Gewalttaten: Wann kommt ein psychisch kranker Straftäter wieder frei?

Herr C. kommt als Jugendlicher aus Ostafrika nach Deutschland. Er macht seinen Hauptschulabschluss. Doch er beginnt, Drogen zu nehmen. Er erkrankt an einer Schizophrenie, hört Stimmen und leidet unter Wahnvorstellungen. In diesem Zustand versucht er, seine Freundin zu töten. Ein Gericht weist ihn in eine psychiatrische Klinik des Maßregelvollzugs ein. Dort wird er behandelt und ist nach einiger Zeit weitgehend symptomfrei. Nach viereinhalb Jahren wird die Unterbringung zur Bewährung ausgesetzt. Schon bald aber nimmt er seine Medikamente nur noch unregelmäßig und entwickelt erneut eine Psychose. Ein Jahr nach der bedingten Entlassung versucht er wieder, einen Menschen zu töten.
Fälle wie dieser erregen in der Öffentlichkeit viel Aufmerksamkeit. Doch sie sind selten. »Es handelt sich um eine relativ kleine Gruppe, die im Justizsystem eine eher geringe Rolle spielt«, sagt Hans-Ludwig Kröber, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Gutachter am Zentrum für Forensisch-Psychiatrische Begutachtung (ZFPB) in Berlin. »Patienten, die aus dem Maßregelvollzug entlassen werden, werden relativ selten wieder straffällig und begehen fast keine schweren Straftaten mehr.«
Laut einer Langzeitstudie von 2018 wurden unter 321 Entlassenen rund 13 Prozent im Untersuchungszeitraum von 16,5 Jahren mit erneuten Gewalt- oder Sexualstraftaten rückfällig. Es handelte sich dabei vor allem um Menschen mit Psychosen und Persönlichkeitsstörungen. »Wirklich gefährliche Taten wie Tötungs- und Körperverletzungsdelikte wurden 16-mal, also in weniger als fünf Prozent der Fälle verübt«, erläutert Kröber. Zählt man kleinere Delikte hinzu, kamen 16 Prozent erneut in freiheitsentziehende Maßnahmen. Diese Zahlen sind deutlich niedriger als nach Entlassung aus dem Gefängnis.
»Patienten, die aus dem Maßregelvollzug entlassen werden, werden relativ selten wieder straffällig«Hans-Ludwig Kröber, Psychiater
Der Maßregelvollzug – eine geschlossene forensische Psychiatrie – ist eine Alternative zum Gefängnis. Hier werden straffällige Menschen wie C. untergebracht, die psychisch krank sind und nach Einschätzung des Gerichts das Unrecht ihrer Tat nicht erkennen konnten. Das können Menschen sein, die während der Tat psychotisch waren, das heißt unter Wahnvorstellungen oder Halluzinationen litten und daher den Kontakt zur Realität verloren hatten. Dazu zählen aber auch Täter mit Persönlichkeitsstörungen oder verminderter Intelligenz, die aus diesen Gründen nicht oder vermindert schuldfähig waren und auch weiterhin gefährlich sein könnten. Im Unterschied zum Gefängnis erhalten sie im Maßregelvollzug regulär auf sie zugeschnittene Therapien mit dem Ziel, dass sie eines Tages wieder in Freiheit leben können, ohne andere zu gefährden.
Suchtkranke Menschen, die zur Tatzeit nicht oder nur bedingt schuldfähig waren, werden in Deutschland auf zwei Jahre befristet in einer Suchtklinik untergebracht; ihr Fall wird alle sechs Monate überprüft. Die meisten werden zusätzlich zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und nach zwei Jahren oder bei erfolgloser Behandlung in den Strafvollzug verlegt.
Bei anderen psychischen Erkrankungen läuft die Unterbringung zeitlich unbefristet. »Im Maßregelvollzug muss einmal im Jahr geprüft werden, ob der Untergebrachte weiterhin eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellt oder ob eine Entlassung möglich ist. Dazu erstellen Therapeuten und Ärzte einen ausführlichen Behandlungsbericht«, erläutert Kröber, der bis 2016 das Institut für Forensische Psychiatrie der Berliner Charité leitete. »Alle drei Jahre ist ein externes psychologisch-psychiatrisches Gutachten erforderlich. Über die Entlassung wird nach einer Anhörung vor Gericht entschieden, bei der der Patient, der Gutachter und ein Klinikvertreter anwesend sind.« Sie müssen einschätzen, ob die Gefährlichkeit, die sich in der Tat gezeigt hat, fortbesteht.
