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Polen und Belarus: Ein Eiserner Vorhang gefährdet Europas letzte Wildnis

Polen will sich mit einer 200 Kilometer langen Mauer aus Stahl von Belarus abschotten. Der neue Eiserne Vorhang soll Ende Juni fertig sein. Er bedroht eines der letzten großen Naturparadiese Europas. Vor allem Luchs und Wisent, die dort leben.
Wisente leben im Urwald von Biaowieza und wandern zwischen Polen und Belarus hin und her.

Uralte dunkle Wälder, ausgedehnte Wiesen, Moore und viel Ruhe: Die Grenzregion zwischen Polen und Belarus ist ein Naturparadies. Das Hinterland des Flüsschens Bug, das Biebrza-Tal und die Wälder auf beiden Seiten der Grenze gehören zu den bedeutendsten verbliebenen Naturparadiesen in Europa.

In dieser Idylle lebt Adam Wajrak. Seine Nachbarn sind Wölfe, Wisente und Schreiadler. Doch wo eigentlich das Rauschen aus dem Blätterwald uralter Eichen, Erlen und Birken den Ton bestimmt, donnern seit Wochen Lastwagen über Waldwege und lärmen Baumaschinen: Inmitten der Wildnis wird an einer Mauer gebaut.

Auf Beschluss der nationalkonservativen Regierung in Warschau ziehen Bauarbeiter seit Ende Januar 2022 im Eiltempo entlang der Grenze zu Belarus einen neuen Eisernen Vorhang zwischen der Europäischen Union (EU) und seinem östlichen Nachbarn. Der Ukraine-Krieg bestärkte die Regierung in ihrem Entschluss. Anfang Juni gab der Grenzschutz die Fertigstellung der Mauer auf bereits 125 Kilometern bekannt. Die Arbeiten am Rest des Mauerverlaufs seien weit fortgeschritten, hieß es. Bis Ende Juni 2022 soll auf rund 200 Kilometer Länge die fünfeinhalb Meter hohe Grenzmauer aus Stahl mitten durch den Wald entstehen.

Anwohner wie Wajrak und Naturschützende fürchten um eine der letzten großen Wildnisgebiete Europas. Die neue Grenzmauer versperrt nicht nur Menschen den Weg nach Westen. Sie zerschneidet wertvolle Lebensräume und bedroht damit das ökologische Gleichgewicht in der bedeutsamen Naturregion: »Luchse, Elche, Wisente – alle überqueren permanent die Grenze«, sagt Wajrak aus eigener Anschauung. Wegen der Luchse ist er besonders besorgt: »Ich fürchte, die Mauer wird die hiesige Population zum Aussterben bringen.«

Jeder dritte Wisent der Erde lebt in der Nähe der neuen Mauer

Mit dieser Meinung steht Wajrak nicht allein. In einem Brief haben sich führende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Polen an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gewandt. »Mit dem Bau der Mauer wird eine Barriere mit verheerenden Folgen geschaffen, die zu einer dauerhaften Unterbrechung der Verbindung der ökologischen Korridore auf nationaler und europäischer Ebene führt«, warnen führende Expertinnen und Experten des Landes aus allen Disziplinen der Naturwissenschaft. Die ständige Präsenz von Menschen zu Überwachung und Wartung der Anlage würden eines der allerletzten wirklichen Wildnisgebiete des Kontinents massiv entwerten, lauten weitere Bedenken.

Mehr als 1600 Wissenschaftler aus anderen Ländern unterstützen den Protest. Sie sehen im Mauerbau einen weiteren Verstoß Polens gegen europäisches Recht. Denn die Trasse verläuft durch eine der auf dem Papier am besten geschützten Ökoregionen Europas, gar der Erde.

»Die polnische Regierung muss sich an Recht und Gesetz halten«
Adam Wajrak, Reporter

Die Mauer und ein entlang des Flusses Bug angelegte Drahtbarriere durchschneiden Naturschutzgebiete, Nationalparks und nicht weniger als sechs der nach EU-Recht besonders streng geschützten Natura-2000-Gebiete. Wer dort eingreifen möchte, muss eine Umweltverträglichkeitsprüfung nach EU-Recht bestehen.

Ein betroffenes Gebiet ist der Bialowieza-Urwald. Er ragt unter den Naturschätzen der Region heraus. Denn der Wald von Bialowieza ist der letzte verbliebene großflächige Tiefland-Primärwald des Kontinents. Seit mehreren tausend Jahren steht hier Wald, der auf einer großen Fläche sich selbst überlassen bleibt. Während andere Urwälder durch die Entwicklung der Zivilisation in Europa zerstört wurden, greift der Mensch dort weiterhin nur selten ein. Bis zu 600 Jahre alte Baumriesen ragen in die Luft. Fallen sie um, bleiben sie liegen und lassen als wertvolles Totholz tausendfaches Leben neu entstehen. Mehr als 16 000 Arten von Pilzen und wirbellosen Tieren haben Forschende nachgewiesen. Viele davon wurden hier sogar erst entdeckt.

