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Kriminalberichterstattung: Modell für Massenmord

Über Suizide berichten die Medien in der Regel zurückhaltend, denn die Gefahr von Nachahmungstätern ist bekannt. Wenig weiß man hingegen über so genannte Copycat-Killer: Treten sie ebenfalls vermehrt nach Schlagzeilen über Amokläufe und andere Morde in Erscheinung?
Schlagzeilen

Gewalt macht Schlagzeilen. Die Medien halten sich dabei in der Regel an geltende Gesetze – so gilt etwa die Unschuldsvermutung für Tatverdächtige. Davon ist nach dem Absturz des Germanwings-Airbus am 24. März allerdings nicht mehr viel zu spüren. Details aus dem Privatleben des Kopiloten werden diskutiert auf der Suche nach einem möglichen Motiv dafür, dass der Kopilot das Flugzeug womöglich absichtlich abstürzen ließ. Kaum kam der erste Verdacht auf, veröffentlichten selbst seriöse ausländische Medien wie die "New York Times" und "Le Monde" Namen und Bild des Kopiloten.

In besonderen Fällen können die Medien den Schutz der Persönlichkeit dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit opfern. Allerdings konkurriert dieses Interesse nicht allein mit Persönlichkeitsrechten. Umfangreiche Schlagzeilen über Verbrechen können die öffentliche Sicherheit gefährden, denn viele Kriminologen gehen davon aus, dass sie zur Nachahmung anregen.

Dem Werther-Effekt vorbeugen: Empfehlungen für die Medien

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt

  • vor sensationsheischenden Formulierungen, prominenter Platzierung und wiederholten Berichten,
  • vor einer expliziten Beschreibung der Methoden und detaillierten Informationen über den Ort
  • und davor, den Suizid zu "normalisieren" oder als Lösung für ein Problem darzustellen.

Die WHO empfiehlt

  • Zurückhaltung beim Veröffentlichen von Bildern und Filmen bei Berichten über prominente Selbstmörder,
  • Rücksicht auf die Gefühle der Hinterbliebenen
  • und Aufklärung über Suizide und Hilfsangebote.

Aus dieser Sorge heraus berichten seriöse Medien normalerweise auch nur wortkarg über Suizide von Prominenten. Manchmal greift diese Selbstbeschränkung allerdings nicht, wie man in den Nachrichtenarchiven vom 16. November 2009 nachlesen kann. Am Vortag verfolgten geschätzte sieben Millionen Fernsehzuschauer die Trauerzeremonie für den deutschen Fußballnationaltorwart Robert Enke, der sich am 10. November vor einen Zug geworfen hatte. Ein Medienspektakel mit Folgen, denn es lieferte ein prominentes Vorbild für Menschen mit Suizidgedanken: In den vier Wochen nach Enkes Suizid verdoppelte sich in Deutschland die Zahl derer, die sich auf dieselbe Weise das Leben nahmen. In den zwei Jahren danach starben fast 20 Prozent mehr Menschen auf den Schienen als in den zwei Jahren zuvor, errechneten Forscher der Universität Leipzig gemeinsam mit der Deutschen Bahn. Die Zahl aller Suizide stieg hingegen von 2007 bis 2010 deutlich weniger – um knapp sieben Prozent.

Der Werther-Effekt

Dieser so genannte Werther-Effekt ist auch bei drastischen Methoden wie Verbrennen, Aufhängen oder dem Sprung von einer Brücke zu beobachten. Er tritt selbst dann auf, wenn es sich um fiktive Geschichten handelt: Der Begriff Werther-Effekt spielt auf eine Welle von Suiziden an, die ein Roman von Goethe auslöste: Der Protagonist "Werther" setzt seinem Leben aus unerwiderter Liebe ein Ende.

