeit florierte, haben Fernández-Crespo und ihr Team schon in ihrer vorangegangenen Studie von 2019 veröffentlicht. Dabei untersuchten sie ebenfalls die Knochen der Erschlagenen sowie jene von sechs Säuglingen, die kurz nach der Geburt verstorben und innerhalb der Wohnhäuser begraben und nicht, wie damals üblich, verbrannt und in Urnengräbern außerhalb der Siedlung bestattet worden waren. Für diese Studie analysierten die Forscher den Anteil stabiler Kohlenstoff- und Stickstoffisotope in den Knochenfunden, um daraus Rückschlüsse auf die Ernährung der Bewohner von La Hoya zu ziehen. Allem Anschein nach, so stellten die Wissenschaftler fest, ernährten sich die Beronen durchaus abwechslungsreich: Neben Körnern von domestiziertem Getreide wie Weizen, Gerste und Hirse kamen Pilze, Knollen und Nüsse auf den Tisch. Ihren Fleischbedarf deckten die Bewohner La Hoyas vornehmlich mit Schweinen sowie mit Rindern und Ziegen, die zudem Milch und Milchprodukte lieferten. Die offensichtlich üppigen Vorräte hätten also zu einem Beutezug animieren können – und doch war der Überfall reine Zerstörung.

Fundlage der Toten | Die Ausgräber fanden die Opfer an verschiedenen Stellen in den Straßen der Ortschaft. Nach der Attacke war offenbar niemand gekommen, um die Toten zu bergen.

Nur wenige Jahrzehnte, vielleicht sogar nur wenige Jahre nach der Zerstörung und der Aufgabe La Hoyas betraten erstmals römische Legionen die Iberische Halbinsel. Ab 218 v. Chr. war sie einer der Schauplätze des Zweiten Punischen Kriegs, in dem auch zahlreiche Keltiberer an der Seite der Römer gegen die Karthager kämpften. Als dieser 206 v. Chr. zu Gunsten der aufstrebenden Macht am Tiber entschieden war, begannen römische Feldherren mit der endgültigen Eroberung Hispaniens, die allerdings erst 60 v. Chr. von Julius Cäsar abgeschlossen wurde. Bereits die antiken Autoren sind sich darüber einig, dass sich die diversen Kriegszüge der ohnehin nicht als zimperlich geltenden Römer gegen die Keltiberer durch besondere Härte und Brutalität auszeichneten. Das Massaker von La Hoya legt freilich nahe, dass entfesselte Gewalt nicht erst mit den Römern zu einem Element der Kriegsführung auf der Iberischen Halbinsel wurde.

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