Um das zu beurteilen, sammeln und bewerten die Fachleute eine Vielzahl von Informationen. »In den Stellungnahmen und den Gutachten geht es darum, sich ein möglichst genaues Bild des Patienten zu machen: von seiner Lebensgeschichte und Persönlichkeit, den Motiven und Umständen seiner Tat, der psychischen Erkrankung und günstigen oder ungünstigen Entwicklungen während der Zeit des Freiheitsentzugs«, erklärt Kröber. »Bei Gutachten werden häufig auch standardisierte Merkmalslisten eingesetzt, um Risikofaktoren für erneute Straftaten zu bewerten.«
Zu diesen Risikofaktoren zählen zum Beispiel Verhaltensauffälligkeiten in der Kindheit und Jugend, ein jüngeres Alter bei der ersten Straftat, der Missbrauch von Alkohol oder Drogen und ein häufiger Wechsel von Wohnort und Arbeitsplatz. Wichtig für die Prognose ist außerdem, dass eine ambulante Nachsorge sichergestellt ist und dass das soziale Umfeld, in das jemand zurückkehrt, als günstig eingeschätzt wird – ob es etwa eine regelmäßige Beschäftigung und stabile Beziehungen gibt. Auch ein stabiler psychischer Zustand, die regelmäßige Einnahme von Medikamenten und eine gute Mitarbeit bei der Behandlung verbessern die Prognose. Ein höheres Alter spricht ebenfalls gegen einen Rückfall.
Gute Nachsorge mindert das Rückfallrisiko
Bereits während der Behandlungszeit sind bei günstigem Verlauf schrittweise Lockerungen möglich: Der Patient darf die Klinik für eine festgelegte Zeit zunächst in Begleitung und später auch allein verlassen. Schätzt das Gericht die Prognose günstig ein, setzt es die Unterbringung zur Bewährung aus. Die Betroffenen stehen nun unter Führungsaufsicht und können Weisungen erhalten, an die sie sich halten müssen. Viele ehemalige Maßregelpatienten haben schwere chronische psychische Erkrankungen und brauchen langfristig Hilfe. Eine Fachambulanz muss sie umfassend betreuen, das heißt je nach Bedarf für betreutes Wohnen, einen Arbeitsplatz in Werkstätten oder Unterstützung bei der Freizeitgestaltung sorgen.
»Eine gute Nachsorge ist sehr wichtig, weil sie das Rückfallrisiko in die Delinquenz deutlich reduzieren kann«, betont Kröber. Die Nachbetreuung sei bundesweit relativ gut geregelt, so der Experte. Nur an Wohnmöglichkeiten fehle es vielerorts. Ziel der Nachsorge ist, die Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu fördern, zugleich aber ungünstige Entwicklungen früh zu erkennen und rechtzeitig gegenzusteuern. Begeht jemand in der Bewährungszeit neue Straftaten oder verstößt gegen Weisungen, kann die Bewährung widerrufen werden. Ist das nicht der Fall, endet die Bewährungszeit nach der festgelegten Frist.
Insgesamt ist die Zahl der Patienten im Maßregelvollzug seit den 2000er Jahren deutlich gestiegen. Auch die Verweildauern sind länger geworden. 2021 waren in 78 Kliniken mehr als 13 000 Patienten im deutschen Maßregelvollzug untergebracht. Mehr als jeder vierte muss länger als zehn Jahre bleiben. »Das hat auch mit einem gestiegenen Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft zu tun«, sagt Kröber. »Das wirkt sich auf Gutachter und Gerichte aus, so dass sie eher vorsichtig entscheiden.« Er hält es für wichtig, individuelle Faktoren, die für ein geringes Rückfallrisiko sprechen, stärker zu berücksichtigten.