Dutzende von Studien bestätigten seither, dass Medienberichte über Suizide Nachahmer hervorbringen, warnt die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Wie viele Menschen einem "Vorbild" folgen, hängt davon ab, wie prominent und umfangreich dessen Suizid durch die Schlagzeilen geht, wie viele Details bekannt werden und ob es sich um eine berühmte Person handelte – je höher ihr Ansehen, desto mehr Nachahmer. Deutsche Medien beschränken sich deshalb in der Regel auf eine knappe Meldung, wenn ein Prominenter von eigener Hand stirbt. Die Maßnahme wirkt: In Wien nahm die Zahl der Selbstmorde auf U-Bahn-Gleisen 1987 um 75 Prozent ab, nachdem eine Medienkampagne Zurückhaltung propagierte und die Presse daraufhin weniger sensationshungrig über Schienensuizide schrieb.

Der Psychologe Albert Bandura, der 2015 seinen 90. Geburtstag feiert, untersuchte schon in den 1960er Jahren, unter welchen Bedingungen Menschen andere nachahmen. Entscheidend für das so genannte Lernen am Modell: die nötige Aufmerksamkeit wecken sowie die Bereitschaft, sich mit dem Modell zu identifizieren. Erkennbare Gemeinsamkeiten verstärken den Nachahmungseffekt. Die Nachahmung ist besonders dann wahrscheinlich, wenn eine Belohnung winkt. Dazu genügt es schon, wenn das Modell für sein Verhalten eine Belohnung erntete, zum Beispiel öffentliche Aufmerksamkeit. Auch Gewalt wird auf diese Weise erlernt. Schon vierjährige Kinder schlagen eine Puppe eher, wenn sie zuvor einen Erwachsenen dabei beobachtet haben, stellte Bandura fest.

Fatales Vorbild | Berichten Medien zu intensiv über Suizide, ruft das oft Nachahmer auf den Plan. Ähnliches könnte auch für die Berichterstattung über Amokläufe und andere Verbrechen gelten.

Ein prominentes Vorbild bringt manchen überhaupt erst auf die Idee, einen Suizid in Betracht zu ziehen. Der Psychiater Ulrich Hegerl, Leiter der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, glaubt, dass eine Suizidmethode in Gedanken präsenter werde, wenn man in den Medien darüber liest: "Wer zuvor schon verzweifelt war, bekommt möglicherweise einen Weg aufgezeigt, den er sonst – ohne Vorbild – nicht gegangen wäre."

Leider holen sich auch potenzielle Gewalttäter Ideen aus den Medien: die so genannten Copycats – englisch für Nachahmungstäter aller Art. Der erste bekannte Copycat-Killer folgte den Fußstapfen des Serienmörders Jack the Ripper, der Ende des 19. Jahrhunderts in London Prostituierte ermordete. Ein Copycat-Verbrechen ist eine Straftat, die durch ein anderes Verbrechen »inspiriert« wurde, ob Terrorismus, Bankraub, Entführung oder Massenmord. Es kann sich um ein reales Verbrechen handeln, das Schlagzeilen machte, oder eine fiktive Handlung in Film, Fernsehen oder Videospielen.

Auch Massenmord findet Nachahmer

Auch bei einem Massenmord bestehe die Gefahr, dass er Nachahmer findet, glaubt Yann Auxemery vom medizinisch-psychologischen Dienst der französischen Luftfahrt im Militärkrankenhaus Percy nahe Paris. In einer Übersichtsarbeit von 2015 fasst Auxemery Charakteristika von Massenmördern in den USA und Kanada zusammen. Sie haben vier oder mehr Menschen gleichzeitig oder kurz hintereinander an einem Ort getötet; ihre Opfer sind ihnen vertraute oder aber unbekannte Menschen. Die meisten Täter sind Männer, fasziniert von Waffen, zur Tatzeit unverheiratet oder geschieden und ohne enge Bindungen. Häufig wurden sie in der Kindheit gemobbt.

Das bestätigten auch sieben Fälle in Australien, Neuseeland und Großbritannien. Die Täter hatten außerdem kurz vor der Tat einen wichtigen Teil ihrer Identität verloren: Partnerin oder soziales Netz, Job oder finanzielle Ressourcen. "Der Trigger ist der Verlust eines Ideals, ein beruflicher Rückschlag oder der Verlust einer nahen Bezugsperson", schlussfolgert Auxemery. "Hinter jedem Massenmord steht ein Leiden."

