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Seegraswiesen: Aufforstung im Meer

Seegräser galten lange als unspektakuläre Gewächse der Küsten. Mittlerweile hat sich jedoch herausgestellt, dass sie nicht nur vielen Meeresbewohnern Lebensraum bieten, sondern auch beträchtliche Mengen des Klimagases CO2 speichern und damit eine wichtige Rolle im Kohlenstoffhaushalt der Erde spielen. Meeresforscher versuchen daher, die bedrohten Seegraswiesen zu retten und neue anzupflanzen.
Unterwasseraufnahme eines Seegrasfeldes auf sandigem Meeresboden. Sonnenstrahlen dringen durch das klare Wasser und beleuchten die grünen Seegräser, die sich sanft in der Strömung wiegen. Die Szene vermittelt ein Gefühl von Ruhe und natürlicher Schönheit.
Seegräser wie das in der Ostsee heimische Gewöhnliche Seegras (Zostera marina) sind keine Algen, sondern gehören zu den Blütenpflanzen. Sie gedeihen in flachen Küstenregionen bis zu einer Tiefe von etwa zehn Metern, wo es noch ausreichend Licht gibt.

»Zehn Meter, fünf, drei – jetzt!« Genau beobachte ich auf dem Monitor die GPS-Position und gebe das Kommando, als unser Schlauchboot »Rita« die etwa 200 Meter vom Ufer entfernte Position »Fehmarnsund« erreicht. Mit einem kleinen Gewicht beschwert, gleitet die orange Markierungsboje über Bord und pendelt in den Wellen. Wenig später ist das Tauchteam fertig angezogen und ausgerüstet. Die Maske wird auf korrekten Sitz geprüft, ein letztes Mal der Atemregler an Bord ausprobiert – dann lassen sich die beiden Forschungstaucherinnen Jana Silva Willim und Esther Thomsen ins Wasser gleiten, bepackt mit Maßbändern, Kameras, Markierungsstäben, Probenahmegefäßen sowie einer Sicherungsleine, die sie mit einer weiteren Oberflächenboje verbindet. Als Einsatzleiter bleibe ich zusammen mit dem Sicherungstaucher an Bord des sechs Meter langen Schlauchboots. Unsere Basis ist die vor Anker liegende »Littorina« – ein betagter, aber funktionaler 30-Meter-Forschungskutter, der gemeinsam von der Universität Kiel und dem GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung betrieben wird. Die Wassertemperatur beträgt Mitte April zwar nur acht Grad Celsius, doch dank Trockentauchanzügen mit dicker Thermounterwäsche ist das kein Problem.

Probenentnahme | GEOMAR-Forscherin Angela Stevenson sammelt vor Ort Proben einer Seegraswiese der Ostsee ein.

Unsere heutige Aufgabe lautet, den Zustand der dortigen Seegraswiese zu dokumentieren, die per Datenlogger gemessenen Temperaturen auszulesen sowie genetische und mikrobiologische Proben zu nehmen. Auf den ersten Anschein sieht die Wiese in knapp drei Meter Wassertiefe grün und eintönig aus. Doch ein zweiter, genauerer Blick offenbart eine erstaunliche Artenvielfalt: Miesmuschelbänke siedeln am Boden zwischen den Halmen, zahlreiche Krebstiere wie Meerasseln und Felsgarnelen krabbeln durchs Blätterdach. Jungtiere diverser Plattfischarten wie Scholle, Kliesche und Steinbutt tummeln sich neben jungen Dorschen. Sie alle sowie drei Arten von Seenadeln bevorzugen Seegras als Unterschlupf, Nahrungsquelle und Kinderstube. Im etwas weiter östlich gelegenen Greifswalder Bodden der Ostsee laicht der Hering bevorzugt auf Seegrasblättern ab – beziehungsweise laichte, denn weite Teile des Boddens sind nun vegetationsfrei.

Artenreiches Biotop | Seegraswiesen stellen einen artenreichen Lebensraum dar. Auf ihren Blättern siedeln kleine Krebse, dazwischen verstecken sich etliche Jungfische.