Entscheidung über vorzeitige Entlassung
Psychische Erkrankungen sind auch ein Thema bei Tätern, die ihre Strafe im Strafvollzug verbüßen. »Dieser Aspekt fließt in die Entscheidungen für eine vorzeitige Entlassung ein«, erläutert Kröber. »Dabei wird geprüft, ob die Erkrankung jemanden gefährlicher oder weniger gefährlich macht oder keinen Einfluss auf das Risiko für erneute Straftaten hat.«
So kommt im Strafvollzug in vielen Fällen eine vorzeitige Entlassung in Betracht: normalerweise nach zwei Dritteln, bei Ersttätern bereits nach der Hälfte der Strafzeit. »Bei schweren Straftaten braucht das Gericht dafür eine ausführliche Stellungnahme von Fachkräften der Justizvollzugsanstalt«, sagt Kröber. Ein externes Gutachten ist nur bei Entlassung aus einer lebenslangen Freiheitsstrafe vorgeschrieben. »Allerdings fordert das Gericht solche Gutachten inzwischen häufig auch für andere Straftäter an, die als gefährlich gelten, wenn es über Lockerungen oder eine Entlassung entscheiden muss«, berichtet der Psychiater. In der Sicherungsverwahrung ist das Prozedere ähnlich wie im Maßregelvollzug. In diesen Fällen müssen Mitarbeitende der Justizvollzugsanstalten einmal pro Jahr schriftlich zu einer möglichen Entlassung Stellung nehmen.
Bei positiver Prognose werden Sicherungsverwahrte wie Häftlinge im Strafvollzug auf Bewährung entlassen und von einem Bewährungshelfer betreut. Das Gericht kann Weisungen erteilen, zum Beispiel, sich regelmäßig beim Bewährungshelfer oder einer Behörde zu melden, eine Therapie zu machen oder sich von bestimmten Menschen oder Orten fernzuhalten. Therapieangebote für entlassene Strafgefangene seien jedoch bisher noch unzureichend, berichtet Kröber. Ein positives Beispiel ist die Forensisch-Therapeutische Ambulanz der Charité in Berlin: Dort erhalten entlassene rückfallgefährdete Gewalt- und Sexualstraftäter ambulante psychiatrische und psychotherapeutische Unterstützung.
Wie beeinflusst ein Migrationshintergrund die Prognose?
Vor besonderen Herausforderungen stehen entlassene Straftäter mit Migrationshintergrund, zum Beispiel weil Sprachprobleme ihre Resozialisierung behindern können. Was bedeutet ein Migrationshintergrund für ihre Prognose und Nachsorge?
»Das Vorgehen bei der Entlassung aus dem Maßregel- oder Strafvollzug unterscheidet sich nicht zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund oder ausländischer Staatsangehörigkeit«, erläutert Hans-Joachim Traub. Er forscht an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Zentrums für Psychiatrie (ZfP) Südwürttemberg in Weißenau zum Thema Maßregelvollzug. Auch die Prognose von Patienten mit Migrationshintergrund im Maßregelvollzug sei nicht notwendigerweise schlechter. »Gelingt es, die Grunderkrankung gut zu behandeln und damit das Rückfallrisiko zu reduzieren, können sie ebenso in die Freiheit entlassen werden wie Menschen ohne Migrationshintergrund«, sagt der Psychologe.
»Viele Menschen mit Migrationshintergrund verstehen unser westliches Konzept von psychischer Krankheit nur zum Teil oder gar nicht«Thomas Ross und Hans-Joachim Traub, Rechtspsychologen
Ein Migrationshintergrund sei jedoch für die Behandlung im Maßregelvollzug, die Einschätzung des Rückfallrisikos und die Resozialisierung eine zusätzliche Herausforderung, schreiben Thomas Ross und Hans-Joachim Traub in der Fachzeitschrift »Recht und Psychiatrie«. Ross ist Forschungsleiter der Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie Reichenau und lehrt an der Universität Ulm. »Ein Problem ist die Sprachbarriere: Einige Patienten mit Migrationshintergrund sprechen nur wenig oder kein Deutsch, so dass man auf Dolmetscher oder Sprachmittler angewiesen ist. Die Informationen, etwa für Gutachten, sind dann oft weniger ausführlich und lückenhaft«, erläutert Ross.
Migrationshintergrund im Maßregelvollzug
Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit tragen seit 2016 stark zum Anstieg der Einweisungen in den Maßregelvollzug bei. Im Jahr 2021 machten sie 32 Prozent der Neueinweisungen aus. Zum Anteil der untergebrachten Menschen mit Migrationshintergrund – ob deutsche Staatsangehörige oder nicht – und etwaigen erneuten Straftaten nach Entlassung liegen keine bundesweiten Zahlen vor. In Baden-Württemberg lag der Anteil der untergebrachten Menschen mit Migrationshintergrund im Jahr 2021 bei rund 48 Prozent. Nach ihrer Entlassung begehen sie, sofern sie wieder straffällig werden, tendenziell weniger schwer wiegende Straftaten als diejenigen ohne Migrationshintergrund und werden auch eher seltener wegen einer weiteren Straftat erneut in den Maßregelvollzug eingewiesen.