Seine Indizien sprechen auch dafür, dass Massenmörder häufig narzisstische, antisoziale oder auch schizoide Persönlichkeitszüge aufweisen. Anders gesagt: Sie sind ichbezogen und leicht kränkbar, verfolgen rücksichtslos ihre Ziele und neigen zu paranoiden Ideen. Im Vorfeld der Tat haben viele Täter das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, und geben anderen die Schuld an ihren Misserfolgen. Sie fantasieren oft schon lange von der Tat und orientieren sich dabei am Vorgehen eines Vorbilds – auch wenn ihr Verhalten später impulsiv erscheint. Und die Täter beabsichtigen oder rechnen zumindest damit, dabei zu sterben. "Die Identifikation mit einem medialen Vorbild fördert die Planung", erklärt Auxemery. "Die meisten Massenmorde wurden direkt von einem oder mehreren vorangehenden Massakern beeinflusst."

Pressekodex: Richtlinien des Deutschen Presserats

Bei Unglücksfällen aller Art müssen Journalisten das Informationsinteresse der Öffentlichkeit gegen andere Interessen abwägen: "Die Presse verzichtet auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid", lautet ein Grundsatz. Weitere Beispiele:

"Bei der Berichterstattung über Gewalttaten, auch angedrohte, wägt die Presse das Informationsinteresse der Öffentlichkeit gegen die Interessen der Opfer und Betroffenen sorgsam ab. Sie berichtet über diese Vorgänge unabhängig und authentisch, lässt sich aber dabei nicht zum Werkzeug von Verbrechern machen."

"Die Veröffentlichung so genannter Verbrecher-Memoiren verstößt gegen die publizistischen Grundsätze, wenn Straftaten nachträglich gerechtfertigt oder relativiert werden, die Opfer unangemessen belastet und durch eine detaillierte Schilderung eines Verbrechens lediglich Sensationsbedürfnisse befriedigt werden."

"In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht. Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte."

Die wohl bekannteste Vorlage lieferte 1999 der Amoklauf an der Columbine High School in Littleton, Colorado. Innerhalb der darauf folgenden 50 Tage protokollierten die Schuldistrikte in Pennsylvania 354 Drohungen, davon mehr als die Hälfte innerhalb von zehn Tagen. Zuvor waren es rund ein bis zwei pro Jahr.

Der forensische Psychiater Antonio Preti von der Universität in Cagliari, Italien, erkennt hinter solchen Drohungen potenzielle Copycats. Dafür spreche auch, dass der Modus Operandi übernommen wurde: Es gingen vor allem Bombendrohungen ein, obwohl die meisten Amokläufer in Schulen Schusswaffen oder Messer verwenden.

Richtlinien für die Presse

"Copycat-Morde könnten eine Ursache für die zunehmenden Amokläufe an Schulen sein", so Preti. Den Werther-Effekt habe man durch Richtlinien für die Presse begrenzen können. Um Copycat-Verbrechen vorzubeugen, empfiehlt er den Medien analog

  • die Vorgehensweise nicht genau zu beschreiben,
  • den Täter nicht zu glorifizieren, aber auch nicht zu dämonisieren, damit sich die Mitglieder von Gegenkulturen nicht mit ihm identifizieren,
  • Bedingungen und Symptome zu benennen, die veränderbar sind, zum Beispiel psychische Störungen und Symptome der Täter wie Depressionen und Selbstmordgedanken,
  • auf Auswege hinzuweisen, etwa durch Kontaktdaten von Hilfsangeboten.

Ob solche Vorschläge Copycat-Verbrechen tatsächlich vorbeugen können, ist nicht erwiesen. Die Forscher berufen sich auf andere kriminologische Befunde oder leiten sie aus der Suizidprävention ab. Das gilt auch für die Tipps des US-Anthropologen Loren Coleman, der den Copycat-Effekt seit mehr als 30 Jahren erforscht. Er empfiehlt in seinem Buch "The Copycat Effect" (2004) zusätzlich

  • nicht von "erfolgreichen" Taten zu sprechen,
  • Stereotype und Klischees bei Tätern und Opfern zu vermeiden, zum Beispiel das vom "verrückten Einzelgänger",
  • Trauer von Überlebenden und Opfern zu zeigen,
  • Gewalt nicht als Lösung für ein Problem darzustellen, sondern Alternativen aufzuzeigen.