Die ökologische Bedeutung der Seegraswiesen wurde lange unterschätzt. Bei Seegräsern handelt es sich um einkeimblättrige Blütenpflanzen, deren Vorfahren auf dem Land lebten und die einst den Weg zurück ins Meer fanden. Hier verbringen sie ihr ganzes Dasein unter Wasser. Damit galten sie in erster Linie als botanisches Kuriosum mit einigen interessanten ökologischen und evolutionsbiologischen Aspekten (siehe »Ökologie und Evolution der Seegräser«). Manche Küstenorte ließen sogar die vermeintlich lästigen Unterwassergewächse beseitigen, um den Badegästen einen »sauberen« Strand zu bieten. Erst nach und nach kristallisierte sich heraus, dass Seegraswiesen wesentliche Bestandteile eines marinen Ökosystems darstellen. Sie schützen die Küsten, indem sie Wellen bremsen und den Sand mit ihren Wurzeln festhalten; sie stellen einen Lebensraum für zahlreiche Meeresorganismen dar; und sie speichern beträchtliche Mengen von Kohlenstoffdioxid (CO2) – eine im Zeitalter der menschengemachten Klimakrise zunehmend wichtige Eigenschaft.

Der blaue Kohlenstoff

Intakte Seegraswiesen steigern die Biodiversität ähnlich wie ein Wald an Land. Die Pflanzen bieten dreidimensionale Strukturen, Lebensraum und Nahrung. Dabei erhöht das Seegras die Nahrungsverfügbarkeit meist indirekt durch mikroskopisch kleine Algen, die auf den älteren Seegrasblättern siedeln. Dieses »Periphyton« (von griechisch perí = um, herum; phytón = Pflanze) weiden wiederum Schnecken und Krebstiere ab, die so umgekehrt das Seegraswachstum fördern.

Ökologie und Evolution der Seegräser

Die etwa 70 Arten der Seegräser sind die einzigen Blütenpflanzen, die vor rund 100 Millionen Jahren ins Meer zurückgekehrt sind – und das sogar mindestens dreimal unabhängig voneinander. Der Schwerpunkt ihrer Biodiversität liegt im Indopazifik; im Atlantik kommen nur wenige Spezies vor. Ein Großteil der Arten gehört zu den Seegrasgewächsen (Zosteraceae), einer Pflanzenfamilie der einkeimblättrigen Bedecktsamer (Monokotyledonen). In deutschen Küstengewässern kennen wir lediglich zwei heimische Spezies: das Zwergseegras (Nanozostera noltii) vor allem im Wattenmeer der Nordsee sowie das Gewöhnliche Seegras (Zostera marina), welches als einjährige Form im Watt wächst, während ausgedehnte mehrjährige Bestände von etwa 280 Quadratkilometern dauerhaft von Wasser bedeckt in der Ostsee zu finden sind.

Die Rückkehr ins Meer erforderte eine tiefgreifende Umgestaltung der Anatomie und Physiologie an die herausfordernden Umweltbedingungen im Ozean wie den hohen Salzgehalt, die niedrige Sauerstoffkonzentration vor allem im Boden sowie die chronisch geringe Lichtverfügbarkeit bereits in wenigen Metern Wassertiefe. Seegräser besitzen ein Gasleitgewebe, das Aerenchym (von griechisch aēr = Luft; enchyma = Eingegossenes), während Spaltöffnungen oder eine wachsartige Kutikula komplett fehlen. Diese Anpassungen an den Lebensraum Meer spiegeln sich im Erbgut der Pflanzen wider. Von Zostera marina kennen wir seit 2016 das komplette Genom.

Unser Wissen über die Seegrasökologie beschränkt sich auf einige wenige Arten wie insbesondere Zostera marina, Posidonia oceanica oder Thalassia testudinum. Zahlreiche Studien wurden in Nordamerika und Europa sowie in Australien und Neuseeland durchgeführt; die Seegrasforschung weist jedoch vor allem in Afrika, Südamerika und sogar im Indopazifik, dem Diversitätszentrum der Seegrasspezies, etliche blinde Flecken auf. Daher bleiben globale Schätzungen zur Ausdehnung der Bestände sowie zu ihrer Kohlenstoffspeicherung noch sehr unsicher – von den meisten Seegrasarten haben wir keinerlei Daten dazu, wie viel »blauen Kohlenstoff« sie jährlich speichern. Fortschritte bei der Kartierung mittels Drohnen oder Satelliten in Kombination mit lokalen Prozessstudien könnten diese Wissenslücken aber schnell schließen.

