Harmonische Analysis: 17-Jährige widerlegt jahrzehntealte Mathematik-Vermutung

Es passiert selten, dass Überzeugungen in der Mathematik über den Haufen geworfen werden. Und noch seltener sind es Menschen außerhalb der professionellen Mathe-Community, denen ein solcher Durchbruch gelingt. Doch im Februar 2025 trat genau dieser Fall ein: Die damals 17-jährige Schülerin Hannah Cairo veröffentlichte ein Gegenbeispiel zu einer Vermutung, die die Fachwelt seit den 1980er Jahren für korrekt hielt. Damit sorgte sie in einem Bereich, der als harmonische Analysis bekannt ist, für große Überraschung.
Ihre Ergebnisse stellte die junge Forscherin im April 2025 bei einem digitalen Analysisseminar vor. Auf bunten, mit Blumen verzierten Folien erklärte Cairo die abstrakte Mathematik hinter der so genannten Mizohata-Takeuchi-Vermutung – und wie sie diese widerlegen konnte. Dabei sorgt aber nicht nur das mathematische Resultat für Aufmerksamkeit: Dass eine junge Schülerin ein Problem knackt, an dem sich Mathematikerinnen und Mathematiker seit Jahrzehnten die Zähne ausbeißen, fasziniert die Fachwelt.
Schon als Kind war Cairo, die auf den Bahamas aufwuchs, von Mathematik begeistert. Als sie mit ihren Eltern nach Kalifornien zog, schrieb sie daher mehrere Professoren am University College in Berkeley an und fragte, ob sie an ihren Vorlesungen teilnehmen dürfte. Sie sei zwar eine Schülerin an der Highschool, habe aber schon einiges an Fachliteratur gelesen. Sie erhielt mehrere Zusagen, darunter vom Mathematiker Ruixiang Zhang, der einen Kurs im Bereich der harmonischen Analysis anbot. »Eines Tages schlug er vor, den Spezialfall einer offenen Vermutung als Hausaufgabe zu beweisen«, sagte Cairo gegenüber der spanischen Zeitung »El País«. »Als optionalen Teil fügte er die eigentliche Vermutung hinzu. Und ich war wie besessen davon.«
Der Sirenengesang der Mathematik
Die harmonische Analysis fußt auf derselben Idee, die in der Musik genutzt wird, um den Ton eines Instruments in einzelne Obertöne zu zerlegen. In dem mathematischen Forschungsgebiet geht es ebenfalls darum, Objekte in einfachere Bausteine aufzuteilen – in diesem Fall in Wellen. Hat man etwa eine komplizierte Funktion vor sich, dann kann es beispielsweise helfen, sie als Überlagerung vieler simpler Sinus- und Kosinusfunktionen zu betrachten. Eine solche Herangehensweise findet nicht nur in der Musik oder in der Mathematik Anwendung, auch Physiker nutzen solche Zerlegungen immer wieder.
Dabei stechen drei Probleme heraus, die seit den 1980er Jahren in der harmonischen Analysis eine besonders wichtige Rolle spielen: die Bochner-Riesz-Vermutung, die Restriktionsvermutung und die Kakeya-Vermutung. »Fast die Hälfte der Community arbeitet an diesen oder damit verbundenen Problemen«, sagte der Mathematiker Shaoming Guo von der University of Wisconsin in Madison gegenüber dem »Quanta Magazine«. Die Vermutungen hängen auf hierarchische Art miteinander zusammen: Gelingt es, die Bochner-Riesz-Vermutung zu beweisen, sind damit automatisch die Restriktions- und die Kakeya-Vermutung wahr. Im Frühjahr 2025 gab es in diesem Bereich einen Durchbruch, als es zwei Mathematikern gelang, die Kakeya-Vermutung zu belegen. Da diese allerdings das letzte Bindeglied der Hierarchie bildet, bleibt dadurch der Status der anderen zwei Vermutungen unverändert. Fachleute gehen zwar davon aus, dass sie korrekt sind, doch sie konnten es bislang nicht beweisen.
Eingeschränkte Möglichkeiten
Cairos Betreuer, der Mathematiker Ruixiang Zhang, hat sich der Restriktionsvermutung verschrieben. Diese beschäftigt sich mit Funktionen, deren Zerlegungen erheblich eingeschränkt werden. Das ist, als würde man nur bestimmte Frequenzen bei der Obertonzerlegung zulassen. Was lässt sich dann über den eigentlichen Ton sagen? Diese Restriktion spielt in vielen Anwendungen eine wichtige Rolle, etwa in der Quantenmechanik, wo die zugehörigen Frequenzen einer Wellenfunktion nur bestimmte Werte annehmen können. »Dieses Phänomen hilft, die dispersive Natur von Wellen zu erklären«, schreibt der Fields-Medaillen-Träger Terence Tao auf Mastodon.
Die Frage, die sich Mathematikerinnen und Mathematiker in diesem Forschungsbereich stellen, lautet: Welche Eigenschaften kann die eigentliche Funktion haben, wenn man ihre Zerlegung auf einen kleinen Bereich beschränkt? Sprich: Welche Töne können herauskommen, wenn man nur ganz bestimmte Frequenzen zulässt? Die Restriktionsvermutung macht dazu klare Angaben. Ein Spezialfall davon ist die so genannte Mizohata-Takeuchi-Vermutung aus dem Jahr 1980, die besagt, dass die eigentliche Funktion (im musikalischen Bild die Töne) in bestimmten Fällen nur eine linienförmige Struktur haben kann. Doch Cairo fand heraus, dass das falsch ist. Sie identifizierte Fälle, in denen diese linienförmige Struktur nicht vorliegt, und widerlegte damit die Mizohata-Takeuchi-Vermutung.
Ihr Ergebnis sorgt nun weltweit für Aufsehen. Denn neben dem Beweis der Kakeya-Vermutung ist es der zweite weit reichende Fortschritt im Bereich der harmonischen Analysis. Es bleibt zu hoffen, dass die genutzten Methoden dabei helfen werden, auch die anderen Probleme des Fachgebiets voranzubringen. Für Cairo hat sich die Arbeit allemal ausgezahlt: Die Schülerin kann nun nach ihrem Abschluss direkt an der University of Maryland ihre Promotion beginnen – und kommt so ihrem Ziel näher, eine Karriere als Mathematikprofessorin zu verwirklichen, wie sie dem »Standard« mitteilte.
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