Weiterhin fehle den Behandlern oft das nötige Wissen über den kulturellen Hintergrund der Patienten, so dass es ihnen schwerer falle, deren Verhalten einzuschätzen, sagt der Psychologe. Doch dieses Problem werde adressiert: »Häufig werden Mitarbeiter der Klinik in den Begutachtungsprozess einbezogen, die einen ähnlichen kulturellen Hintergrund wie der Patient haben. Dem sind natürlich Grenzen gesetzt, weil dies etwa bei Patienten aus verschiedenen Regionen Afrikas kaum realisierbar ist.« Darüber hinaus hätten viele Menschen mit Migrationshintergrund ein anderes Krankheitsverständnis: »Sie verstehen unser westliches Konzept von psychischer Krankheit nur zum Teil oder gar nicht«, schreiben Ross und Traub. »Manche sind auch damit überfordert, dass sie selbst Verantwortung für den Umgang mit ihrer Erkrankung übernehmen sollen.«
Ein gravierendes Problem ist in vielen Fällen der Aufenthaltsstatus: Ist er unklar, sei es häufig schwierig, eine ambulante Nachsorge zu organisieren. »Wenn die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind, ist eine Abschiebung oder eine ›freiwillige‹ Ausreise möglich«, erläutert Traub. »In der Praxis sind die Hürden dafür aber hoch. Oft vergeht bis zur Abschiebung viel Zeit. In dieser Zeit haben die Patienten keine wirkliche Perspektive. Dann ist auch ihre Motivation für eine Therapie oft gering.« Wer abgeschoben werden soll, hat zudem keinen Anspruch auf Nachsorgemaßnahmen. »Besser ist die Situation für Patienten, die einen Aufenthaltstitel haben: Sie haben Anspruch auf ähnliche Nachsorgemaßnahmen wie deutsche Staatsangehörige«, so der Psychologe.
»Ein Problem sind Menschen mit schizophrenen Psychosen, die nicht erkannt und nicht behandelt werden«Hans-Ludwig Kröber, forensischer Psychiater und Gutachter
Kröber sieht allerdings noch an anderer Stelle Verbesserungsbedarf: bei psychisch kranken Menschen, die zu Aggression neigen, aber noch nie wegen einer schweren Straftat verurteilt wurden. Denn an sie komme das psychiatrische Versorgungssystem nicht heran. »Ein Problem sind psychisch kranke Menschen, insbesondere mit schizophrenen Psychosen, die nicht erkannt und nicht behandelt werden«, sagt der Psychiater. »Manche von ihnen fühlen sich verfolgt und bedroht. Einige fallen – ähnlich wie manche Suchtkranke – immer wieder durch Aggressivität auf und werden zum Teil wiederholt in die Akutpsychiatrie eingewiesen. Bei ihnen besteht ein erhöhtes Risiko, dass sie irgendwann eine schwere Straftat begehen.« Ein Beispiel für diesen Personenkreis sei etwa der Täter der Messerattacke vom Januar 2025 in Aschaffenburg.
Jemand, der andere akut gefährdet und keine Krankheitseinsicht hat, kann vom Amtsrichter für eine festgelegte Zeit in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden. »Über die Entlassung nach Ablauf der Unterbringungszeit entscheidet die Klinik oder auch der Patient selbst. Dabei findet keine erneute, unabhängige Gefährlichkeitseinschätzung statt«, erläutert der Psychiater. Hier seien aus fachlicher Sicht Veränderungen notwendig. »Ärzte in psychiatrischen Kliniken sollten die Gefährlichkeit von Patienten stärker im Blick haben«, fordert Kröber. »Außerdem sollte es rechtliche Möglichkeiten geben, um die Betroffenen auch für längere Zeit in einer Klinik behandeln zu können.«
Wichtig sei zudem, dass Menschen mit Migrationshintergrund bei psychischen Erkrankungen eine angemessene psychologische und psychiatrische Versorgung erhielten. »Bei unklarem Aufenthaltsstatus gibt es oft gar keine Therapie, weil die Finanzierung nicht sichergestellt ist und Behandlungskapazitäten fehlen«, berichtet der Psychiater. »Das wäre jedoch für die Vorbeugung von Gewalttaten sehr wichtig – und ebenso unter dem ethischen Aspekt, Menschen die Unterstützung zu geben, die sie benötigen.«
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