Nachwuchs | Genau wie bei Landpflanzen entwickeln sich Samen aus den Blüten der Seegräser. Die samentragenden Sprosse lassen sich gut an dem rundlichen Stängel erkennen, die im Gegensatz zu normalen Seegrasblättern nicht flach sind.

Interessant ist die Reproduktionsbiologie der Seegräser, die sich komplett von terrestrischen Pflanzen unterscheidet. Bei allen Seegräsern (außer der tropischen Gattung Enhalus) erfolgt die Befruchtung über eine »Unterwasserbestäubung«. Hierbei schlingt sich der längliche und flexible Pollenfaden als Minilasso um die v-förmige Narbe der weiblichen Blüten. Nur wenige Samen keimen, und von den Keimlingen überlebt auch nur ein kleiner Anteil. Daher erscheint eine aktive Renaturierung sinnvoll, um die langsame natürliche Wiederbesiedlung zu beschleunigen. Alle Seegrasarten vermehren sich dagegen über unterirdische vegetative Ausläufer langsam, aber zuverlässig. Dabei entstehen genetisch fast identische Nachkommen, die mehr als 1000 Jahre alt werden können, wie die erste Datierung durch unser Forscherteam gezeigt hat. Ebenfalls eine neue Erkenntnis ist, dass diese Klone sich im Lauf der Jahrzehnte durch somatische Mutationen verändern.

Seegraswiese und Wald unterscheiden sich dennoch in wichtigen Punkten. Im Gegensatz zu gut durchlüfteten Waldböden herrscht in Meeressedimenten bereits in wenigen Millimetern Tiefe regelmäßig Sauerstoffmangel. Unter diesen »reduzierenden Bedingungen«, wie die Biogeochemiker sagen, verrotten abgestorbene Seegrasblätter und -wurzeln sowie durch die Strömung eingetragene Sedimentpartikel kaum. So entstehen über Jahrzehnte beträchtliche Ablagerungen von organischen Kohlenstoffverbindungen, die letztendlich über die Fotosynthese der Atmosphäre entzogen worden sind. Damit avanciert die Seegraswiese zum »Moor im Meer«, das wie die kohlenstoffreichen Torfvorkommen in wassergesättigten Hochmoorböden als langfristiger CO2-Speicher fungiert (siehe »Nasse Landwirtschaft«, »Spektrum« Januar 2022, S. 32).

Die Seegraswiese avanciert zum »Moor im Meer«, das wie Hochmoorböden als langfristiger CO2-Speicher fungiert

Dieser von den Meeresökosystemen gespeicherte »blaue Kohlenstoff« kann im Fall des im Mittelmeer vorkommenden Neptungrases (Posidonia oceanica) sehr alt werden und bis in die Römerzeit zurückgehen. In einer unter der Leitung der GEOMAR-Forscherin Angela Stevenson 2023 veröffentlichten Studie schätzen wir, dass heute unter den bestehenden Seegraswiesen der südwestlichen Ostsee Mengen an Kohlenstoffverbindungen lagern, die mindestens zwei Megatonnen CO2 entsprechen (CO2-Äquivalente). Die Schätzung ist konservativ, weil wir die Sedimente nur bis in 25 Zentimetern Tiefe beprobt hatten. Die für die CO2-Bilanz eines Landes maßgeblichen jährlichen Speicherraten lassen sich allerdings nur schwer messen. Ebenso wenig wissen wir, ob die Speicherstätten Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte überdauern. Wir fanden jedoch heraus, dass einige der beprobten Seegraswiesen auf versunkenen Hochmooren wuchsen. Diese Areale bewahren somit den vor 5000 Jahren im Moor gespeicherten organischen Kohlenstoff vor Erosion und mikrobiellem Abbau. Damit zeigt sich, wie wichtig der Schutz der natürlichen Seegraswiesen ist.

