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News: Mathematisch begabte Nervenzellen

Um ihre Klauen zielsicher in der Dunkelheit auszurichten, besitzt die Schleiereule ein ausgezeichnetes Gehör. Nicht nur die auffallend helle, herzförmige Gesichtsbefiederung, die wie ein Reflektor für die eintreffenden Schallwellen wirkt, helfen ihr dabei, sondern auch spezielle Neuronen in ihrem Hörzentrum. Diese können mithilfe anspruchsvoller Multiplikationen das Geräusch eines ahnungslosen Beutetieres genau bestimmen.
Lautlos bewegt sich ein großer dunkler Vogelschatten durch die stockfinstere Nacht. Kein pfeifender Ton ist zu hören, wenn dessen vordere Flügelkante die Luft durchschneidet. Besonderheiten im Bau des Gefieders – ein "Samtpolster" auf der Oberseite aller Schwingen und die feine Zähnung an der Außenkante der ersten Handschwinge – gewährleisten, dass sich die Schleiereule (Tyto alba) in völliger Dunkelheit geräuschlos an ihr Opfer heranpirschen kann. Im Visier hat sie eine im Feld raschelnde Maus, deren letzte Minuten gezählt sind.

Allein durch passive akustische Ortung spürt der nächtliche Freilandflieger seine Beute auf. Diese außerordentliche Fähigkeit verdankt er einer präzisen Karte des Hörbereichs, die in der "Schaltstelle" im Hirnstamm, dem Colliculus inferior, eingraviert ist. Die gehirnspezifischen Nervenzellen empfangen zwei Arten von Eingaben: Wenn eine Maus quiekt, die sich rechts von der Schleiereule befindet, registriert das rechte Ohr des Vogels ein etwas lauteres und früheres Signal als das linke Ohr. Eine Reihe von Gehörneuronen berechnen die Unterschiede in der Intensität und der Ankunftszeit des Schalls und leiten die Ergebnisse an Nervenzellen im Colliculus inferior weiter.

Um herauszufinden, wie diese bestimmten Neuronen die eintreffenden Signale weiterverarbeiten, statteten José Luis Peña und Masakazu Konishi vom California Institute of Technology (Caltech) vierzehn Schleiereulen mit Kopfhörern aus und überwachten die Antworten der gehörspezifischen Nervenzellen auf Geräuschpaare. Diese können erstaunliche Leistungen vollbringen, wie die Auswertung der Ergebnisse zeigte: Während die meisten Neuronen die empfangenen Signale zusammen mit erregenden und hemmenden Impulsen lediglich aufaddieren und erst dann feuern, wenn ein bestimmter Schwellenwert überschritten ist, können die Nervenzellen in den auditorischen Hirngebieten der Schleiereule Multiplikationen durchführen und liefern so eine präzise zweidimensionale Ortsangabe der Beute.

Zwei Eigenschaften der Neuronen sprechen für diese Annahme: Erstens feuern die Nervenzellen im Hörbereich selbst dann kräftig, wenn sich nur sehr undeutliche Zeit- und Intensitätssignale in derselben Hirnregion entsprechen. Dieses Verhalten beobachteten die Forscher sogar bei Impulsen, die aufaddiert zu schwach wären, um eine Reaktion auszulösen. Zweitens unterbleibt beim Fehlen des Zeit- oder Lautstärkesignals ein Feuern der Nervenzellen – ähnlich wie in einer Multiplikation 2 x 0 = 0 ergibt. Peña erläutert, dass die Nervenzellen wie eine "und"-Schranke reagieren, indem sie beide Signale benötigen, während einer "oder"-Sperre bereits ein Impuls für eine Antwort ausreicht.

Das Multiplikationsmodell sagt die Reaktion der Neuronen mit einer Genauigkeit von über 98 Prozent voraus. "Dies ist ein einwandfreier Beweis, dass im Gehirn Multiplikationen stattfinden", betont Christof Koch, ebenfalls vom Caltech. Aus mathematischer Sicht ist das Verhalten der gehirnspezifischen Nervenzellen leicht zu erklären, denn eine Multiplikation der Signale reduziert den Einfluss eines einseitigen starken Impulses. Doch neurophysiologisch betrachtet ist diese Reaktion noch schleierhaft: "Wir wissen nichts darüber, wie die Neuronen diese Multiplikationen berechnen", hebt Koch hervor. Als nächsten Schritt planen Peña und Konishi die biophysikalischen Mechanismen aufzudecken, die den Multiplikationen zugrundeliegen.

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  • Quellen
Science 292: 185 (2001)
Science 292: 249–252 (2001)

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