Natürlich können nicht nur die Medien Nachahmungstaten vorbeugen. Der Sicherheitsexperte Michael D. Kelleher etwa hat präventive Maßnahmen für den Umgang mit Mitarbeitern entwickelt. In 13 Fallstudien untersuchte er Massenmorde am Arbeitsplatz, und stets waren ein Streit oder eine Kündigung der Auslöser. Er empfiehlt, Angestellte respektvoll und wertschätzend zu behandeln und ihnen zu helfen, ihre Würde zu bewahren – auch und gerade, wenn eine Kündigung unabwendbar ist. Man dürfe den Betroffenen nicht das Gefühl geben, sie stünden nun vor dem Ende und hätten keine Alternativen mehr. In einer ausweglosen Lage greifen gekränkte Mitarbeiter eher zu Gewalt, um sich zu rächen, Furcht zu verbreiten oder sich ein schreckliches Denkmal zu setzen.

Mediale Aufmerksamkeit beschränken

Die mediale Aufmerksamkeit, die ein Mörder oder Selbstmörder erfährt, erscheint den meisten Menschen glücklicherweise alles andere als erstrebenswert. Doch die Vergangenheit zeigt, dass das nicht für jene gilt, die einen Teil ihrer Identität verloren haben oder zu verlieren befürchten. Wenn der Kopilot der abgestürzten Germanwings-Maschine davon ausging, dass er aus gesundheitlichen Gründen bald nicht mehr würde fliegen dürfen, wäre das ein denkbares Motiv – falls er den Absturz tatsächlich absichtlich herbeiführte.

Unabhängig davon, ob es so war oder nicht: Wer sich in einer ähnlichen Gefühlslage befindet, könnte sich an diesem medienwirksamen Abgang ein Beispiel nehmen. Wie lässt sich das am besten verhindern? Welche negativen Konsequenzen, die ein solches "Vorbild" erleidet, hemmen das unerwünschte Verhalten? Und wie müssten die Medien ihre Arbeit verändern?

Für Katastrophen wie diese, die weltweit Schlagzeilen machen, braucht es solche empirisch begründeten Richtlinien, wie sie bei Suiziden schon wirksam sind. Es gibt allerdings nur wenig empirische Forschung zum Copycat-Effekt bei Straftaten, fasst Jacqueline Helfgott, Professorin für Kriminologie an der Seattle University, die Befundlage 2015 zusammen.

Vorerst bleibt es den Medien überlassen, einander über die Gefahr der Nachahmung aufzuklären und sich selbst zur Zurückhaltung zu verpflichten. Das Onlinelexikon Wikipedia etwa könnte Mördern einen eigenen namentlichen Eintrag verwehren: Wer sich mit Gewalt verewigen will, würde so vielmehr seine Bedeutungslosigkeit besiegeln.

Hilfsangebote

Wenn Sie darüber nachdenken, sich das Leben zu nehmen, sprechen Sie mit einer Person Ihres Vertrauens darüber. Neben Freunden und Verwandten gibt es zahlreiche, auch anonyme Hilfsangebote: telefonisch, online, per E-Mail oder im direkten Gespräch.

Telefonseelsorge
anonym, kostenlos und rund um die Uhr unter 0 800 / 111 0 111 und 0 800 / 111 0 222

Hilfe-Chats und E-Mail-Beratung
Anmeldung auf der Website der Telefonseelsorge

Persönliches Gespräch
Hilfe finden Sie bei niedergelassenen Ärzten und Psychotherapeuten, in Kliniken und Krankenhäusern sowie bei geistlichen Seelsorgern wie Pfarrer, Imam und Rabbiner. Schweigepflicht und Seelsorgegeheimnis schützen vor der Weitergabe vertraulicher Informationen.

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