Renaturierung für den Klimaschutz

Kann also so ein unscheinbares Gewächs unser Klima retten? Wohl nur selten haben sich eine Pflanze und ihr Lebensraum, die Seegraswiese, vom »hässlichen Entlein« zu einem wahren Favoriten der Meeresforschung sowie der öffentlichen Wahrnehmung gemausert. Zwar erscheinen Korallenriffe in der Regel als bunter und noch artenreicher als Seegraswiesen, Letztere können es aber in puncto Ökosystemfunktionen durchaus mit Ersteren aufnehmen (siehe »Ökosystemdienstleister«). Als entscheidend für das rapide angestiegene öffentliche Interesse für Seegraswiesen erwies sich die seit etwa 15 Jahren bekannte, oben beschriebene Funktion solcher Ökosysteme als marine Kohlenstoffsenke, die Korallenriffen fehlt. Globale Schätzungen der Kohlenstoffspeicherraten gehen davon aus, dass bei den momentanen Beständen etwa 130 Megatonnen CO2-Äquivalente pro Jahr durch alle Wiesen der etwa 70 beschriebenen Seegrasarten gebunden werden können. Dabei hängt das Speicherpotenzial einer Wiese stark von der Seegrasspezies und den lokalen Begebenheiten ab. Unter optimalen Bedingungen sowie einer Erweiterung auf die ursprünglich vorhandenen Flächen (»Renaturierung«) läge es bei rund 340 Megatonnen. Dieser Wert entspricht ungefähr der Hälfte des momentanen CO2-Ausstoßes des Industriestaats Deutschland. Daher kann Seegras allein das Klima nicht retten, aber trotzdem einen signifikanten Beitrag leisten.

Ökosystemdienstleister | Seegraswiesen erfüllen wichtige Funktionen im Ökosystem des Flachwassers (im Uhrzeigersinn von oben links): Sie erhöhen die biologische Vielfalt, sie wirken als Nährstofffilter und CO2-Senke, sie dienen als Kinderstube für Fische und wirbellose Tiere, und sie dämpfen Wellen und stabilisieren das Sediment.

Und der wächst in dem Maß, in dem es gelingt, verlorengegangene Flächen wieder zu bepflanzen. Denn weltweit betrachtet haben wir bis zu 90 Prozent der natürlichen Seegrasbestände eingebüßt. Im Gebiet der deutschen Ostseeküste verschwanden in den vergangenen 100 Jahren etwa 60 Prozent, sodass es hier nur noch weniger als 300 Quadratkilometer Seegraswiesen gibt. Wie in vielen anderen Küstenzonen weltweit verursachte hauptsächlich der Eintrag von Nährstoffen aus intensiv genutzten landwirtschaftlichen Flächen den Rückgang. Diese »Eutrophierung« löst einerseits Planktonblüten aus, die das Wasser trüben, und führt andererseits zum übermäßigen Wachstum von Algen auf dem Seegras. Der dadurch verursachte Lichtmangel hemmt die Fotosynthese und schadet so den Pflanzen. In der Ostsee ließ sich der Niedergang seit dem letzten Jahrzehnt stoppen, und laut unseren Monitoringdaten deutet sich sogar eine leichte Erholung an, auch wenn es weiter zu Verlusten in bestimmten, besonders nährstoffbelasteten Bereichen kommt. Besser stellt sich die Situation für Seegrasbestände im Wattenmeer der Nordsee dar, wo erfreulicherweise in Schleswig-Holstein eine Zunahme in den letzten 15 Jahren zu verzeichnen war.

Weltweit haben wir bis zu 90 Prozent der natürlichen Seegrasbestände eingebüßt

Renaturierung ist nur sinnvoll, wenn sich die Störfaktoren zumindest verringert haben. Dann kann der Mensch bei der langsamen natürlichen Kolonisierung nachhelfen und die Erholung der Bestände beschleunigen. Durch langfristige Messreihen von Vegetationsaufnahmen konnten Philipp Schubert vom GEOMAR und sein Team mehrere tausend Hektar Flächen an der Ostseeküste Schleswig-Holsteins identifizieren, die für eine Renaturierung infrage kämen. Die 2024 verabschiedete EU-Verordnung über die Wiederherstellung der Natur befeuert die anvisierten Renaturierungsanstrengungen, da nun alle EU-Mitgliedsstaaten binnen eines Jahres verbindliche Pläne für die aktive Erneuerung ihre wertvollen Lebensräume zusammentragen müssen – darunter eben auch Seegraswiesen.