250 Vogel- und 60 Säugetierarten leben in und um den Urwald beiderseits der Grenze, darunter mit 900 Tieren die größte existierende Population des europäischen Wisents – das ist jeder dritte frei lebende Wisent der Erde. Die friedfertigen Pflanzen fressenden Riesen sind die Wappentiere der Region. Von hier aus haben sie nach ihrer Vertreibung begonnen, ihren einstigen Lebensraum zurückzuerobern, und sind mittlerweile bis in das deutsch-polnische Grenzgebiet in Westpommern herangekommen.

Die neue Mauer blockiere »die Hauptausbreitungsroute für große Säugetiere auf kontinentaler Ebene«, warnen die Wissenschaftler in ihrem Brief. Wegen des Bauwerks könnten sich die Tiere nicht mehr ausbreiten, Bestände würden daran gehindert, sich zu mischen. Auf Grund der genetischen Verarmung könnten weite Teile der polnischen Luchspopulation zusammenbrechen, heißt es weiter. Auch eine natürliche Wiederbesiedlung Deutschlands mit Wisenten und Elchen hängt von den Beständen in Polen ab.

Menschenrechtler und Vogelschützer protestieren Seite an Seite

Gegen den Bau der Mauer gibt es anhaltenden, aber wohl vergeblichen Protest in vielen Teilen Polens. Oft geht es bei den Protesten auch um eine humanere Politik gegenüber Flüchtlingen. Denn der Bau der Grenzmauer ist die Antwort der nationalkonservativen polnischen Regierung auf den durch die belarussischen Behörden unterstützten Massenansturm tausender Migranten und Migrantinnen aus dem Nahen Osten und Afrika auf die Grenze im vergangenen Jahr.

Anwohner Wajrak, der als Reporter der Tageszeitung »Gazeta Wyborcza« landesweit für seine Umweltberichte bekannt ist, geht es um Natur und um Menschenrechte. »Menschen werden immer einen Weg über eine Mauer finden – gerade die Deutschen wissen das«, sagt er. »Die polnische Regierung muss sich an Recht und Gesetz halten, gegenüber der Natur und den armen Menschen.«

Auch die EU-Kommission und die UNESCO sind besorgt. UNESCO-Manager Guy Debonnet verweist darauf, dass die »ökologische Vernetzung« zwischen dem polnischen und dem belarussischen Teil des Urwaldes ein Schlüsselelement war, als man den Wald im Jahr 1992 als Weltnaturerbe einstufte.

»Wir wollen unsere nationale Sicherheit, aber auch unser nationales Naturerbe verteidigen«
Jaroslaw Krogulec, Naturschützer

Polens Mauer soll wegen einer Klausel rechtens sein

Die Europäische Kommission schloss sich den Bedenken an und forderte, die Umweltauswirkungen zu bewerten. Allerdings ließ die Behörde Polen einen Ausweg. Sollte der Mauerbau »aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses« stattfinden, müsste die Regierung nur nachweisen, dass es keine geeigneten Alternativen gebe und »angemessene Ausgleichsmaßnahmen ergreifen«, sagte ein Kommissionssprecher der Nachrichtenagentur Reuters. Auf diese Klausel beruft sich auch die polnische Regierung.

Derzeit versuchten nur wenige Menschen, über Belarus nach Polen zu gelangen, berichtet Jaroslaw Krogulec. Er ist beim polnischen Vogelschutzverband für den Naturschutz zuständig. Wie viele Polen ist er erschüttert über die Bilder von Migrantenfamilien, die im Winter schutzlos im Grenzgebiet zwischen beiden Staaten in Zelten ausharrten. »Wir sind nicht gegen den Schutz der Grenze, aber er muss humanitär sein, das sollte unsere Regierung unterscheiden von einem Regime wie dem des belarussischen Machthabers Lukaschenko.«

Keiner der Mauergegner stellt die Notwendigkeit des Grenzschutzes in Frage. »Eine gewisse Präsenz ist nötig, und vielleicht muss es an einigen Stellen sogar Stacheldraht geben«, sagt etwa Krogulec. Doch die Grenzsicherung auf modernem Niveau in anderen Ländern zeige, dass es intelligentere Möglichkeiten mit Hilfe elektronischer Systeme, Drohnen und anderen technische Lösungen gebe, argumentiert er.

»Wir wollen unsere nationale Sicherheit, aber auch unser nationales Naturerbe verteidigen«, sagt Krogulec, der selbst nahe dem Grenzfluss Bug lebt. An die eigene Regierung appelliert er: »Beschädigt nicht dieses Erbe und damit unser Land im Namen der nationalen Sicherheit.«

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