Das Pilotprojekt SeaStore

Auf eine solche Wiederansiedlung von Seegraswiesen zielt das von der Universität Hannover koordinierte und vom Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt geförderte Verbundprojekt SeaStore mit insgesamt neun Partnerinstitutionen ab. Dabei pflanzen wir Ableger der Seegräser auf dem Meeresboden in einem Schachbrettmuster an. Wie sich zeigte, reichen hierfür fünf bis acht Pflanzen pro Quadratmeter aus, die sich unter günstigen Bedingungen in einer Sommersaison auf 400 Halme vermehren.

Stresstest | In eigens konstruierten Wellentanks bestimmt Doktorandin Jana Willim die Wachstumsraten des Seegrases unter verschiedenen Stressbedingungen wie marinen Hitzewellen.

Erste Erfolge mit unseren Anpflanzungen konnten wir bereits erzielen; sie beschränken sich allerdings auf kleine Flächen von unter einem Hektar. Um größere Gebiete zu bepflanzen, beziehen wir auch Bürgerforscherinnen und -forscher mit ein. Hierzu schulen wir zusammen mit der Naturschutzorganisation Sea Shepherd fortgeschrittene Freizeittaucher und bereiten sie so auf ihren besonderen Einsatz vor. Mein Kollege Christian Lieberum weist den Hobbytauchern basierend auf GEOMAR-Daten erfolgversprechende Anpflanzungsflächen zu. Alle Informationen sammeln wir in einer interaktiven Datenbank, um später aus Erfolgen und Fehlschlägen lernen zu können. GEOMAR-Forscherin Esther Thomsen entwickelt im Rahmen des SeaStore-Projekts Methoden, um Seegras aussäen zu können – analog zu einem Getreidefeld, das ebenfalls nicht mit Stecklingen, sondern per Aussaat angelegt wird.

Gärtnern im Meer | Ein Forschungstaucher pflanzt einen jungen Seegrasableger ein. Mit solchen aufwändigen Aktionen hoffen die Kieler Meeresbiologen, neue Seegraswiesen in der Ostsee zu etablieren.

Die Effekte von Seegrasbeständen wirken sich allerdings nur regional und für die deutsche Klimabilanz moderat aus. Ein Hektar Wiese wird unter optimalen Bedingungen lediglich ein bis zwei Tonnen CO2-Äquivalente pro Jahr binden. Genauere Bilanzen versuchen wir im Rahmen des vom Bundesumweltministerium geförderten Forschungsprojekts ZOBLUC (Zostera marina als Blue-Carbon-Kohlenstoffspeicher in der Ostsee) anhand des in unseren Breiten heimischen Gewöhnlichen Seegrases (Zostera marina) zu erstellen. Eine Renaturierung erscheint jedoch schon aus Naturschutzgründen sinnvoll, denn Seegras ist zu weit mehr in der Lage, als nur Kohlenstoff im Meeresboden zu speichern.

Dem Hitzestress trotzen

Zurück zum Taucheinsatz vor Fehmarn. Die unscheinbar grauen, münzgroßen Temperaturlogger, die wir mit Zwei-Komponenten-Kleber an faustgroßen Steinen befestigt hatten, spürt unser Tauchteam schnell auf, indem es in konzentrischen Kreisen mit wachsendem Radius rings um das Grundgewicht der Markierungsboje schwimmt. Doktorandin Christina Bakowski liest die an Bord gebrachten Logger binnen Minuten per Smartphone aus und überreicht sie sofort wieder den Taucherinnen im Wasser, die sie erneut an Ort und Stelle versenken. Damit wollen wir möglichst engmaschig die natürliche Temperaturentwicklung von ausgewählten Wiesen entlang der schleswig-holsteinischen Küste charakterisieren, was mit Dauermessbojen weiter draußen nur sehr unvollkommen möglich wäre.

Erfolgsaussicht | Die Drohnenaufnahme zeigt einen Taucheinsatz des GEOMAR-Seegrasteams in der Kieler Förde. Die dunklen Flecken sind die Seegraswiesen.

Temperatur ist ein entscheidender Umweltfaktor im Meer, denn viele Organismen tolerieren hier nur enge Grenzen. Das Gewöhnliche Seegras beispielsweise erweist sich deshalb als akut bedroht: Steigen die Wassertemperaturen auf 25 Grad Celsius, stellt es Fotosynthese und Wachstum weitgehend ein. An unseren Benthokosmen genannten Experimentieranlagen führten wir Messreihen durch und entdeckten so einen Kipppunkt von drei Grad über den gegenwärtigen Sommertemperaturen. Demnach stirbt Zostera marina bei Temperaturen über 27 Grad ab. Aufgrund des Klimawandels erwärmen sich derzeit weltweit die Meere, wobei die Ostsee maßgeblich betroffen ist. In dem Binnenmeer wirken sich Umweltbelastungen besonders stark aus – die Ostsee verrät uns somit, was anderen Meeren noch bevorsteht. Das Pariser Klimaziel, den Temperaturanstieg auf 1,5 Grad zu begrenzen, hat sie längst gerissen.

Zostera marina stirbt bei Temperaturen über 27 Grad ab

Damit stellt sich die Frage, ob die mühsam wiederangesiedelten Bestände auch in 50 Jahren noch überleben werden. Hierbei könnte der Werkzeugkasten der »assisted evolution« weiterhelfen. Dieses Konzept zielt darauf ab, die evolutionären Anpassungsprozesse von Organismen zu beschleunigen, um sie widerstandsfähiger gegen Umweltveränderungen zu machen. Der Begriff stammt ursprünglich aus der Korallenökologie, wo immer häufigere Hitzewellen im tropischen Ozean schon zu weitreichender Korallenbleiche und Riffsterben geführt haben. Dementsprechend begannen Forscherinnen und Forscher, bei Renaturierungsprojekten in diesen wichtigen Lebensräumen auch die Widerstandfähigkeit der wiederhergestellten Riffe zu berücksichtigen (siehe »Hilfe für Korallenriffe«, »Spektrum« September 2021, S. 34).

Bereits heute züchten Meeresforscher daher temperaturtolerante Korallen. Das könnte für Seegras ebenfalls eine Option sein. Dabei möchten wir auch die mögliche genetische Basis einer solchen erhöhten Toleranz aufklären. In den letzten Jahren hat sich das Gewöhnliche Seegras der Ostsee mehr und mehr zu einer Modellart in ökologischer und genetischer Hinsicht entwickelt. Ihr komplettes Erbgut konnten wir schon 2016 entziffern.

Wandelbare Klone

Seegräser vermehren sich vorrangig über vegetative Ausläufer (siehe »Ökologie und Evolution der Seegräser«). Diese Klone sollten eigentlich genetisch identisch sein, doch wie wir 2020 herausfanden, ist das beim Gewöhnlichen Seegras keineswegs der Fall. Offensichtlich können sich die Ableger weiter evolutiv verändern, indem sie somatische Mutationen in unterschiedlichem Maß anreichern. Das könnte erklären, warum scheinbar unveränderliche Klone dennoch in sich rapide wandelnden Umwelten überleben: Sie passen sich über die Jahre durch den Prozess der klonalen Evolution an.

Natürliche Barriere | Indem Seegräser mit ihren Wurzeln den Sand festhalten, schützen sie die Küsten vor starken Wellen und Sturmfluten.

Die somatischen genetischen Veränderungen häufen sich mit einer vorhersagbaren Rate an. Das lässt sich nutzen, um das Alter von Klonen mit einer eigens entwickelten »somatischen genetischen Uhr« zu bestimmen. Damit konnten wir 2024 im finnischen Archipel der nördlichen Ostsee einen 1400 Jahre alten Klon nachweisen. Bei anderen Seegrasarten wie dem australischen Neptungras (Posidonia australis) gibt es vermutlich noch weit ältere Klone. So erstreckt sich vor der Westküste Australiens ein Seegrasteppich über eine Länge von 180 Kilometern, der schätzungsweise 4500 Jahre alt ist, wie eine australische Arbeitsgruppe 2022 berichtete.

Wege zu mehr Hitzetoleranz

Etliche wichtige Zusammenhänge in der Ökologie von Seegräsern verstehen wir allerdings noch nicht. Zum einen ist das Wasser in der Kieler Bucht keinesfalls homogen durchmischt, sondern wir können im Flachwasserbereich bis fünf Meter – wo das Seegras gedeiht – Unterschiede in der Wassertemperatur von bis zu zwei Grad Celsius finden. Leben hier bereits an den Klimawandel angepasste Bestände, die sich als besonders widerstandsfähige Spenderwiesen oder als Quelle für natürliches Saatgut eignen? Das möchte unsere Doktorandin Jana Silva Willim in einem von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt geförderten Projekt erforschen.

Im finnischen Archipel der nördlichen Ostsee konnten wir einen 1400 Jahre alten Klon nachweisen

Doch worin läge die genetische Basis für diese erhöhte Temperaturtoleranz? Um das herauszufinden, graben die Taucherinnen am Ende ihres Einsatzes vorsichtig ein paar lebende Pflanzen aus und bringen sie mit an Bord, damit wir später im Labor das individuelle Erbgut analysieren können. Einige andere Ableger werden wir in den Wellentanks des GEOMAR weiter kultivieren, um zu messen, wie widerstandsfähig diese gegenüber marinen Hitzewellen sind. Dabei erforschen wir nicht nur, welche lokalen Bestände eventuell bereits hitzetolerant sind, sondern wir möchten mit einem breiten Spektrum an Methoden, von Stoffwechselmessungen über Genanalysen bis hin zu mikrobiellen Tests, auch herausfinden, wie die Pflanze das bewerkstelligt. Ausgesprochen spannend wird eine genomweite Assoziationsstudie sein, mit der wir jene Genvarianten identifizieren können, die im zukünftigen Ozean die besten Überlebenschancen haben.

Erst seit Kurzem wissen wir, dass Seegras verschiedene Symbiosen mit Mikroben eingeht, die im Meeresboden beziehungsweise auf oder in der Seegraspflanze leben. Unter welchen Bedingungen könnten diese Symbionten die Stresstoleranz des Seegrases erhöhen? Oder lösen sie vielleicht sogar zusätzlichen biologischen Stress aus?

Solche Fragen möchte Christina Bakowski im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts PlantsCoChallenge mithilfe von Experimenten in Klimakammern klären. Eine weitere Möglichkeit, um die Widerstandsfähigkeit von Seegras zu steigern, liegt im »Priming«. Bei dieser aus der landwirtschaftlichen Züchtungsforschung abgeleiteten Methode werden Samen harschen Bedingungen ausgesetzt, was die daraus entstehenden Keimlinge widerstandsfähiger machen kann.

Weblink

Seegras-Kartierung und Monitoring in der westlichen Ostsee

Einblicke in die Seegras-Forschung des Kieler GEOMAR

Wie geht es mit den weltweiten Beständen von Seegraswiesen weiter? Die gute Nachricht lautet: Überall dort, wo sich durch energische Maßnahmen die Umweltbedingungen verbessert haben, wie in der Chesapeake Bay in den USA oder bei uns in der Kieler Förde, kehrten die Seegraswiesen zurück und dehnten sich langsam wieder aus. Offen bleibt, wie schnell sich die lokalen Arten und Bestände an die sich rapide ändernden Bedingungen eines wärmeren, sauerstoffärmeren und saureren Ozeans anpassen können. Doch es besteht vorsichtiger Anlass zu Optimismus, dass viele Seegrasspezies durch ihre einzigartige Kombination von geschlechtlicher Fortpflanzung über Samen und der klonalen Ausbreitung über Ableger den sich ändernden Umweltbedingungen trotzen können, sich also selbst genetisch »retten«. Inwieweit der Mensch das durch wissenschaftliche Ansätze unterstützen kann, ist eine spannende Frage, die einmal mehr zeigt, wie eng Grundlagenforschung und angewandter Naturschutz miteinander zusammenhängen.

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